07-21-2025, 07:04 PM
(Kapitel 01-02)
1.
Akten sind langweilig. Unendlich langweilig sogar. Alte Papierstapel, staubige Seiten, Zahlenwüsten. Nicht mehr und nicht weniger.
Dieses Wissen beherrschte Leas Gedanken seit mehreren Wochen. Wochen, die sich mittlerweile anfühlten wie Monate, die einfach nicht enden wollten. Und da sie dem Glauben schenkte, was die Anwälte ihres Arbeitgebers prognostizierten, würden aus den Wochen tatsächlich Monate werden.
Lea stöhnte, während sie einen kiloschweren Aktenordner aus einem Umzugskarton hob. Dabei fiel ihr Blick auf unzählige weitere Kartons, die in dem großen Kellerraum ihrer Bankfiliale auf ihre Bearbeitung warteten. Schweren Schrittes schleppte sie die auf Papier gebannten und uralten Daten Aberhunderter Geldanleger zu einem breiten Arbeitstisch. An diesem saßen mehrere ihrer Kollegen und Kolleginnen und blätterten ihrerseits in muffig riechenden Ordnern.
Sie setzte sich. Staub wirbelte auf, als ihr Mitbringsel dumpf auf die Platte fiel. Ihre Kollegin rechts von ihr, mit aufgestütztem Kopf eingenickt, schreckte hoch und sah sie schlaftrunken an.
Lea schlug den Ordner auf und überflog das Inhaltsverzeichnis. Der alte Geruch von Papier drang in ihre Nase. Sie machte sich Notizen. Suchte nach bestimmten Namen oder Eintragungen, die ihre Vorgesetzten als Ziele ausgegeben hatten. Ihre Augen huschten von Zeile zu Zeile. Sie taten es beinahe automatisch, denn diese Bewegungen waren ihnen mittlerweile zur Gewohnheit geworden.
Lea Kempter, neununddreißig Jahre alt, war Angestellte bei einer Bank. Kümmerte sich um Kunden und beriet diese in Sachen Geldanlage und Wertpapierhandel. So war es zumindest normalerweise und während ihrer eigentlichen Arbeitszeit. Wenn diese jedoch endete, begannen die halbfreiwilligen Überstunden. Und damit das Aktengefummel. Denn dieses war notwendig, um die Bank gegen eine Sammelklage zu verteidigen, die vor geraumer Zeit ins Haus geflattert war und die angestellten Anwälte an ihre Grenzen brachten.
Jeder musste helfen. Egal ob Finanzberater, Kundenbetreuer, Abteilungsleiter oder Anwalt. Alle schufteten dafür, die angeschlagene Bank, Zahler ihrer Gehaltschecks, vor den Vorwürfen der Kapitalveruntreuung und fehlerhafter Risikoanalyse zu schützen. Und das bedeutete oft Arbeit bis spät in die Nacht hinein, für die es zwar eine halbwegs akzeptable Überstundenvergütung gab, aber dennoch sämtliches Privatleben ausschaltete.
Lea seufzte und massierte sich die Schläfen. Sie vermisste die Zeit, als Feierabend noch Feierabend bedeutete. Hinter ihrer Stirn pochte es stechend. Kopfschmerzen waren in den letzten Tagen ihr ständiger Begleiter gewesen. Kein Wunder bei Arbeitszeiten deutlich über zwölf Stunden hinaus.
Sie sah auf ihre Uhr. 20:55. Noch hundertzwanzig Minuten. Mindestens. Vorher würde sie sich nicht losreißen können.
»Du siehst scheiße aus«, kam es von ihrer Rechten. Lea wandte träge den Kopf und sah in das besorgte Gesicht ihrer Abteilungsleiterin, die müde wirkte, was ihren ungewohnt direkten Sprachgebrauch erklärte.
»Danke«, murmelte Lea und versuchte, sich wieder auf die Buchstaben und Zahlen auf den vergilbten Seiten vor ihr zu konzentrieren. Sie verfluchte innerlich die fehlende Digitalisierung alter Kundendaten, Vorgänge und Verträge, die die Arbeit deutlich leichter gestaltet hätten.
»Ich mein's ernst«, fügte die Leiterin hinzu und musterte sie besorgt. »Du bist total blass. Und deine Augenringe haben inzwischen eigene Augenringe.«
»Wundert dich das?«, seufzte Lea. »Diese Aufgabe frisst mich auf.«
Und nicht nur mich, dachte sie und warf einen Blick ans andere Ende des Raumes, wo sich die sieben Anwälte der Bank an zwei großen Tischen niedergelassen hatten. Auch sie wirkten abgeschlafft und bettreif, trugen zerknitterte, halb aufgeknöpfte Hemden mit losen Krawatten. Tranken einen Kaffee nach dem anderen. Gruben unermüdlich weiter, studierten Texte, markierten Passagen und wappneten sich für einen Prozess, dessen Ausgang ungewiss war.
»Nicht nur dich«, stöhnte Leas Abteilungsleiterin. »Aber ich glaube trotzdem, dass du heute am schlimmsten von uns allen aussiehst.«
»Ich sagte bereits danke.«
Zu ihren Kopfschmerzen gesellte sich wachsende Wut. Und diese fand den Weg in ihre Stimme. Das war auch ihrer Gesprächspartnerin nicht verborgen geblieben.
»Das meinte ich jetzt echt nicht böse«, versuchte sie, zu beschwichtigen. »Ganz im Gegenteil. Ich bin am überlegen, ob du ein paar zusätzliche freie Stunden gebrauchen könntest.«
Lea atmete tief ein und aus. Natürlich konnte sie diese gebrauchen. So wie alle anderen auch. Inklusive ihrer Abteilungsleiterin. »Es geht schon«, log sie schließlich. »Ich hole mir noch einen Kaffee, dann starte ich durch.«
Doch ihre Vorgesetzte schüttelte entschlossen den Kopf. »Nein. Das reicht für heute. Du machst Feierabend. Mach dir keine Sorgen ums Geld, ich schreibe dich bis 23 Uhr auf.«
»Das geht doch nicht«, wiegelte Lea pflichtbewusst ab, während der Schmerz in ihrem Kopf den Feierabend verlangte. »Das wäre den anderen gegenüber unfair.«
»Unfair hin oder her. Ich bin deine Chefin. Nun hopp, ab nach Hause.«
Sie sahen sich an, während es in ihrem Kopf schwankte, als befände sie sich auf einem Schiff, umgeben von aufgewühlter See. »Also?«
Lea stieß einen tiefen Seufzer aus. »Okay.«
Fünf Minuten später fiel die gepanzerte Mitarbeitertür scheppernd hinter Lea ins Schloss. Sofort umgab sie eine angenehm warme Luft, die nicht nur nach Sommer, sondern auch nach Freiheit roch. Sie lächelte matt, setzte sich in Bewegung und ging einen schmalen Seitenweg entlang, der sie zu einer mehrspurigen Straße führte. Der Lärm der vorbeifahrenden Autos hatte dabei eine eher beruhigende Wirkung auf sie. Hinter den Mehretagenwohnhäusern Hamburgs versank die Sonne allmählich und kündigte das Ende ihres Arbeitstages an.
Lea passierte Schaufenster, in deren Glasscheiben sich ihr Spiegelbild deutlich abzeichnete. Tatsächlich sah sie aus, wie durch den Wolf gedreht. Ihr dunkler Blazer hing auf halb acht. Ihre tiefbraunen Haare, am Morgen noch ordentlich gebürstet, wirkten wirr und ungepflegt, was sicherlich daran lag, dass sie mehrfach ihre Schläfen und Kopfhaut massiert hatte.
»Na gut, ich sehe wirklich scheiße aus«, flüsterte sie zu sich selbst. Sie blieb stehen. Trat dichter an das Schaufenster heran, hinter dem nur Dunkelheit lag. Zuppelte an ihren Haaren herum, um die verirrten Strähnen zumindest grob zu bändigen. Musterte die tiefen Augenringe, die ihre hellen, blauen Augen unterstrichen, richtete ihren Blazer, unter dem sich ein figurbetontes Top an ihren zierlichen Körper schmiegte. Dabei fiel ihr ein großer Kaffeefleck auf, der die rechte Seite ihrer Hose schmückte und sie konnte sich bei bestem Willen nicht daran erinnern, wie dieser dorthin gekommen war. Sie seufzte erneut und gab auf. Ihre Optik war nicht mehr zu retten. Nicht, ohne vorher eine lange, ausführliche und trotz der sommerlichen Temperaturen heiße Dusche genossen zu haben.
