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Die Story ist zwar in einem Science-Fiction-Szenario des Jahres 2086 angelegt, spielt aber überwiegend in der Vergangenheit. Es geht um einen Jungen, der als erster Mensch ausgewählt wurde, durch die Zeit zu reisen. Doch es kommt anders, als alle dachten…

Elemente wie Action, Spannung, (homoerotische) Gefühle und Szenen sind Teile der Geschichte. Wer eine Coming-Out oder reine Lovestory sucht, wird eher enttäuscht sein.

Diese Geschichte wird nicht ohne Grund 1. Buch genannt. Wenn ihr bis zum Ende lest, werdet ihr feststellen, dass es keinen dramatischen Cliffhanger gibt. Die Story ist eine geschlossene Einheit, aber durchaus auf Fortsetzung(en) ausgelegt.
Wenn ihr sie gelesen habt und euch eine Fortsetzung wünscht, dann schreibt mir ruhig ein positives oder kritisches Feedback. Das motiviert dann zum Weiterschreiben

Und nun wünsche ich viel Vergnügen beim Lesen!

Kapitel 1

Der Wachmann grüßte kurz, aber freundlich, als ich die Sicherheitsschleuse betrat.

„Viel Glück“, setzte er noch hinzu, nachdem der Biometrie-Scanner durch sein grünes Licht signalisierte, dass ich tatsächlich Phillip Marten war und Zugangsberechtigung Eins besaß.

„Ich hoffe nicht, mich darauf verlassen zu müssen“, gab ich schmunzelnd zurück und setzte meinen Weg durch das Gänge-Labyrinth fort. Doch aus dem ruhigen und unbesorgten Klang, den ich meiner Stimme zu geben versuchte, sprach keineswegs meine innere Überzeugung. In Wirklichkeit war ich äußerst nervös und fieberte dem Kommenden mit gemischten Gefühlen entgegen.

„Good morning, Phil!“
Lisa, genaugenommen Dr. Lisa Bolzano, ihres Zeichens Leiterin des ATR-Projekts und meine beste Freundin, kam lächelnd auf mich zu.

„Dir auch einen guten Morgen“, antwortete ich prompt und natürlich auf Englisch, denn das war Amtssprache hier am CERN. Lisas Muttersprache Italienisch beherrschte ich leider eben so wenig, wie sie das Deutsche. Zwar faszinierte mich die Sprache, doch mein hin und wieder aufflammendes Interesse wurde vom Zeitmangel erstickt.
Zeitmangel – seit ein paar Monaten beschlich mich immer ein merkwürdiges Gefühl, wenn ich ein Wort mit dem Präfix Zeit gebrauchte.

Lisa musterte mich nachdenklich und fragte: „Nervös?“

„Ein wenig, ja. Man ist ja auch nicht alle Tage Versuchsperson Nummer Eins von einem Haufen verrückter Wissenschaftler“, konterte ich spaßhaft.

Lisa lachte, wurde dann aber wieder ernst. „Es wird alles wunderbar funktionieren, du wirst sehen! Schließlich haben wir die letzten sechs Monate nichts anderes gemacht als Kalibrieren, Simulieren und wieder Kalibrieren…“

„Was nicht heißen will, dass sich nicht doch irgendwo ein Fehler in die Gleichungen geschlichen hat, oder unsere Theorien schlichtweg falsch sind.“

Lisa blieb stehen und warf mir einen leicht besorgten Blick zu. „Du willst es dir doch nicht anders überlegen, Phil?“

„Nein“, entgegnete ich beschwichtigend und mit einem schelmischen Grinsen im Gesicht, „niemals würde ich mir diese Reise entgehen lassen, auch wenn es noch so gefährlich wäre!“

„Das ist mein Phil, so wie ich ihn kenne und liebe.“

Letzteres war natürlich nicht wörtlich gemeint. Schließlich hätte Lisa mit ihren 43 Jahren meine Mutter sein können, denn ich war lediglich 24. Und insbesondere war ich nicht am weiblichen Geschlecht interessiert – was aber weder Lisa noch sonst irgendwer wusste.

