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Normale Version: Die Brücke
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„Es ist schon immer so gewesen, dass die Liebe ihre eigene Tiefe erst in der Stunde der Trennung erkennt.“ Kahlil Gibran 

Inmitten der wilden Landschaft aus Ebenen und Wäldern liegt eine kleine, ländliche Stadt inmitten sanfter Hügel. Einst ein blühender Stützpunkt für Glücksritter, die den schnell fließenden Fluss auf der Suche nach einem trügerischen Vermögen absuchten. In dem verschlafenen Ort, der mehrere kleine Bauernhöfe und ein Holzunternehmen beherbergte, hatte sich ein ruhiges, sesshaftes Leben entwickelt. Jeder kannte jeden, und es gab keine Geheimnisse, zumindest schien es zumindest oberflächlich betrachtet.
Die beiden Teenager Ethan und Jake waren Nachbarn, ihre Familien lebten Seite an Seite. Sie hatten eine enge, unzerbrechliche Bindung geknüpft. Ihre Freundschaft erblühte beim gemeinsamen Lachen und beim Flüstern von Geheimnissen über Übernachtungen und Nächte unter freiem Himmel in einem alten Zelt, das sie auf dem Feld neben Ethans Garten aufgeschlagen hatten. Sie hatten ein tiefes Verständnis, das über die Grenzen herkömmlicher Freundschaft hinausging: Jake kannte Ethan und Ethan kannte Jake.
Mit seinem widerspenstigen dunklen Haarschopf und dem verschmitzten Funkeln in den Augen war Ethan der Mittelpunkt jeder Gesellschaft. Sein ansteckendes Lachen und sein schlagfertiger Verstand erheiterten selbst den trübsten Tag. Jake hingegen war ruhiger, seine Gedanken verloren sich oft in einer Welt aus Büchern und fantastischen Geschichten. Doch unter seiner zurückhaltenden Fassade sehnte sich eine sanfte Seele nach Verbundenheit, eine Sehnsucht, die in Ethans unerschütterlicher Präsenz Trost fand.
Ihre Freundschaft wurde in der Grundschule der Stadt weiter gefestigt, wo sie als Partner für ein naturwissenschaftliches Projekt zusammenarbeiteten. Jake liebte es, in klaren Nächten die funkelnden Sterne zu betrachten und seinen besten Freund auszufragen, um die Geheimnisse des Universums zu entschlüsseln. Ethan kam dem anderen Jungen gerne entgegen und diskutierte mit ihm über die Existenz außerirdischen Lebens, doch seine praktische Seite brachte sie immer wieder auf den Boden der Tatsachen zurück und zu den Schulaufgaben, die sie gerade beschäftigten.
Während sie die Herausforderungen der Pubertät meisterten, vertiefte sich ihre Freundschaft. Sie waren einander Vertraute und teilten Träume, Ängste und die Unbeholfenheit der ersten Schwärmerei. In Ethans ansteckendem Lachen fand Jake ein Gefühl der Zugehörigkeit, während Ethan Trost in Jakes stiller Stärke und unerschütterlicher Loyalität fand. Sie teilten alles: ihre Gedanken und Wünsche, ihre Ängste und ihre intimsten Geheimnisse.
An einem frischen Herbstnachmittag folgten sie den Bahngleisen, bis sie die Brücke erreichten, die über eine tiefe Schlucht führte. Die Brücke aus verwittertem Holz und Stahl mit den Gleisen, die über die Schlucht und weiter durch die Stadt führten, symbolisierte in gewisser Weise, wo sie sich befanden.
Sie blieben am Rand der Brücke stehen und blickten auf die weite Wildnis unter ihnen. Die Sonne ging unter und warf lange Schatten über die Landschaft.
Ethan wandte sich an Jake. Seine Augen funkelten vor Aufregung. „Lass uns rübergehen“, sagte er.
Jake zögerte, doch er konnte dem Reiz des Abenteuers nicht widerstehen. Er nickte, und sie betraten die Brücke.
Der Ort war völlig verlassen, die einzigen Geräusche waren die der Natur, die sie umgab, das Kreischen eines Vogels, der im warmen Luftzug kreiste. Sie hielten sich fest an den Händen, ihre Herzen hämmerten in ihren Brustkörben. Es war gefährlich, es gab kein Geländer, und der Abstieg war weit; niemand würde einen Sturz überleben.