Sie musste nur zwei Blocks gehen, dann sah sie das Wohnhaus, in dessen oberster Etage ihr Zuhause auf sie wartete. Und ihr Verlobter Lars. Bei dem Gedanken an ihn wärmte sich ihr Herz. Er würde sich sicherlich freuen, sie zur Abwechslung mal etwas länger genießen zu dürfen, denn in letzter Zeit beschränkte sich ihr Kontakt auf das abendliche Zähneputzen und das gemeinsame Aufstehen am nächsten Morgen. Der Akten sei Dank. Und wer weiß, vielleicht war er dazu in der Lage, ihren verspannten Nacken mit seinen kräftigen Händen so weit durchzukneten, dass sie sich nicht mehr wie ein harter Baumstamm fühlte.
Lea betrachtete den Verlobungsring an ihrer rechten Hand, dessen kleiner Diamant in den letzten Sonnenstrahlen glitzerte. Zwei Jahre trug sie ihn nun schon am Finger. Zwei Jahre, in denen die anfängliche Hochzeitseuphorie allmählich der Tatsache wich, dass beide zu ausgelaugt waren, um dieses Event final zu planen und endlich ja zu sagen. Sie legte ihre Stirn in Falten. Dachte an Lars. An seine guten Seiten, aber auch an die schlechten. Daran, dass das, was sie in diesem Moment ebenso gut gebrauchen könnte, wie eine ausführliche Nackenmassage, ein immer schwierigeres Thema zwischen ihnen wurde: Sex.
Sie hatte das wachsende Gefühl, dass ihr Verlobter sich von Monat zu Monat mehr von ihr zurückzog, wenn es um körperliche Belange ging. Er war ein guter Partner, ja, immer an ihrer Seite, ob mit Wort oder Tat. Doch im Bett... Lea überlegte, wann sie das letzte Mal miteinander geschlafen hatten. Sie erinnerte sich vage an die letzte Nacht, in der sie es versucht hatte, aber Lars' Müdigkeit hatte ihr eigenes Verlangen erstickt. Waren es drei Monate gewesen? Vier? Sie wusste es nicht.
Sie vermisste den intimen Kontakt zu ihm. Doch jeder Versuch, anfängliches Kuscheln oder Flirten in ein Abenteuer aus Lust und Hingabe zu verwandeln, schlug fehl. Lars erklärte stets, dass sein Job ihn überforderte. Dass er es, aufgrund des Druckes, den er tagsüber ausgeliefert war, einfach nicht schaffte, sich auf Touren zu bringen. Eine Erklärung, die Lea zutiefst verunsicherte, da sie ihr nicht glauben konnte.
Es liegt an mir, dachte sie wie so oft in der letzten Zeit. Sein Job ist seit Jahren gleich. Und früher konnte er Sex und Arbeit immer miteinander vereinbaren. Also bleibt nur ein Schluss übrig: Etwas stimmt mit mir nicht. Habe ich mich so verändert?
Wieder blieb sie vor einer großen Scheibe stehen und betrachtete sich. Klar, auch sie war älter geworden. Sie und Lars hatten sich mit Ende zwanzig kennengelernt. Und doch, da war sie sich sicher, hatten die letzten zehn Jahre ihren Körper weitestgehend verschont. Sie war noch immer schlank. Nicht sportlich trainiert, aber äußerst feminin. Mit schmaler Taille und nur etwas breiterer Hüfte. Mit Brüsten, die zwar klein, dafür fest waren. So wie Lars es liebte. Und mit einem Po, der ihr absolutes Aushängeschild war. Wohlgeformt, weich, und unwiderstehlich sexy in jeder Hose dieses Planeten.
Nein, sie hatte sich nicht verändert. Nicht optisch zumindest. Und doch hatte er die Lust auf sie verloren...
Sie erreichte das Wohnhaus, in dessen Erdgeschoss ein italienisches Restaurant untergebracht war. Spontan kam ihr die Idee, sich und Lars eine Pizza zu bestellen. Gesagt, getan. Sie orderte seine Lieblingspizza. Eine, mit der Lea selbst nichts anfangen konnte: Hot-Dog-Style, mit Wurst, Remoulade und Röstzwiebeln. Sie hätte viel lieber eine mit Spargel und Beef gegessen, doch ihm zuliebe trat sie von ihren Gelüsten zurück. Und wer weiß, vielleicht konnte sie ihn mit dieser Geste bestechen und in eine derart gute Stimmung versetzen, dass ihre Flaute im Bett schon bald der Vergangenheit angehören würde.
Mit einem XL-Pizzakarton, den sie beidhändig trug, stieg sie die Treppen hoch. Erst jetzt, als sie den Duft des Essens bemerkte, spürte sie, dass sie zuletzt vormittags etwas gegessen hatte. Ihr Magen grummelte schlechtgelaunt. Oben angekommen öffnete sie die Wohnungstür und trat ein.
Ein blumiger Duft empfing sie, ausgehend von einem Spender neben dem Schlüsselboard. Sie legte den Karton ab und zog ihre Schuhe aus. Sofort fühlte sie sich um ein Vielfaches freier. Als sie den Blazer ablegte, verstärkte sich das Gefühl von Feierabend und Heimkehr. Sie atmete durch und hörte gedämpfte Stimmen. Leises Kichern. Die Nachbarn teilten offenbar ihre Stimmung.
Lea nahm die Pizza wieder auf und ging den Flur entlang. Unter ihren Füßen knarrten die Dielenbretter der Altbauwohnung. Neben einem Wandspiegel hing ein Porträt, das sie und Lars im Moment ihrer Verlobung zeigte. Ihn kniend, sie weinend. Vor dem Pariser Eiffelturm bei Nacht. Kitschig, aber unendlich schön. Fotografiert von ihrer künftigen Schwägerin.
Wieder hörte sie ein liebliches Kichern, das in ein sanftes Stöhnen überging. Etwas knarrte verdächtig im Takt von Stößen, die nur eines bedeuten konnten. Lea grinste. Den Nachbarn schien es sehr gut zu gehen.
Lars war nicht im Wohnzimmer. Ihre Euphorie wich Enttäuschung. Schläft er etwa schon? Habe ich ihn verpasst?
Sie betrachtete den großen Pizzakarton. Alleine würde sie dessen Inhalt nicht bezwingen können. Sie hoffte, dass er noch wach im Bett liegen und lesen würde, so wie er es des Öfteren tat. Mit neugefasstem Mut ging sie zum Schlafzimmer. Abrupt blieb sie stehen. Die Tür stand einen Spalt breit offen. Doch das war nicht das, was ihre Stirn in Falten legte. Es waren die Geräusche, die aus dem Zimmer kamen. Ein Kichern, ein Stöhnen. Das rhythmische Knarren eines Bettes. Ihr Herz machte einen schmerzhaften Satz, als sie verstand, dass es nicht ihre Nachbarn waren, denen es gut zu gehen schien.
Mit zitternden Schritten näherte sie sich der Tür. Hitze stieg in ihr Gesicht und sie fühlte sich auf einmal alarmiert, wie eine Gazelle, die die drohende Gefahr im Gebüsch wittert. Ihre Eingeweide zogen sich zusammen. Ihr wurde schlecht. Als sie endlich ins Schlafzimmer sehen konnte, stockte ihr der Atem.
Da war Lars. Nackt und verschwitzt. Ihr gemeinsames Bett. Kleidung auf dem Boden. Schwarze Boxershorts. Ein BH, rot und mit viel Spitze. Ein Tanga in derselben Farbe, dicht neben einer weißen Bluse, achtlos hingeworfen. Und eine Frau, die unter ihrem Verlobten lag. Mit blonden Haaren, weit gespreizten Beinen, Brüsten, groß und üppig, die vom Oberkörper ihres Zukünftigen zur Seite gedrückt wurden, während sein Becken Stoß um Stoß vollführte.
In ihrer Brust explodierte etwas. Schmerzhaft, heiß und erstickend. Wie konnte er ihr das antun? Wie konnte er ihr ausgerechnet im eigenen Bett das Messer in den Rücken rammen? Dieser Mistkerl!
Lea wollte schreien. Losstürmen. Ihre Verletzung, die Demütigung und ihre Wut in Schläge und Tritte ummünzen. Aber sie konnte es nicht. War wie versteinert. Schaute nur zu, wie er zustieß. Wie sich die Finger seiner Hure ins Laken krallten. Wie sie mit geschlossenen Augen den Kopf zurückwarf. Wie er an ihrem Hals saugte, als wäre er einer dieser Fische, die immer an den Wänden von Aquarien klebten.
Aber er gehört mir, schoss es durch ihren Kopf. Er hat... sich vor mir hingekniet. Um meine Hand gebeten...
All das schien plötzlich unendlich lange her zu sein. Wie um diese Erkenntnis zu untermauern, stützte sich Lars auf. Sah der Blondine geil in die Augen. Stieß heftiger zu, sodass Lea das Klatschen seiner Hoden an ihren Körper hören konnte.