Ja, das mag einem merkwürdig vorkommen, 24 und das Coming Out noch nicht hinter sich. Aber wenn ich recht überlegte, so lag das vor allem daran, dass ich die letzten vier Jahre nicht gerade so verbracht habe, wie man sich das bei einem Jungen meines Alters vorstellt.

Mein Studium der Physik hatte ich mit 20 abgeschlossen. Meine Promotion am CERN, der Europäischen Organisation für Kernforschung, stellte ich zwei Jahre später fertig.
Meiner Oma war das immer ein wenig suspekt. Ich musste ihr dann jedes Mal erklären, dass die Wissensvermittlung im Jahre 2086 eben etwas schneller vonstattenging als zu ihren Zeiten.

Nach meiner Promotion blieb ich dann am CERN und arbeitete am ATR-Projekt weiter, was für Advanced Time Research steht. Vor zwei Jahren lernte ich auch Lisa näher kennen, wobei wir mit der Zeit sogar enge Freunde wurden.

Ihr wurde schnell klar, dass ich perfekt ins Profil des Subject Zero, der vorhin erwähnten Versuchsperson Nummer Eins, passte.
Ich sah weder besonders umwerfend aus, noch hässlich – zu mindestens hoffte ich letzteres. Mein Haar war braun und relativ kurz geschnitten. Von 1,84m hoher Statur war ich zwar schlank, aber nicht ohne Muskeln.
Das sah vor ein paar Jahren allerdings noch ganz anders aus, schließlich hatte ich diesen Aspekt der Körperkultur bis dahin außer Acht gelassen. Das änderte sich aber mit meiner Auswahl als Subject Zero, mit der ein ausgiebiges Trainingsprogramm in vielerlei Bereichen, eben auch körperlichen, einherging.

Kurzum – ich würde, die richtige Kleidung vorausgesetzt, an keinem Ort besonders auffallen und insbesondere, zu keiner Zeit.

Ein Blick auf die Uhr ließ mich meine Gedankengänge unterbrechen. Es war 9:55 Uhr, oder anders gesagt, T minus 35 Minuten.

„Ok, Lisa. Ich muss dann in die Umkleide, wir sehen uns gleich.“

Die Umkleide, wie wir sie scherzhaft nannten, war wesentlich mehr als das. Es war das Ausstattungslabor, in dem man neben Rekonstruktionen von Kleidungsstücken vieler Epochen auch meine sonstige Ausrüstung bereithielt.
Der Raum war groß und fast quadratisch, eingeteilt in verschiedene Bereiche, die durch hüfthohe Trennwende separiert waren.

Mein Blick schweifte über die Glasschränke im ersten Bereich. Sie enthielten Gewänder, Umhänge, T-Shirts, Anzüge, ja sogar Unterhosen, alles geordnet nach Jahreszahlen, sowie in männlicher und weiblicher Ausführung. Ob jemals auch nur ein Bruchteil davon zum Einsatz kommen würde?

Plötzlich fiel mir auf, dass ab der Beschriftung „17. Jahrhundert“ und abwärts der für die Unterwäsche reservierte Platz leer war. Stand über diese Minimalbekleidung nichts in den Geschichtsbüchern? Oder hat man damals schlicht keine getragen?

Bevor ich jedoch diese Vorstellung durchdenken konnte, kam bereits der Laborleiter Dr. Carrol auf mich zu und musterte mich mit einem kritischen Blick.

„Guten Morgen, ich hoffe Sie haben gut geschlafen Phillip!“

Tja, hatte ich das? Eigentlich kaum, wenn man von einem gelegentlichen Eindösen absah. Zu viele Fragen schwirrten in meinem Kopf herum. Eigentlich die gleichen, die mich schon seit Monaten plagten.
Was würde mich erwarten? Okay, es gab Geschichtsbücher und Aufzeichnungen, aber in wie weit spiegelten diese das tatsächliche Leben vergangener Zeiten wieder?