Auf halbem Weg hörten sie in der Ferne ein lautes Pfeifen. Ein Zug kam!
Sie drehten sich einander zu und rannten in stillem Einverständnis los. Das Rumpeln des Zuges in der Ferne wurde immer lauter und kam auf sie zu – es war ein Wettrennen.
Sie haben es gerade noch geschafft!
Das gewaltige Stahlmonster donnerte vorbei, sein kraftvoller Motor erschütterte die Brücke, als sie von den Gleisen sprangen. Die Pfeife warnte mit ohrenbetäubendem Schrillen. Sie erstarrten und umarmten sich fest, ihre Körper vor Angst gelähmt, ihre Beine zitterten. Sie waren dem Tod um Haaresbreite entkommen.
Sie sahen sich an, die Gesichter waren blass und eingefallen. Noch nie in ihrem Leben hatten sie solche Angst gehabt.
Doch als sie dort standen und nach Luft schnappten, wurde ihnen etwas klar: Sie hatten gemeinsam dem Tod ins Auge geblickt und überlebt.
Ihre Freundschaft war in diesem Moment des gemeinsamen Schreckens tiefer geworden. Sie wussten damals, dass sie immer füreinander da sein würden, egal was passierte.
Als sie Hand in Hand in die Stadt zurückgingen, erfüllten sich ihre Herzen mit einer neuen Wertschätzung für das Leben und die Freundschaft. Ihnen wurde klar: Ihre Gefühle füreinander waren mehr als nur Freundschaft; sie waren durch eine Liebe verbunden, die keiner der beiden Jungen beschreiben konnte.
Die Offenbarung war berauschend und erschreckend zugleich. Weder Jake noch Ethan sprachen. Insgeheim wussten sie, dass diese Liebe auf Widerstand stoßen würde, sowohl bei ihren Familien als auch in der eng verbundenen Gemeinschaft. Doch ihre Liebe war zu stark, um sie zu leugnen, ein Band, geschmiedet durch gemeinsame Träume, Lachen und unerschütterliche Unterstützung.
Jake wusste, dass sie einen Weg finden mussten, die Kluft zwischen ihrer Liebe und den Erwartungen der Welt um sie herum zu überbrücken, aber er sagte nichts, ihm fehlten die Worte.
Die Entdeckung ihrer Liebe war für beide Jungen ein bittersüßer Moment, doch ihre Verbundenheit war so stark, dass sie schließlich das Schweigen brachen. Ihre Herzen sprachen, als die Worte gleichzeitig hervorsprudelten. Sie schwebten über der Erkenntnis ihrer gemeinsamen Gefühle, lachten, drehten sich einander zu, umarmten sich – und dann dieser Kuss! Ein Kuss, der alles sagte, mehr als alle Worte. Ihre Lippen berührten sanft ihre von Emotionen überwältigten Seelen. Eine winzige Träne kullerte aus Jakes Augenwinkel, und Ethan wischte sie sanft weg.
Was sie in diesem Moment nicht sahen, war, wo sie sich befanden: auf der Straße, die der Eisenbahnlinie in die Stadt folgte. Und obwohl der Ort fast menschenleer war, hatte sie doch jemand gesehen.
Jakes Großvater, ein strenger, altmodischer Mann, begegnete ihnen zufällig, als er gerade den Wald verlassen wollte. Mit dem Jagdgewehr über der Schulter machte er sich auf den Heimweg, als es dunkel wurde. Der Anblick der beiden Jungen, die sich küssten, war ein Schock für ihn, den er nicht begreifen konnte. Sein Gesicht war von einer Mischung aus Ekel und Unglauben verzerrt.
Er konnte es nicht für sich behalten, und obwohl er mit dem Gesehenen haderte, war er sich sicher, es seinem Sohn erzählen zu müssen. Jakes Eltern erfuhren von dem Vorfall und reagierten mit einer Mischung aus Wut, Enttäuschung und Angst. Jakes Vater, ein Mann mit starken Überzeugungen wie sein eigener Vater, hatte Mühe, seine Liebe zu seinem Sohn mit der Offenbarung des Gesehenen in Einklang zu bringen. Er musste handeln, nahm Jake beiseite und hielt ihm eine strenge Standpauke. Seine Stimme klang missbilligend, was Jake ein Gefühl der Isolation und Beschämung hinterließ. Er sagte ihm, er könne Ethan nicht mehr sehen, in seinen Augen sei der andere Junge schuld.
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