Ein aggressives Ekelgefühl ließ ihren Mund wässrig werden. Als wäre das ihr Signal gewesen, ging sie auf einmal einen Schritt zurück. Wollte nicht konfrontieren, sondern flüchten. Entfernte sich weiter.
Der Türspalt wurde kleiner, das Geschehen dahinter verschwamm. Wie ferngesteuert blieb Lea stehen, drehte sich um und sah direkt auf das Verlobungsporträt, das sie und Lars in inniger Liebe zeigte. Das war zu viel. Heiße Wut explodierte in ihren Adern. Schoss in jede Zelle ihres Körpers. Ließ ihre Muskeln rebellieren.
Sie verstand schlagartig, warum er seit Monaten kein Interesse mehr an ihr hatte und sie nicht mehr begehrte: Er hatte sie ersetzt und lebte seine Triebe bei einer anderen Frau aus.
Plötzlich setzte etwas in ihr aus. Sie holte weit aus und schmetterte den Pizzakarton mit aller Kraft gegen das Lügenbild. Im Flug öffnete sich der Deckel, sodass die ach so heilige Hot-Dog-Pizza auf die Aufnahme prallte. Würstchen, Zwiebeln und Remoulade spritzten zu allen Seiten.
Lea stürmte zur Wohnungstür, während weit hinter ihr das wollüstige Stöhnen erstarb. Sie riss sie auf, rauschte hindurch und warf sie im Anschluss so fest ins Schloss, dass es im Wohnungsinneren so schepperte, als wäre das Schlüsselbord von der Wand gefallen. Ein gedämpfter, weiblicher Schreckensschrei erklang, der unter Leas schnellen und lauten Schritten auf den Stufen unterging.
Kaum hatte sie das Freie erreicht, zerrte sie sich den Ring vom Finger und feuerte ihn achtlos auf die Fahrbahn, wo der teure Diamant zwischen zwei Autos verschwand.
2.
Bässe wummerten. Licht tanzte und warf seinen rot-weißen Schein über feiernde Menschen, die im Klang der Musik die Nacht zum Tag machten. Lea tat es ihnen gleich und ließ ausgelassen ihre Hüften schwingen. Unter ihr klebte der Boden durch Unmengen verschütteten Alkohols und jenem Dreck, den man um drei Uhr morgens in einer Diskothek finden konnte. Es duftete nach Parfüm, Schweiß und Shisharauch.
In Leas Kopf herrschte ein angenehmer Schwank, hervorgerufen durch Vodka-Energy und unzähligen Tequila Shots. Zwei fleißige Helfer in einer Zeit voller Not und Elend.
Kräftige Hände legten sich um ihre Hüften. Sie gehörten einem besoffenen Mittdreißiger, der seit geraumer Zeit sein Becken an ihren Hintern presste und jeder ihrer Bewegungen folgte. Sie ließ es zu. Genoss es sogar. Und das, obwohl dieser Mann, der nach Rum und Döner stank, alles andere als ihr Typ war. Egal. Sie wollte Kerben sammeln. Kerben an ihrem Bettpfosten, die ihren verletzten Stolz kaschieren sollten. Doch nicht nur das. Die Diskothek, in der sie auf Beute lauerte, war der Lieblingsclub von ihrem Ex-Verlobten Lars.
Sie ließ ihren Blick durch die Menge gleiten. Suchte das vertraute Gesicht ihres ehemaligen Liebespartners in der Hoffnung, dass er eifersüchtig werden würde, wenn er sie mit einem anderen sah. Ihr Herz bebte vor Aufregung bei diesem Gedanken. Wie sehr sie sich wünschte, den Schmerz, den sie beim Anblick ihres Verlobten mit seiner Affäre empfand, auf ihn übertragen zu können. Aber sie konnte ihn nicht finden. Noch nicht einmal einen seiner vielen Kumpels, die genau so regelmäßig wie er in diesem Club verkehrten.
Die Hände des Mannes hinter ihr wanderten höher. Glitten frech und respektlos über ihren Bauch, nur von einem engen Tanzkleid verborgen, und fanden ihren Weg zum Ansatz ihrer Brüste. Ein kalter Schauer zuckte durch ihren Körper. Sie musste sich zwingen, den Berührungen des Mannes, dessen Namen sie trotz mehrfacher Wiederholungen bei der lauten Musik nicht verstanden hatte, nicht auszuweichen. Sich nicht wegzudrehen. Sie musste standhalten. Signalisieren, dass ihr die Trennung, die seit nun mehr als drei Wochen bestand, keine Macht über sie hatte. Jenes Auseinandergehen, das sie selbst zwar ausgerufen hatte, aber dennoch so sehr schmerzte, als würde ihr ein glühend heißer Speer durch den Körper fahren.
Der Dönermann legte eine seiner klobigen Hände auf ihre rechte Brust. Griff zu. Nicht doll, aber bestimmt. Und obwohl sie einen großzügig gepolsterten BH trug, der aus ihrem kleinen Busen einen etwas weniger kleinen machte, fand er ihren Nippel auf Anhieb. Was zum Teufel macht er da?!, schoss es durch ihren Kopf, als er begann, ihren Nippel mit Zeigefinger und Daumen zu bearbeiten, als versuchte er, einer vertrockneten Rosine Leben einzuhauchen. In ihr sträubte sich alles.
Sie sah sich verstohlen um. Musterte die Typen in ihrem Umkreis. Suchte abermals nach dem gleichzeitig vertrauten und verhassten Gesicht von Lars. Hielt den Berührungen ihres Tanzpartners nur stand, weil sie im richtigen Moment von ihrem Ex dabei beobachtet werden wollte.
»Wollen wir...«, rief der Mann dicht an ihrem Ohr, sodass selbst die Musik keine Chance hatte, seine Stimme zu übertönen. In ihr lag eine animalische Gier, gepaart mit dem Lallen eines Betrunkenen. »Ähm, irgendwohin gehen?«
Er verstärkte den Druck auf ihren Nippel, während seine andere Hand den Weg zu ihrem Po fand. Sie quiekte, als er eine der Backen mit Kraft packte, als wäre er ein Löwe, der seine Krallen in die Beute schlug.
»Wohin denn?«, rief Lea als Antwort, ein leises Zittern lag in ihrer Stimme. Sie wusste, was der Mann irgendwo mit ihr vorhatte. Und sie wusste, dass sie genau aus diesem Grund hierher gekommen war. Ganz ohne Freundin als Begleitung. Allein. Ohne Flügelfrau, ohne Schutz. Nur sie und ihre Sehnsucht nach Nähe, Vergeltung und dem Gewinnen ihrer Trennung. Also nickte sie. Ließ sich vom Dönerboy von der Tanzfläche ziehen.
Sie passierten eine Bar und näherten sich einer Treppe, die in den Keller des Clubs führte. Leas Herz hämmerte schneller. Sie war zwiegespalten. Wollte einerseits fliehen, andererseits die Mission abschließen. Endlich wieder Sex haben, auch wenn sie diesen unter angenehmeren Rahmenbedingungen bevorzugt hätte. Wäre er doch nur mein Typ, grummelte sie im Stillen. Er riecht so eklig nach Knoblauch...
Sie gingen die Stufen herunter. Mit jedem Schritt wurde die Musik dumpfer. Einige junge Frauen und Männer kamen an ihnen vorbei, lachten, redeten, schwankten. Der Geruch nach Reinigungsmitteln stieg in ihre Nase und wurde stärker. Dann stand das seltsam ungleiche Paar vor dem Eingang zur Männertoilette. Ihr Partner-in-Crime sah sich um, und als die Luft rein war, zog er Lea hinter sich her, hinein ins Männergebiet, durch einen schmuddeligen Waschraum bis hin in einen noch versiffteren... Pissraum.
Dort gab es neben Dutzenden Pissoirs nur zwei Kabinen, von denen eine geschlossen war. Er zog sie in die Offene. Die Tür fiel knallend zu. Er verriegelte sie mit ungeschickten, alkoholgeschwächten Fingern. Dann, während ihr ein fragwürdiger Duft in die Nase stieg, drehte er sich zu ihr um. Sah ihr in die Augen. Musterte seine Beute.
Er hatte verschwitzte Haut. Braune Augen, ein paar Sommersprossen. Eine etwas zu große Nase, aber sein Mund war unerwartet schön, hatte wohlgeformte Lippen, hinter denen sich weiße Zähne andeuteten. Hätte der Alkohol ihn nicht entzaubert, so dachte Lea, wäre er womöglich ein guter Fang gewesen. In diesem Moment jedoch...