„Ich denke, es muss ausreichen“, antwortete ich ihm mit einem entwaffnenden Lächeln.

Er setzte sogleich zu einer neuen Frage an. Deren Inhalt erahnend kam ich ihm zuvor:
„Und ja, ich bin ein wenig aufgeregt.“

„Dann lassen Sie uns mal keine Zeit vertrödeln“, antwortete er in seinem makellosen Oxford-Englisch. „Ich habe schon alles bereitgelegt.“

Der Ablauf des Ankleideprozesses war bis aufs kleinste Detail festgelegt und wurde von Dr. Carrol und seiner Assistentin genau überwacht. Und das war auch gut so, denn bei meiner von Minute zu Minute steigender Nervosität hätte ich sicher irgendetwas vergessen.

Schritt Eins ist die Desinfektion. Nachdem ich mich ausgezogen hatte kam ich unter die Dusche und wurde mit einer speziellen Flüssigkeit abgespritzt. Das diente dazu alle eventuell vorhandenen Keime, Bakterien usw. abzutöten, die sich auf meiner Haut befanden. Auch spezielle Antibiotika musste ich schon seit Tagen schlucken. Diese Sicherheitsvorkehrungen dienten einfach dazu, um mit mir keine Mikroorganismen aus der Gegenwart in die zurückliegende Zeit zu befördern.

Dass ich bei diesem Reinigungsprozess naturgemäß nackt war, machte mir nichts aus. Alle Anwesenden waren entweder weiblich oder über 40. Oder auch beides, wie zum Beispiel Dr. Carrols Assistentin.
Die Jungs in meinem Alter arbeiteten meist als Ingenieure oder Assistenzmitarbeiter. Diese hatten entweder keinen Zutritt zum Hochsicherheitsbereich oder arbeiteten in den technischen Abteilungen, die ich nur selten betrat.
Das ist umso verständlicher wenn man bedachte, dass sich die Anlage über einige Quadratkilometer auf mehreren über- und unterirdischen Ebenen erstreckte. Zurzeit befanden wir uns in Ebene U5, also fünf Stockwerke unter der Oberfläche, was circa 50 Metern entsprach.

Schritt zwei ist das Ankleiden. Glücklicherweise gab es 1886, die Zeit in die ich reisen würde, bereits Unterhosen.
Was letztlich aber egal war, schließlich hatte ich nicht vor meine Hose während des Ausflugs herunter zu lassen und bekam daher ganz normale, weiße Boxershorts.
Dann kam meine neue Kleidung an die Reihe. Ein weißes Unterhemd machte hier den Anfang.

Das wurde damals zwar nicht getragen, wie mich Dr. Carrol aufklärte, aber man würde es ja unter dem Rest nicht sehen. Außerdem erfüllte es noch eine interessante Zusatzfunktion. In den Stoff waren spezielle Nanoteilchen eingearbeitet, die sich bei starker physikalischer Kräfteeinwirkung kurzzeitig zu einer ultraharten, kristallinen Struktur zusammenschlossen.
Oder anders gesagt, die Schutzweste des ausklingenden 21. Jahrhunderts, die mich vor eventuellen Messer- oder Schussattacken beschützen sollte. Wozu es aber kaum kommen würde.

Schließlich war meine Mission simpel. Heil ankommen, Zeit und Ort mit den Zielkoordinaten abgleichen, etwas die Umgebung erkunden und heil zurückkehren. Eigentlich nicht so schwer – abgesehen von den 1000 Dingen die so schief gehen könnten.

Fertig angezogen betrachtete ich mich im Spiegel. Über die Unterwäsche war in der Zwischenzeit ein dunkelgrauer Anzug samt weißem Hemd und schwarzer Krawatte gekommen. Auch schwarze Schuhe gab es dazu.
Eine ganz normale Straßenbekleidung für Männer des 19. Jahrhunderts also, auch wenn es mir vorkam als wäre ich gerade auf dem Weg zu einem Business-Meeting, aber in den Träumen meines Ur- Großvaters. Oder noch ein paar Ur mehr.

„Gut sehen Sie aus!“, kommentierte Dr. Carrol und schritt voran in den nächsten, weitaus größten Bereich des Labors.
Hier herrschte rege Betriebsamkeit. Wissenschaftler, die sich unterhielten, diskutierten oder konzentriert an ihren Computerterminals arbeiteten. In der Mitte des Raums befand sich ein großer Tisch, in den allerlei Kalibrierungs- und Messinstrumente integriert waren. Oben drauf lag der wohl für mich wichtigste Ausrüstungsgegenstand, mein Rückkehrticket.

Es handelte sich um das Time Travellers Essentials Kit, kurz TTEK.
Das Kit, scherzhaft auch Zeit-Reisenecessaire genannt, bestand aus drei Komponenten.

Der volle Name des TTEK erinnerte mich irgendwie an einen Artikel zum Selbstzusammenbauen aus dem Möbelmarkt. Mit dem kleinen Unterschied, dass es sich um eine Einzelanfertigung handelte, die teurer war als der ganze Möbelmarkt samt Grundstück.
Ich erinnere mich noch, dass ich beim Einrichten meiner ersten Wohnung versucht hatte, einen Selbstbau-Schrank mithilfe der beigelegten ‘Bauanleitung‘ in die abgebildete Form zu überführen. Das Resultat hatte tatsächlich einige Ähnlichkeit mit der Version des Hochglanzpapiers, fiel nur leider nach ein paar Tagen in sich zusammen.

Die wohl auffälligste Komponente des Geräts war ein Paar metallener Armreifen von je 1cm Dicke und 10cm Länge. Das war zwar an sich etwas ungewöhnlich und entsprach weder dem heutigen Modegeschmack, noch dem des 19. Jahrhunderts, doch war es der zurzeit bestmögliche Kompromiss aus Unauffälligkeit und Funktionstüchtigkeit. Letztere war unerlässlich für meine Rückreise.

Während in der Anfangszeit die für den Rücksprung benötigte Elektronik noch die Größe eines Kleinwagens aufwies, war es in den letzten Jahren gelungen diese immer weiter zu miniaturisieren. Insbesondere die großen Fortschritte in der Nanotechnologie waren uns dabei zu Pass gekommen.

Trotz meiner allzu verständlichen Nervosität standen, statistisch gesehen, meine Chancen für ein Widersehen mit meinen Freunden und meiner Familie gut. Seit Beginn der heißen Phase des Projekts waren 23 Raumzeit-Tunnelings durchgeführt worden. Während bei den ersten zehn Transporten noch jedes dritte, freilich nicht-menschliche, Testobjekt verschollen ist, waren die letzten sechs Tests alle erfolgreich.

Deutlich unauffälliger war die zweite Komponente, die Visorlinsen. Es handelte sich um elektronische Kontaktlinsen, welche Umgebungsinformationen, Warnhinweise und weitere nützliche Daten direkt in meinem Sichtfeld anzeigen konnten.
Ich brauchte also keinen extra Monitor dafür, was es mir leichter machen würde, nicht aufzufallen. Denn nur so würde ich ungestört die Leute und das Leben von 1886 studieren können.

Das Armteil des TTEK wurde, wie an den Kontrollanzeigen des Instrumententischs ablesbar, erst heute Morgen ein letztes Mal überprüft.

Zuerst trug ich jedoch die Kontaktlinsen auf, was mir nicht sofort und nicht ohne einige Tränen gelang, da ich wegen meiner guten Sehstärke sonst keine benötigte.
In der Zwischenzeit nahm Carrol die Armschienen aus der Ablage, was die Tischelektronik mit einem verärgerten Piep kommentierte. Ich nahm Sie entgegen und streifte die Teile über meine beiden Arme. Die Verriegelung schnappte mit einem Klicken zu.
Unter den Hemdärmeln würden Sie von allen Blicken verborgen sein.