Er kam ihr näher. Sie wich ein paar Zentimeter zurück und stieß gegen die kalte Kabinenwand. Er spitze die Lippen. Wollte sie küssen. Sie versuchte, sich darauf einzulassen, doch im letzten Moment, kurz bevor sie sich berührten, drehte sie ihren Kopf zur Seite, sodass er sich mit ihrem Hals begnügen musste. Sie atmete durch, nicht aus Lust, sondern vor Erleichterung, sich zumindest für einen Moment der Knoblauchfahne verwehrt zu haben. Dem Mann schien dies nicht zu stören. Er hatte gefallen an ihrem Hals gefunden, küsste ihre Haut und saugte sich an dieser fest. Schmerzlich erinnerte sich Lea an den Moment, als sie Lars beim Fremdgehen erwischt hatte. Auch er hatte sich an dem Hals seiner Hure festgesaugt. Wieder kam ihr der Vergleich zu Aquariumsfischen in den Sinn und ihre Lust, die ohnehin beinahe auf dem Nulllevel war, schwand weiter.
Sie spürte, wie Dönerboy den Saum ihres oberschenkellangen Kleides packte und anhob. Ihr Magen zog sich zusammen. Warum ist Rache so schwierig? Sie hätte gedacht, dass ein One-Night-Stand einfacher durchzuziehen war. Dass anonymer Sex kein Problem für sie darstellen würde. Doch jede Sekunde in dieser Toilette überzeugte sie vom Gegenteil. Sie atmete tief durch und zwang sich dazu, locker zu lassen.
Der Mann hob ihr Kleid höher, und als ihre Unterwäsche sichtbar wurde, stieß er ein animalisches Grunzen aus, das unangenehm von der Kabinenwand widerhallte. Und bevor sie sich versah, schob sich eine Hand über ihren Tanga und seine Finger legten sich auf ihre Schamlippen.
Er fummelte los. Nicht koordiniert, sondern abstrakt. Wild und tölpelhaft. Übte mal zu viel, mal zu wenig Druck aus. Fand keine ihrer erogenen Zonen. Presste sich zwischen ihre Lippen, ohne jedoch die Spur eines Funken auszulösen.
Lea biss sich auf die Unterlippe und schloss die Augen. Versuchte, sich auf die Finger zu konzentrieren. Lust zuzulassen. Dem Mann eine Chance zu geben. Sie zwang sich zu einem Stöhnen, in der Hoffnung, dass dieses ihren Motor starten würde. Vergebens. Er jedoch schien ihre Geräusche als Bestätigung für seine Taten zu verstehen. Mit dem Selbstbewusstsein eines Betrunkenen zog er ihren Tanga herunter. Er blieb auf Kniehöhe hängen. Wieder griff der Mann zu. Schob einen Finger zwischen ihre trockenen Lippen. Suchte einen Weg hinein, was ihm aufgrund der ausbleibenden Nässe schwerfiel. Merkt er denn nicht, dass meine Maschine schläft?, grübelte sie mit verschlossenen Augen. Ist er so stumpf?
»Du bist so geil«, hauchte er in ihr Ohr. Sie wünschte sich, das gleiche über ihn sagen zu können. Sein Knoblauchatem verschlug ihr die Sprache. War so aufdringlich, dass ihr Fluchtgedanke wuchs und regelrecht zu einem Drang wurde. Ihre potentielle Kerbe drohte ihr zu entgleiten. Ihr Herz krampfte traurig. Sie musste standhalten. Sich behaupten. Die Sache durchziehen. Ihren Stolz ausklammern. Und Lars somit zeigen, dass auch sie ihn verletzen konnte.
Um sich vor seinem Geruch zu retten, drehte Lea den Spieß um. Trat selbst in Aktion. Packte den Mann an der Taille und drückte ihn auf die andere Seite der Kabine. Es polterte hölzern, als er auf die Wand traf. Er sah sie zunächst fragend an, doch als sie sich im Anschluss auf die Knie sinken ließ, veränderte sich sein Blick und wich einem stumpfen Triumph.
Sie fummelte an seinem Gürtel herum und schaffte es schnell, diesen zu öffnen. Dem Gürtel folgten die Knöpfe seiner Jeans. Mit einem entschlossenen Ruck zog sie diese bis auf seine Schuhe hinunter. Seine Boxershorts spannten sich dort, wo sein Penis ruhte und auf seinen Einsatz wartete. Der Funke des Mannes war definitiv da.
Lea atmete durch und nahm all ihren Mut zusammen. Zog auch die Unterwäsche in die Tiefe. Dönerboys Gurke peitschte hervor. Gierig und geil, zu allem bereit. Sie griff zu, schloss entschlossen eine Hand um den zuckenden Schaft. Rieb dieses langsam. Er stöhnte und schloss die Augen. Lea wichste schneller, bis sie spürte, dass sich eine Hand an ihren Hinterkopf legte. Sie schluckte nervös. Sie wusste, was sie tun musste. Vom Wichsen allein würde ihr niemand eine Kerbe am Bettpfosten zugestehen. Sie hatte keine Wahl. Für den Gewinn der Trennung.
Sie näherte sich der Eichel. Öffnete den Mund. Spürte die warme Vorhaut an ihren Lippen. In ihr zog sich alles zusammen. Ihr Verstand mahnte, nein, schrie zur Flucht. Dann, völlig unerwartet, packte der namenlose Mann ihren Kopf mit beiden Händen, nahm ihr jede Wahl und stieß brutal zu. Ganz ohne Romantik, ganz ohne den Drang, es ihr angenehm zu gestalten. In ihm wohnte eine egoistische, alkoholgeschwängerte Gier, die sich in dem Ding in ihrem Mund manifestierte.
Der Penis von Dönerboy war groß, nicht übermäßig, aber so, dass er damit angeben konnte. Und diese Größe in Verbindung mit seiner wuchtigen Wollust war es, die Lea würgen ließ. Er stieß zu, zog zurück, und wiederholte es. Immer und immer wieder. Sie schmatzte, während sie darum kämpfte, die Kontrolle zurückzuerlangen. Schmeckte Salz und Haut. Der winzige Funke in ihr erlosch vollständig. Sie war so trocken wie eine Wüste. Alles in ihr sträubte sich. So war das nicht geplant!, schrie es in ihr. Mit voller Wucht entflammte ein Gedanke, der sich wie eine bittere Erkenntnis durch ihre Seele fraß: In keinem Szenario dieser Welt wollte und durfte sie so mit ihrer Trennung umgehen. Ein tiefes Gefühl der Trauer überkam sie. Vermischte sich mit schmerzlicher Demütigung. Verletzung. Zurückweisung. Scham. Ließ ihre Augen heiß brennen, während der Mann sie rammelte, ohne zu spüren, dass sie sein Spiel nicht im Ansatz erwiderte.
Sie hatte versagt. Ihr gerissener Plan, durch Sex ihren Ex bestrafen zu können, war gescheitert. Auf der Suche nach Rache und der Auferstehung ihres Sexlebens hatte sie sich auf einen Pfad begeben, den sie nicht folgen durfte, nicht folgen wollte. Sex musste sinnlich sein, heiß und leidenschaftlich. Nichts, was man in einer nach Pisse stinkenden Klokabine mit einem besoffenen Egoisten finden konnte.
Sie stieß sich entschlossen zurück. Der Schwanz glitt aus ihrem Mund. Sie sprang auf und wandte sich zur Tür.
»Hey!«, plärrte der Mann und packte sie am Arm, aber sie entwandt sich seinem Griff. Als sie es endlich geschafft hatte, die Tür zu öffnen, stürmte sie heraus und stolperte über ihren Tanga, der von ihren Knien bis zu den Knöcheln herabgerutscht war. Sie schaffte es gerade noch, sich an einem anderen Mann festzuhalten.
»Was ist nun mit uns?!«, brüllte Dönerboy ihr hinterher, der wankend aus der Kabine gestolpert kam.
»Verpiss dich!«, fauchte Lea, der es nur mit Mühe gelang, ihre Unterwäsche wieder in Position zu bringen. Als sie es endlich geschafft hatte, stürmte sie los, stieß ein paar Betrunkene zur Seite und erreichte die Treppe. Heiße Tränen brannten in ihren Augen und verschleierten ihre Sicht, während sie hinausraste, sich blind einen Weg durch die verschwitzten Leiber der Tanzenden bahnte und nach Luft schnappend dem rettenden Ausgang entgegen taumelte. Sollte Lars oder einer seiner verdammten Freunde sie jetzt, gebrochen und verheult, erblicken, wäre ihre Rache nicht nur misslungen -- sie hätte endgültig bewiesen, dass sie es war, die die Trennung verloren hatte. Und das würde sie zerstören.
Ich bin eine Versagerin!, hämmerte es schmerzhaft in ihrem Schädel. Und eine Frau, die eigentlich nur geliebt und geliebt werden wollte.