„Verbindung hergestellt“, säuselte eine computermodulierte Frauenstimme über den in meinem rechten Ohr angebrachten Mikrolautsprecher, der dritten Komponente.
Das war Elisa, der integrale Bestandteil des TTEKs. Elisa war eine VI, was für Virtuelle Intelligenz steht. Sie fristete ihr Siliziumdasein in den Armteilen und koordinierte alle Funktionen.

Im Grunde war sie ein besserer Computer, der sich in gewissen Grenzen an veränderte externe Parameter anpassen konnte. Das war besonders wichtig für die Berechnung der hochkomplizierten vierdimensionalen Gleichungen, die von der um mich herrschenden Raumzeit abhingen… aber ich schweifte ab. Jedenfalls würde sie dafür sorgen, dass ich in einem Stück und überhaupt wieder hierher zurückkehren konnte.

„Schaut mal her, Dr. Bolzano gibt gerade die letzte Pressekonferenz.“
Einer der Mitarbeiter hatte das Fernsehprogramm auf eine der großen Monitorwände geschaltet und nun lauschten alle gespannt und gebannt Lisas Worten.

Der Programmpunkt Fragestunde war wohl gerade an der Reihe.

„… jedoch wird die Rückreise wesentlich schwieriger sein. Bei der Hinreise reicht es die Raumkoordinaten möglichst exakt zu fixieren. Das ist auch nötig, schließlich wollen wir nicht das Dr. Marten plötzlich 100m über der Erdoberfläche materialisiert, oder gar irgendwo im All.
Dafür reicht es vollkommen, ein grobes Intervall für die Zielzeit festzulegen. Abweichungen von bis zu mehreren Wochen oder gar Monaten sind im jetzigen Projektstadium völlig normal.

Bei der Rückreise jedoch müssen wir nicht nur seine exakte örtliche, sondern auch seine exakte zeitliche Position bestimmen und zwar auf ein paar Millisekunden genau.
Stellen Sie es sich vor, als würden wir mit einem Suchscheinwerfer, dessen Lichtkegel ein Meter misst, die ganze Erde nach ihm absuchen müssen. Wir haben keine Chance, wenn wir nicht wissen, wo genau wir suchen müssen.
Dr. Marten wird also eine Art temporales Leuchtfeuer entfachen, um uns den Weg zu ihm zu weisen. Dann können wir ihn zurückholen.

Haben Sie sonst noch Fragen?“

Natürlich gab es immer weitere Fragen.

„Wieso müssen Sie die Position von Dr. Marten bestimmen? Kann er nicht die Geräte mitnehmen, um selbst zurückzuspringen?“

„Nein, so einfach ist das nicht. Zum einen werden für ein Raumzeit-Tunneling, beziehungsweise Zeitsprung für den Laien, große Aggregate und Energiemengen benötigt. Je weiter und genauer es sein soll, desto mehr Energie ist nötig. Mehrere Etagen dieses Gebäudes sind allein für die notwendige Elektronik reserviert.
Außerdem ist es überhaupt nicht möglich mit dieser Methode in die Zukunft zu reisen. Und nichts anderes wäre unsere Gegenwart aus Sicht von 1886.
Wir müssen ihn also quasi abholen.“

„Wieso ist ihr Proband noch so jung?“, lautete die nächste Frage.

Ich hörte nicht mehr zu, denn ich kannte das alles bereits. Schließlich hatte ich mich seit zwei Jahren darauf vorbereitet.
Die letzte Frage war meine erste gewesen, als Lisa mir damals den Vorschlag machte. Die Antwort lag darin, dass Niemand weiß, wie stark die Belastung für das menschliche Nervensystem sein würde. Versuche mit Mäusen hatten jedoch gezeigt, dass junge Tiere das Passieren der Raumzeitspalte besser überstanden.