1.
Akten sind langweilig. Unendlich langweilig sogar. Alte Papierstapel, staubige Seiten, Zahlenwüsten. Nicht mehr und nicht weniger.
Dieses Wissen beherrschte Leas Gedanken seit mehreren Wochen. Wochen, die sich mittlerweile anfühlten wie Monate, die einfach nicht enden wollten. Und da sie dem Glauben schenkte, was die Anwälte ihres Arbeitgebers prognostizierten, würden aus den Wochen tatsächlich Monate werden.
Lea stöhnte, während sie einen kiloschweren Aktenordner aus einem Umzugskarton hob. Dabei fiel ihr Blick auf unzählige weitere Kartons, die in dem großen Kellerraum ihrer Bankfiliale auf ihre Bearbeitung warteten. Schweren Schrittes schleppte sie die auf Papier gebannten und uralten Daten Aberhunderter Geldanleger zu einem breiten Arbeitstisch. An diesem saßen mehrere ihrer Kollegen und Kolleginnen und blätterten ihrerseits in muffig riechenden Ordnern.
Sie setzte sich. Staub wirbelte auf, als ihr Mitbringsel dumpf auf die Platte fiel. Ihre Kollegin rechts von ihr, mit aufgestütztem Kopf eingenickt, schreckte hoch und sah sie schlaftrunken an.
Lea schlug den Ordner auf und überflog das Inhaltsverzeichnis. Der alte Geruch von Papier drang in ihre Nase. Sie machte sich Notizen. Suchte nach bestimmten Namen oder Eintragungen, die ihre Vorgesetzten als Ziele ausgegeben hatten. Ihre Augen huschten von Zeile zu Zeile. Sie taten es beinahe automatisch, denn diese Bewegungen waren ihnen mittlerweile zur Gewohnheit geworden.
Lea Kempter, neununddreißig Jahre alt, war Angestellte bei einer Bank. Kümmerte sich um Kunden und beriet diese in Sachen Geldanlage und Wertpapierhandel. So war es zumindest normalerweise und während ihrer eigentlichen Arbeitszeit. Wenn diese jedoch endete, begannen die halbfreiwilligen Überstunden. Und damit das Aktengefummel. Denn dieses war notwendig, um die Bank gegen eine Sammelklage zu verteidigen, die vor geraumer Zeit ins Haus geflattert war und die angestellten Anwälte an ihre Grenzen brachten.
Jeder musste helfen. Egal ob Finanzberater, Kundenbetreuer, Abteilungsleiter oder Anwalt. Alle schufteten dafür, die angeschlagene Bank, Zahler ihrer Gehaltschecks, vor den Vorwürfen der Kapitalveruntreuung und fehlerhafter Risikoanalyse zu schützen. Und das bedeutete oft Arbeit bis spät in die Nacht hinein, für die es zwar eine halbwegs akzeptable Überstundenvergütung gab, aber dennoch sämtliches Privatleben ausschaltete.
Lea seufzte und massierte sich die Schläfen. Sie vermisste die Zeit, als Feierabend noch Feierabend bedeutete. Hinter ihrer Stirn pochte es stechend. Kopfschmerzen waren in den letzten Tagen ihr ständiger Begleiter gewesen. Kein Wunder bei Arbeitszeiten deutlich über zwölf Stunden hinaus.
Sie sah auf ihre Uhr. 20:55. Noch hundertzwanzig Minuten. Mindestens. Vorher würde sie sich nicht losreißen können.
»Du siehst scheiße aus«, kam es von ihrer Rechten. Lea wandte träge den Kopf und sah in das besorgte Gesicht ihrer Abteilungsleiterin, die müde wirkte, was ihren ungewohnt direkten Sprachgebrauch erklärte.
»Danke«, murmelte Lea und versuchte, sich wieder auf die Buchstaben und Zahlen auf den vergilbten Seiten vor ihr zu konzentrieren. Sie verfluchte innerlich die fehlende Digitalisierung alter Kundendaten, Vorgänge und Verträge, die die Arbeit deutlich leichter gestaltet hätten.
»Ich mein's ernst«, fügte die Leiterin hinzu und musterte sie besorgt. »Du bist total blass. Und deine Augenringe haben inzwischen eigene Augenringe.«
»Wundert dich das?«, seufzte Lea. »Diese Aufgabe frisst mich auf.«
Und nicht nur mich, dachte sie und warf einen Blick ans andere Ende des Raumes, wo sich die sieben Anwälte der Bank an zwei großen Tischen niedergelassen hatten. Auch sie wirkten abgeschlafft und bettreif, trugen zerknitterte, halb aufgeknöpfte Hemden mit losen Krawatten. Tranken einen Kaffee nach dem anderen. Gruben unermüdlich weiter, studierten Texte, markierten Passagen und wappneten sich für einen Prozess, dessen Ausgang ungewiss war.
»Nicht nur dich«, stöhnte Leas Abteilungsleiterin. »Aber ich glaube trotzdem, dass du heute am schlimmsten von uns allen aussiehst.«
»Ich sagte bereits danke.«
Zu ihren Kopfschmerzen gesellte sich wachsende Wut. Und diese fand den Weg in ihre Stimme. Das war auch ihrer Gesprächspartnerin nicht verborgen geblieben.
»Das meinte ich jetzt echt nicht böse«, versuchte sie, zu beschwichtigen. »Ganz im Gegenteil. Ich bin am überlegen, ob du ein paar zusätzliche freie Stunden gebrauchen könntest.«
Lea atmete tief ein und aus. Natürlich konnte sie diese gebrauchen. So wie alle anderen auch. Inklusive ihrer Abteilungsleiterin. »Es geht schon«, log sie schließlich. »Ich hole mir noch einen Kaffee, dann starte ich durch.«
Doch ihre Vorgesetzte schüttelte entschlossen den Kopf. »Nein. Das reicht für heute. Du machst Feierabend. Mach dir keine Sorgen ums Geld, ich schreibe dich bis 23 Uhr auf.«
»Das geht doch nicht«, wiegelte Lea pflichtbewusst ab, während der Schmerz in ihrem Kopf den Feierabend verlangte. »Das wäre den anderen gegenüber unfair.«
»Unfair hin oder her. Ich bin deine Chefin. Nun hopp, ab nach Hause.«
Sie sahen sich an, während es in ihrem Kopf schwankte, als befände sie sich auf einem Schiff, umgeben von aufgewühlter See. »Also?«
Lea stieß einen tiefen Seufzer aus. »Okay.«
Fünf Minuten später fiel die gepanzerte Mitarbeitertür scheppernd hinter Lea ins Schloss. Sofort umgab sie eine angenehm warme Luft, die nicht nur nach Sommer, sondern auch nach Freiheit roch. Sie lächelte matt, setzte sich in Bewegung und ging einen schmalen Seitenweg entlang, der sie zu einer mehrspurigen Straße führte. Der Lärm der vorbeifahrenden Autos hatte dabei eine eher beruhigende Wirkung auf sie. Hinter den Mehretagenwohnhäusern Hamburgs versank die Sonne allmählich und kündigte das Ende ihres Arbeitstages an.
Lea passierte Schaufenster, in deren Glasscheiben sich ihr Spiegelbild deutlich abzeichnete. Tatsächlich sah sie aus, wie durch den Wolf gedreht. Ihr dunkler Blazer hing auf halb acht. Ihre tiefbraunen Haare, am Morgen noch ordentlich gebürstet, wirkten wirr und ungepflegt, was sicherlich daran lag, dass sie mehrfach ihre Schläfen und Kopfhaut massiert hatte.
»Na gut, ich sehe wirklich scheiße aus«, flüsterte sie zu sich selbst. Sie blieb stehen. Trat dichter an das Schaufenster heran, hinter dem nur Dunkelheit lag. Zuppelte an ihren Haaren herum, um die verirrten Strähnen zumindest grob zu bändigen. Musterte die tiefen Augenringe, die ihre hellen, blauen Augen unterstrichen, richtete ihren Blazer, unter dem sich ein figurbetontes Top an ihren zierlichen Körper schmiegte. Dabei fiel ihr ein großer Kaffeefleck auf, der die rechte Seite ihrer Hose schmückte und sie konnte sich bei bestem Willen nicht daran erinnern, wie dieser dorthin gekommen war. Sie seufzte erneut und gab auf. Ihre Optik war nicht mehr zu retten. Nicht, ohne vorher eine lange, ausführliche und trotz der sommerlichen Temperaturen heiße Dusche genossen zu haben.