T minus 10 Minuten“, teilte mir Elisa mit. Höchste Zeit also, mich in die Transferkammer zu begeben. Ich verabschiedete mich kurz von Dr. Carrol und machte mich auf den Weg.

Schon am Vorabend hatte ich mich von meiner Familie verabschiedet. Obwohl ich diesen Teil der Abreisevorbereitungen lieber ausgespart hätte, führte daran kein Weg vorbei.
Natürlich hatte es Tränen gegeben, meine Mutter hatte geweint. Mein Vater sah das ganze etwas gelassener und hatte mir noch geraten, bloß keinen Urahn von mir versehentlich zu erschlagen.

Die Sorge war natürlich völlig unbegründet. Änderungen in der Vergangenheit würden keinen Einfluss auf unsere Gegenwart haben, da es sich streng genommen gar nicht um unsere Vergangenheit handelte, sondern um ein zeitlich verschobenes Paralleluniversum.
Sicher, das sind wissenschaftliche Spitzfindigkeiten, aber doch beruhigend zu wissen.

Lisa hatte die Pressekonferenz scheinbar beendet. Sie kam gerade den Flur entlang, als ich in das Zentrallabor einbog.

„Ah, Phil! Schon in Schale geschmissen. Und gut siehst du auch aus.“

Wieso fanden bloß alle, dass ich in diesem pseudo business-mäßigen Retrolook gut aussah. Ich konnte das beim besten Willen nicht finden.

Mittlerweile standen wir beide auf dem kreisrunden Feld in der Mitte einer kugelförmigen Kammer mit um die sechs Meter Durchmesser.
Dies war die Transferkammer, die sich wiederrum in der Mitte des Zentrallabors befand. Bei einem erfolgreichen Transfer würde der gesamte Inhalt der Kammer durch die erzeugte Spalte im Raumzeit-Kontinuum ans Ziel transportiert.
Ebenso würde ein gleich großes Volumen am Ziel in diese Kammer zurücktransportiert. Das war auch der Weg, den ich zu meiner Rückkehr beschreiten würde.

Nachdem ich im Zentrallabor bereits zahlreiche ermutigende Kommentare und Händedrücke verabreicht bekam, war es nun auch für Lisa Zeit sich von mir zu verabschieden.

„Ich wünsche dir wirklich alles Glück und viel Erfolg! Und denk daran, dass…“
Hier brach sie ab.
Es war wohl einfach zu viel, was sie mir noch ein letztes Mal in Erinnerung rufen wollte. Doch zugleich war alles bereits gesagt. Ich war auf alle Eventualitäten vorbereitet. Zu mindestens die, welche unser Team sich vorstellen konnte.

„Pass einfach auf dich auf, Phillip“, schloss sie und umarmte mich ein letztes Mal kräftig.

„Natürlich“, beruhigte ich sie, „mach dir nicht zu viele Sorgen um mich. Ich kann auf mich aufpassen und bin ja auch spätestens in ein paar Stunden zurück. Bis dann also!“

„T minus fünf Minuten“, kam es gleichzeitig aus meinem Mikrolautsprecher und der Lausprecheranlage des Labors. Letztere setzte noch ein „Bitte räumen Sie den Transferbereich“ hinzu.

Lisa drehte sich noch einmal kurz um, bevor sie die Kammer verließ, und winkte.
Dann schloss sich die Tür.

Der Raum war nun komplett leer, bis auf eine kleine weiße Kapsel aus einem schaumstoffähnlichen Material. Diese war in der Mitte aufklappbar und bot Platz für eine Person in ihrem Inneren, den ich jetzt auch einnahm.
Die Kapsel erfüllte vor allem den Zweck, einen Sturz aus einigen Metern Höhe abzufedern. Denn da die örtliche Zielkoordinate nur bis auf ein Paar Meter genau war, wurde das Ziel etwas über dem Boden gewählt. Damit wurde die Wahrscheinlichkeit gesenkt, dass ich einige Meter tief im Erdboden materialisierte.
Für den Fall der Fälle befand sich dennoch eine kleine Atemmaske und entsprechendes Werkzeug für eine Ausgrabaktion in der Kapselwand.

Die Zeit verging hartnäckig langsam während ich mit pochendem Herzen auf die Geräusche von außen lauschte. Die Kapsel hatte ich mittlerweile geschlossen und der Zentrale von meiner Seite aus grünes Licht gegeben.

T minus 30 Sekunden. Zielkoordinaten 53° 52′ 37″ nördliche Breite, 10° 42′ 00″ östliche Länge fixiert“, meldete Elisa.

Diese kryptischen geographischen Daten hatten auch einen Ortsnamen: Lübeck, genauer gesagt in einem Waldstück davor.
Der Ort wurde zum einen gewählt, da recht genaue Beschreibungen und Landkarten aus der angesteuerten Zeit davon vorlagen. Zum anderen interessierte er mich einfach, da ich im Rahmen meiner Vorbereitungen einen guten Roman gelesen hatte, der in jener Zeit an diesem Ort spielt.

„T minus 10 Sekunden.

Countdown startet.

9… 8…“

Jetzt wurde es erst. Mein Herz klopfte mir bis zum Hals. Verdammt zum Nichtstun und Hoffen harrte ich aus.

„5… 4…“

Es wurde laut um mich.

„2… 1…“

Plötzlich wurde mir speiübel. Ein Sekundenbruchteil später fühlte es sich an, als würde mein Körper in alle Richtungen gleichzeitig gerissen. Und zerfetzt in tausend Einzelteile…

Kapitel 2

Langsam kam ich wieder zu mir.

Meine erste Empfindung war Hitze. Es fühlte sich an, als würde ich in einem Hochofen gebraten.

Dann spürte ich auch meine Arme und Beine wieder.
Es kam mir vor, als ob dort tausend kleine Nadeln in meiner Haut steckten.

Keuchend versuchte ich mich zu Bewegen. Es gelang mehr schlecht als recht, denn ich befand mich ja immer noch in der Kapsel.

Sehen konnte ich noch nichts. Oder vielleicht gab es einfach kein Licht.
Ja, natürlich, der Strom wird ausgefallen sein.

Ich ignorierte das Brennen in meinen Armen und versuchte die Wand nach dem Hauptschalter abzutasten.
Schließlich fand ich die entsprechende Vertiefung und legte mühsam den Hebel um. Vorhin im Labor gelang mir das mir das mit zwei Fingern. Jetzt musste ich die Kraft meines ganzen Arms darauf verwenden.

Es wurde Licht. Der Innenraum der Kugel erhellte sich und ein kleiner in die Wand eingelassener Diagnosebildschirm flackerte auf. Doch irgendwie war das Display unscharf.
Nein, korrigierte ich mich, ich sah nur verschwommen. Auch die Umrisse der Kugel waren nur schemenhaft zu erkennen.

Okay, du hast ja Zeit. Also schön langsam angehen, das Ganze.

Ich schloss die Augen wieder und versuchte mich so gut zu entspannen, wie es in meiner zusammengekauerten Lage eben ging.

Es mussten ein paar Minuten vergangen sein, als ich aus meiner Starre hochschreckte. Ich war wohl beinahe eingeschlafen.
Die Schmerzen hatten sich zu einem erträglichen Hintergrundrauschen meiner Nervenzellen reduziert und als ich die Augen öffnete, klärte sich auch mein Blick. Nur die Hitze plagte mich noch.

Als erstes sah ich auf das Kontrolldisplay.

Die erste Zeile war eine Fehlermeldung: TTEK energy drained. Self-recharge finished in about 2 hours.