Sie musste nur zwei Blocks gehen, dann sah sie das Wohnhaus, in dessen oberster Etage ihr Zuhause auf sie wartete. Und ihr Verlobter Lars. Bei dem Gedanken an ihn wärmte sich ihr Herz. Er würde sich sicherlich freuen, sie zur Abwechslung mal etwas länger genießen zu dürfen, denn in letzter Zeit beschränkte sich ihr Kontakt auf das abendliche Zähneputzen und das gemeinsame Aufstehen am nächsten Morgen. Der Akten sei Dank. Und wer weiß, vielleicht war er dazu in der Lage, ihren verspannten Nacken mit seinen kräftigen Händen so weit durchzukneten, dass sie sich nicht mehr wie ein harter Baumstamm fühlte.
Lea betrachtete den Verlobungsring an ihrer rechten Hand, dessen kleiner Diamant in den letzten Sonnenstrahlen glitzerte. Zwei Jahre trug sie ihn nun schon am Finger. Zwei Jahre, in denen die anfängliche Hochzeitseuphorie allmählich der Tatsache wich, dass beide zu ausgelaugt waren, um dieses Event final zu planen und endlich ja zu sagen. Sie legte ihre Stirn in Falten. Dachte an Lars. An seine guten Seiten, aber auch an die schlechten. Daran, dass das, was sie in diesem Moment ebenso gut gebrauchen könnte, wie eine ausführliche Nackenmassage, ein immer schwierigeres Thema zwischen ihnen wurde: Sex.
Sie hatte das wachsende Gefühl, dass ihr Verlobter sich von Monat zu Monat mehr von ihr zurückzog, wenn es um körperliche Belange ging. Er war ein guter Partner, ja, immer an ihrer Seite, ob mit Wort oder Tat. Doch im Bett... Lea überlegte, wann sie das letzte Mal miteinander geschlafen hatten. Sie erinnerte sich vage an die letzte Nacht, in der sie es versucht hatte, aber Lars' Müdigkeit hatte ihr eigenes Verlangen erstickt. Waren es drei Monate gewesen? Vier? Sie wusste es nicht.
Sie vermisste den intimen Kontakt zu ihm. Doch jeder Versuch, anfängliches Kuscheln oder Flirten in ein Abenteuer aus Lust und Hingabe zu verwandeln, schlug fehl. Lars erklärte stets, dass sein Job ihn überforderte. Dass er es, aufgrund des Druckes, den er tagsüber ausgeliefert war, einfach nicht schaffte, sich auf Touren zu bringen. Eine Erklärung, die Lea zutiefst verunsicherte, da sie ihr nicht glauben konnte.
Es liegt an mir, dachte sie wie so oft in der letzten Zeit. Sein Job ist seit Jahren gleich. Und früher konnte er Sex und Arbeit immer miteinander vereinbaren. Also bleibt nur ein Schluss übrig: Etwas stimmt mit mir nicht. Habe ich mich so verändert?
Wieder blieb sie vor einer großen Scheibe stehen und betrachtete sich. Klar, auch sie war älter geworden. Sie und Lars hatten sich mit Ende zwanzig kennengelernt. Und doch, da war sie sich sicher, hatten die letzten zehn Jahre ihren Körper weitestgehend verschont. Sie war noch immer schlank. Nicht sportlich trainiert, aber äußerst feminin. Mit schmaler Taille und nur etwas breiterer Hüfte. Mit Brüsten, die zwar klein, dafür fest waren. So wie Lars es liebte. Und mit einem Po, der ihr absolutes Aushängeschild war. Wohlgeformt, weich, und unwiderstehlich sexy in jeder Hose dieses Planeten.
Nein, sie hatte sich nicht verändert. Nicht optisch zumindest. Und doch hatte er die Lust auf sie verloren...
Sie erreichte das Wohnhaus, in dessen Erdgeschoss ein italienisches Restaurant untergebracht war. Spontan kam ihr die Idee, sich und Lars eine Pizza zu bestellen. Gesagt, getan. Sie orderte seine Lieblingspizza. Eine, mit der Lea selbst nichts anfangen konnte: Hot-Dog-Style, mit Wurst, Remoulade und Röstzwiebeln. Sie hätte viel lieber eine mit Spargel und Beef gegessen, doch ihm zuliebe trat sie von ihren Gelüsten zurück. Und wer weiß, vielleicht konnte sie ihn mit dieser Geste bestechen und in eine derart gute Stimmung versetzen, dass ihre Flaute im Bett schon bald der Vergangenheit angehören würde.
Mit einem XL-Pizzakarton, den sie beidhändig trug, stieg sie die Treppen hoch. Erst jetzt, als sie den Duft des Essens bemerkte, spürte sie, dass sie zuletzt vormittags etwas gegessen hatte. Ihr Magen grummelte schlechtgelaunt. Oben angekommen öffnete sie die Wohnungstür und trat ein.
Ein blumiger Duft empfing sie, ausgehend von einem Spender neben dem Schlüsselboard. Sie legte den Karton ab und zog ihre Schuhe aus. Sofort fühlte sie sich um ein Vielfaches freier. Als sie den Blazer ablegte, verstärkte sich das Gefühl von Feierabend und Heimkehr. Sie atmete durch und hörte gedämpfte Stimmen. Leises Kichern. Die Nachbarn teilten offenbar ihre Stimmung.
Lea nahm die Pizza wieder auf und ging den Flur entlang. Unter ihren Füßen knarrten die Dielenbretter der Altbauwohnung. Neben einem Wandspiegel hing ein Porträt, das sie und Lars im Moment ihrer Verlobung zeigte. Ihn kniend, sie weinend. Vor dem Pariser Eiffelturm bei Nacht. Kitschig, aber unendlich schön. Fotografiert von ihrer künftigen Schwägerin.
Wieder hörte sie ein liebliches Kichern, das in ein sanftes Stöhnen überging. Etwas knarrte verdächtig im Takt von Stößen, die nur eines bedeuten konnten. Lea grinste. Den Nachbarn schien es sehr gut zu gehen.
Lars war nicht im Wohnzimmer. Ihre Euphorie wich Enttäuschung. Schläft er etwa schon? Habe ich ihn verpasst?
Sie betrachtete den großen Pizzakarton. Alleine würde sie dessen Inhalt nicht bezwingen können. Sie hoffte, dass er noch wach im Bett liegen und lesen würde, so wie er es des Öfteren tat. Mit neugefasstem Mut ging sie zum Schlafzimmer. Abrupt blieb sie stehen. Die Tür stand einen Spalt breit offen. Doch das war nicht das, was ihre Stirn in Falten legte. Es waren die Geräusche, die aus dem Zimmer kamen. Ein Kichern, ein Stöhnen. Das rhythmische Knarren eines Bettes. Ihr Herz machte einen schmerzhaften Satz, als sie verstand, dass es nicht ihre Nachbarn waren, denen es gut zu gehen schien.
Mit zitternden Schritten näherte sie sich der Tür. Hitze stieg in ihr Gesicht und sie fühlte sich auf einmal alarmiert, wie eine Gazelle, die die drohende Gefahr im Gebüsch wittert. Ihre Eingeweide zogen sich zusammen. Ihr wurde schlecht. Als sie endlich ins Schlafzimmer sehen konnte, stockte ihr der Atem.
Da war Lars. Nackt und verschwitzt. Ihr gemeinsames Bett. Kleidung auf dem Boden. Schwarze Boxershorts. Ein BH, rot und mit viel Spitze. Ein Tanga in derselben Farbe, dicht neben einer weißen Bluse, achtlos hingeworfen. Und eine Frau, die unter ihrem Verlobten lag. Mit blonden Haaren, weit gespreizten Beinen, Brüsten, groß und üppig, die vom Oberkörper ihres Zukünftigen zur Seite gedrückt wurden, während sein Becken Stoß um Stoß vollführte.
In ihrer Brust explodierte etwas. Schmerzhaft, heiß und erstickend. Wie konnte er ihr das antun? Wie konnte er ihr ausgerechnet im eigenen Bett das Messer in den Rücken rammen? Dieser Mistkerl!
Lea wollte schreien. Losstürmen. Ihre Verletzung, die Demütigung und ihre Wut in Schläge und Tritte ummünzen. Aber sie konnte es nicht. War wie versteinert. Schaute nur zu, wie er zustieß. Wie sich die Finger seiner Hure ins Laken krallten. Wie sie mit geschlossenen Augen den Kopf zurückwarf. Wie er an ihrem Hals saugte, als wäre er einer dieser Fische, die immer an den Wänden von Aquarien klebten.
Aber er gehört mir, schoss es durch ihren Kopf. Er hat... sich vor mir hingekniet. Um meine Hand gebeten...
All das schien plötzlich unendlich lange her zu sein. Wie um diese Erkenntnis zu untermauern, stützte sich Lars auf. Sah der Blondine geil in die Augen. Stieß heftiger zu, sodass Lea das Klatschen seiner Hoden an ihren Körper hören konnte.
Ein aggressives Ekelgefühl ließ ihren Mund wässrig werden. Als wäre das ihr Signal gewesen, ging sie auf einmal einen Schritt zurück. Wollte nicht konfrontieren, sondern flüchten. Entfernte sich weiter.
Der Türspalt wurde kleiner, das Geschehen dahinter verschwamm. Wie ferngesteuert blieb Lea stehen, drehte sich um und sah direkt auf das Verlobungsporträt, das sie und Lars in inniger Liebe zeigte. Das war zu viel. Heiße Wut explodierte in ihren Adern. Schoss in jede Zelle ihres Körpers. Ließ ihre Muskeln rebellieren.
Sie verstand schlagartig, warum er seit Monaten kein Interesse mehr an ihr hatte und sie nicht mehr begehrte: Er hatte sie ersetzt und lebte seine Triebe bei einer anderen Frau aus.
Plötzlich setzte etwas in ihr aus. Sie holte weit aus und schmetterte den Pizzakarton mit aller Kraft gegen das Lügenbild. Im Flug öffnete sich der Deckel, sodass die ach so heilige Hot-Dog-Pizza auf die Aufnahme prallte. Würstchen, Zwiebeln und Remoulade spritzten zu allen Seiten.
Lea stürmte zur Wohnungstür, während weit hinter ihr das wollüstige Stöhnen erstarb. Sie riss sie auf, rauschte hindurch und warf sie im Anschluss so fest ins Schloss, dass es im Wohnungsinneren so schepperte, als wäre das Schlüsselbord von der Wand gefallen. Ein gedämpfter, weiblicher Schreckensschrei erklang, der unter Leas schnellen und lauten Schritten auf den Stufen unterging.
Kaum hatte sie das Freie erreicht, zerrte sie sich den Ring vom Finger und feuerte ihn achtlos auf die Fahrbahn, wo der teure Diamant zwischen zwei Autos verschwand.
2.
Bässe wummerten. Licht tanzte und warf seinen rot-weißen Schein über feiernde Menschen, die im Klang der Musik die Nacht zum Tag machten. Lea tat es ihnen gleich und ließ ausgelassen ihre Hüften schwingen. Unter ihr klebte der Boden durch Unmengen verschütteten Alkohols und jenem Dreck, den man um drei Uhr morgens in einer Diskothek finden konnte. Es duftete nach Parfüm, Schweiß und Shisharauch.
In Leas Kopf herrschte ein angenehmer Schwank, hervorgerufen durch Vodka-Energy und unzähligen Tequila Shots. Zwei fleißige Helfer in einer Zeit voller Not und Elend.
Kräftige Hände legten sich um ihre Hüften. Sie gehörten einem besoffenen Mittdreißiger, der seit geraumer Zeit sein Becken an ihren Hintern presste und jeder ihrer Bewegungen folgte. Sie ließ es zu. Genoss es sogar. Und das, obwohl dieser Mann, der nach Rum und Döner stank, alles andere als ihr Typ war. Egal. Sie wollte Kerben sammeln. Kerben an ihrem Bettpfosten, die ihren verletzten Stolz kaschieren sollten. Doch nicht nur das. Die Diskothek, in der sie auf Beute lauerte, war der Lieblingsclub von ihrem Ex-Verlobten Lars.
Sie ließ ihren Blick durch die Menge gleiten. Suchte das vertraute Gesicht ihres ehemaligen Liebespartners in der Hoffnung, dass er eifersüchtig werden würde, wenn er sie mit einem anderen sah. Ihr Herz bebte vor Aufregung bei diesem Gedanken. Wie sehr sie sich wünschte, den Schmerz, den sie beim Anblick ihres Verlobten mit seiner Affäre empfand, auf ihn übertragen zu können. Aber sie konnte ihn nicht finden. Noch nicht einmal einen seiner vielen Kumpels, die genau so regelmäßig wie er in diesem Club verkehrten.
Die Hände des Mannes hinter ihr wanderten höher. Glitten frech und respektlos über ihren Bauch, nur von einem engen Tanzkleid verborgen, und fanden ihren Weg zum Ansatz ihrer Brüste. Ein kalter Schauer zuckte durch ihren Körper. Sie musste sich zwingen, den Berührungen des Mannes, dessen Namen sie trotz mehrfacher Wiederholungen bei der lauten Musik nicht verstanden hatte, nicht auszuweichen. Sich nicht wegzudrehen. Sie musste standhalten. Signalisieren, dass ihr die Trennung, die seit nun mehr als drei Wochen bestand, keine Macht über sie hatte. Jenes Auseinandergehen, das sie selbst zwar ausgerufen hatte, aber dennoch so sehr schmerzte, als würde ihr ein glühend heißer Speer durch den Körper fahren.
Der Dönermann legte eine seiner klobigen Hände auf ihre rechte Brust. Griff zu. Nicht doll, aber bestimmt. Und obwohl sie einen großzügig gepolsterten BH trug, der aus ihrem kleinen Busen einen etwas weniger kleinen machte, fand er ihren Nippel auf Anhieb. Was zum Teufel macht er da?!, schoss es durch ihren Kopf, als er begann, ihren Nippel mit Zeigefinger und Daumen zu bearbeiten, als versuchte er, einer vertrockneten Rosine Leben einzuhauchen. In ihr sträubte sich alles.
Sie sah sich verstohlen um. Musterte die Typen in ihrem Umkreis. Suchte abermals nach dem gleichzeitig vertrauten und verhassten Gesicht von Lars. Hielt den Berührungen ihres Tanzpartners nur stand, weil sie im richtigen Moment von ihrem Ex dabei beobachtet werden wollte.
»Wollen wir...«, rief der Mann dicht an ihrem Ohr, sodass selbst die Musik keine Chance hatte, seine Stimme zu übertönen. In ihr lag eine animalische Gier, gepaart mit dem Lallen eines Betrunkenen. »Ähm, irgendwohin gehen?«
Er verstärkte den Druck auf ihren Nippel, während seine andere Hand den Weg zu ihrem Po fand. Sie quiekte, als er eine der Backen mit Kraft packte, als wäre er ein Löwe, der seine Krallen in die Beute schlug.
»Wohin denn?«, rief Lea als Antwort, ein leises Zittern lag in ihrer Stimme. Sie wusste, was der Mann irgendwo mit ihr vorhatte. Und sie wusste, dass sie genau aus diesem Grund hierher gekommen war. Ganz ohne Freundin als Begleitung. Allein. Ohne Flügelfrau, ohne Schutz. Nur sie und ihre Sehnsucht nach Nähe, Vergeltung und dem Gewinnen ihrer Trennung. Also nickte sie. Ließ sich vom Dönerboy von der Tanzfläche ziehen.
Sie passierten eine Bar und näherten sich einer Treppe, die in den Keller des Clubs führte. Leas Herz hämmerte schneller. Sie war zwiegespalten. Wollte einerseits fliehen, andererseits die Mission abschließen. Endlich wieder Sex haben, auch wenn sie diesen unter angenehmeren Rahmenbedingungen bevorzugt hätte. Wäre er doch nur mein Typ, grummelte sie im Stillen. Er riecht so eklig nach Knoblauch...
Sie gingen die Stufen herunter. Mit jedem Schritt wurde die Musik dumpfer. Einige junge Frauen und Männer kamen an ihnen vorbei, lachten, redeten, schwankten. Der Geruch nach Reinigungsmitteln stieg in ihre Nase und wurde stärker. Dann stand das seltsam ungleiche Paar vor dem Eingang zur Männertoilette. Ihr Partner-in-Crime sah sich um, und als die Luft rein war, zog er Lea hinter sich her, hinein ins Männergebiet, durch einen schmuddeligen Waschraum bis hin in einen noch versiffteren... Pissraum.
Dort gab es neben Dutzenden Pissoirs nur zwei Kabinen, von denen eine geschlossen war. Er zog sie in die Offene. Die Tür fiel knallend zu. Er verriegelte sie mit ungeschickten, alkoholgeschwächten Fingern. Dann, während ihr ein fragwürdiger Duft in die Nase stieg, drehte er sich zu ihr um. Sah ihr in die Augen. Musterte seine Beute.
Er hatte verschwitzte Haut. Braune Augen, ein paar Sommersprossen. Eine etwas zu große Nase, aber sein Mund war unerwartet schön, hatte wohlgeformte Lippen, hinter denen sich weiße Zähne andeuteten. Hätte der Alkohol ihn nicht entzaubert, so dachte Lea, wäre er womöglich ein guter Fang gewesen. In diesem Moment jedoch...
Er kam ihr näher. Sie wich ein paar Zentimeter zurück und stieß gegen die kalte Kabinenwand. Er spitze die Lippen. Wollte sie küssen. Sie versuchte, sich darauf einzulassen, doch im letzten Moment, kurz bevor sie sich berührten, drehte sie ihren Kopf zur Seite, sodass er sich mit ihrem Hals begnügen musste. Sie atmete durch, nicht aus Lust, sondern vor Erleichterung, sich zumindest für einen Moment der Knoblauchfahne verwehrt zu haben. Dem Mann schien dies nicht zu stören. Er hatte gefallen an ihrem Hals gefunden, küsste ihre Haut und saugte sich an dieser fest. Schmerzlich erinnerte sich Lea an den Moment, als sie Lars beim Fremdgehen erwischt hatte. Auch er hatte sich an dem Hals seiner Hure festgesaugt. Wieder kam ihr der Vergleich zu Aquariumsfischen in den Sinn und ihre Lust, die ohnehin beinahe auf dem Nulllevel war, schwand weiter.
Sie spürte, wie Dönerboy den Saum ihres oberschenkellangen Kleides packte und anhob. Ihr Magen zog sich zusammen. Warum ist Rache so schwierig? Sie hätte gedacht, dass ein One-Night-Stand einfacher durchzuziehen war. Dass anonymer Sex kein Problem für sie darstellen würde. Doch jede Sekunde in dieser Toilette überzeugte sie vom Gegenteil. Sie atmete tief durch und zwang sich dazu, locker zu lassen.
Der Mann hob ihr Kleid höher, und als ihre Unterwäsche sichtbar wurde, stieß er ein animalisches Grunzen aus, das unangenehm von der Kabinenwand widerhallte. Und bevor sie sich versah, schob sich eine Hand über ihren Tanga und seine Finger legten sich auf ihre Schamlippen.
Er fummelte los. Nicht koordiniert, sondern abstrakt. Wild und tölpelhaft. Übte mal zu viel, mal zu wenig Druck aus. Fand keine ihrer erogenen Zonen. Presste sich zwischen ihre Lippen, ohne jedoch die Spur eines Funken auszulösen.
Lea biss sich auf die Unterlippe und schloss die Augen. Versuchte, sich auf die Finger zu konzentrieren. Lust zuzulassen. Dem Mann eine Chance zu geben. Sie zwang sich zu einem Stöhnen, in der Hoffnung, dass dieses ihren Motor starten würde. Vergebens. Er jedoch schien ihre Geräusche als Bestätigung für seine Taten zu verstehen. Mit dem Selbstbewusstsein eines Betrunkenen zog er ihren Tanga herunter. Er blieb auf Kniehöhe hängen. Wieder griff der Mann zu. Schob einen Finger zwischen ihre trockenen Lippen. Suchte einen Weg hinein, was ihm aufgrund der ausbleibenden Nässe schwerfiel. Merkt er denn nicht, dass meine Maschine schläft?, grübelte sie mit verschlossenen Augen. Ist er so stumpf?
»Du bist so geil«, hauchte er in ihr Ohr. Sie wünschte sich, das gleiche über ihn sagen zu können. Sein Knoblauchatem verschlug ihr die Sprache. War so aufdringlich, dass ihr Fluchtgedanke wuchs und regelrecht zu einem Drang wurde. Ihre potentielle Kerbe drohte ihr zu entgleiten. Ihr Herz krampfte traurig. Sie musste standhalten. Sich behaupten. Die Sache durchziehen. Ihren Stolz ausklammern. Und Lars somit zeigen, dass auch sie ihn verletzen konnte.
Um sich vor seinem Geruch zu retten, drehte Lea den Spieß um. Trat selbst in Aktion. Packte den Mann an der Taille und drückte ihn auf die andere Seite der Kabine. Es polterte hölzern, als er auf die Wand traf. Er sah sie zunächst fragend an, doch als sie sich im Anschluss auf die Knie sinken ließ, veränderte sich sein Blick und wich einem stumpfen Triumph.
Sie fummelte an seinem Gürtel herum und schaffte es schnell, diesen zu öffnen. Dem Gürtel folgten die Knöpfe seiner Jeans. Mit einem entschlossenen Ruck zog sie diese bis auf seine Schuhe hinunter. Seine Boxershorts spannten sich dort, wo sein Penis ruhte und auf seinen Einsatz wartete. Der Funke des Mannes war definitiv da.
Lea atmete durch und nahm all ihren Mut zusammen. Zog auch die Unterwäsche in die Tiefe. Dönerboys Gurke peitschte hervor. Gierig und geil, zu allem bereit. Sie griff zu, schloss entschlossen eine Hand um den zuckenden Schaft. Rieb dieses langsam. Er stöhnte und schloss die Augen. Lea wichste schneller, bis sie spürte, dass sich eine Hand an ihren Hinterkopf legte. Sie schluckte nervös. Sie wusste, was sie tun musste. Vom Wichsen allein würde ihr niemand eine Kerbe am Bettpfosten zugestehen. Sie hatte keine Wahl. Für den Gewinn der Trennung.
Sie näherte sich der Eichel. Öffnete den Mund. Spürte die warme Vorhaut an ihren Lippen. In ihr zog sich alles zusammen. Ihr Verstand mahnte, nein, schrie zur Flucht. Dann, völlig unerwartet, packte der namenlose Mann ihren Kopf mit beiden Händen, nahm ihr jede Wahl und stieß brutal zu. Ganz ohne Romantik, ganz ohne den Drang, es ihr angenehm zu gestalten. In ihm wohnte eine egoistische, alkoholgeschwängerte Gier, die sich in dem Ding in ihrem Mund manifestierte.
Der Penis von Dönerboy war groß, nicht übermäßig, aber so, dass er damit angeben konnte. Und diese Größe in Verbindung mit seiner wuchtigen Wollust war es, die Lea würgen ließ. Er stieß zu, zog zurück, und wiederholte es. Immer und immer wieder. Sie schmatzte, während sie darum kämpfte, die Kontrolle zurückzuerlangen. Schmeckte Salz und Haut. Der winzige Funke in ihr erlosch vollständig. Sie war so trocken wie eine Wüste. Alles in ihr sträubte sich. So war das nicht geplant!, schrie es in ihr. Mit voller Wucht entflammte ein Gedanke, der sich wie eine bittere Erkenntnis durch ihre Seele fraß: In keinem Szenario dieser Welt wollte und durfte sie so mit ihrer Trennung umgehen. Ein tiefes Gefühl der Trauer überkam sie. Vermischte sich mit schmerzlicher Demütigung. Verletzung. Zurückweisung. Scham. Ließ ihre Augen heiß brennen, während der Mann sie rammelte, ohne zu spüren, dass sie sein Spiel nicht im Ansatz erwiderte.
Sie hatte versagt. Ihr gerissener Plan, durch Sex ihren Ex bestrafen zu können, war gescheitert. Auf der Suche nach Rache und der Auferstehung ihres Sexlebens hatte sie sich auf einen Pfad begeben, den sie nicht folgen durfte, nicht folgen wollte. Sex musste sinnlich sein, heiß und leidenschaftlich. Nichts, was man in einer nach Pisse stinkenden Klokabine mit einem besoffenen Egoisten finden konnte.
Sie stieß sich entschlossen zurück. Der Schwanz glitt aus ihrem Mund. Sie sprang auf und wandte sich zur Tür.
»Hey!«, plärrte der Mann und packte sie am Arm, aber sie entwandt sich seinem Griff. Als sie es endlich geschafft hatte, die Tür zu öffnen, stürmte sie heraus und stolperte über ihren Tanga, der von ihren Knien bis zu den Knöcheln herabgerutscht war. Sie schaffte es gerade noch, sich an einem anderen Mann festzuhalten.
»Was ist nun mit uns?!«, brüllte Dönerboy ihr hinterher, der wankend aus der Kabine gestolpert kam.
»Verpiss dich!«, fauchte Lea, der es nur mit Mühe gelang, ihre Unterwäsche wieder in Position zu bringen. Als sie es endlich geschafft hatte, stürmte sie los, stieß ein paar Betrunkene zur Seite und erreichte die Treppe. Heiße Tränen brannten in ihren Augen und verschleierten ihre Sicht, während sie hinausraste, sich blind einen Weg durch die verschwitzten Leiber der Tanzenden bahnte und nach Luft schnappend dem rettenden Ausgang entgegen taumelte. Sollte Lars oder einer seiner verdammten Freunde sie jetzt, gebrochen und verheult, erblicken, wäre ihre Rache nicht nur misslungen -- sie hätte endgültig bewiesen, dass sie es war, die die Trennung verloren hatte. Und das würde sie zerstören.
Ich bin eine Versagerin!, hämmerte es schmerzhaft in ihrem Schädel. Und eine Frau, die eigentlich nur geliebt und geliebt werden wollte.