Okay, das war nicht weiter schlimm. Die Energie im Hochleistungsakku des TTEK hatte sich verflüchtigt, der würde aber in zwei Stunden wieder fit sein.
Kein Grund zur Besorgnis also.

Die Zweite Angabe war eine Warnmeldung und gab an, dass sich der Notfallschirm geöffnet hatte, da die Fallhöhe ca. 160 Meter betrug.
Wow, das war viel zu viel. Eigentlich sollte es höchstens fünfzehn Meter nach unten gehen, doch scheinbar war die Kalibrierung etwas ungenau gewesen.
Vielleicht lag es am hohen Anteil lebendigen Materials. Egal, für schlaue Spekulationen war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt.

Das Display gab auch an, dass der Zeitsprung bereits vor ungefähr 50 Minuten erfolgte. Ich war also schon eine ganze Weile bewusstlos gewesen.

Jetzt aber raus hier. Wieso ist es auch so verdammt heiß hier drinnen?
Ich schwitzte erbärmlich in meinem Retro-Anzug. Vieleicht hätte ich ein Deodorant einpacken sollen, ging es mir scherzhaft durch den Kopf.

Schnell sah ich die Umweltdaten auf dem Display durch.
Luft atembar, normale Zusammensetzung.
Temperatur 46° Celsius.

Wie zum Teufel sollte das gehen?! Wir hatten als Zeitpunkt zwar die Jahresmitte anvisiert, aber so heißt war es damals doch sicher nicht.
Der Sensor musste beim Aufprall beschädigt worden sein. Oder doch nicht? Schließlich kam es mir auch hier drinnen seltsam heiß vor.

Es half nichts, ich musste es selbst herausfinden. Mit dem Betätigen des Verschlussriegels löste sich schmatzend die luftdichte Verriegelung der Kugel.

Die obere Hälfte schwang selbsttätig auf und ich blickte in den sonnenklaren Himmel.

So weit so gut. Was mich jedoch deutlich mehr beunruhige, war was sich zu meinen Füßen befand und sich um mich herum erstrecke soweit das Auge ging: Sand!

Überall und ringherum, Sand. Das durfte nicht wahr sein! Das war doch einfach unmöglich. Wo verdammt noch mal war ich hier?

Dies war nicht Lübeck. Dies war keinesfalls Deutschland. Dies war nicht einmal Europa.

Aber es war offensichtlich eine Wüste. Auch meine Geographiekenntnisse halfen mir bei der Ortsbestimmung nicht weiter, denn Wüsten gab es auf so ziemlich jedem Kontinent außer Europa.

Bei einer so großen Abweichung der Ortskoordinaten grenzte es an ein Wunder, dass ich nicht tief im Erdinneren oder irgendwo im Weltraum materialisiert bin.
Und natürlich schließt sich dann die berechtigt Frage an, in weit es auch Abweichungen bei der Zeitkoordinate gegeben hat.

Doch diese Frage würde sich mir erst beantworten, wenn Elisa ihr Siliziumgehirn wieder anschmeißen konnte.
Solange hieß es ausharren und überleben. Was bei dieser Hitze gar nicht so einfach werden würde.

Siedend heiß fiel mir ein, dass ich ja gar nichts zu trinken dabei hatte. Dafür bestand normalerweise auch keine Notwendigkeit, denn mein Aufenthalt in der fremden Zeit sollte laut Plan höchsten vier Stunden betragen.

Man sagt wohl nicht zu Unrecht: Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt. Nur sooo anders hätte es nun nicht sein müssen.

Ich konnte nicht hier rumsitzen und auf den Akku warten. Selbst wenn das TTEK wieder läuft, könnte es bei dieser Abweichung von den Zielparametern Stunden dauern, meinen genauen Standort in Raum und Zeit zu bestimmen. Und vorher war eine Rückkehr nicht möglich.

Wenn ich also nicht zuvor an Dehydrierung sterben wollte, musste ich etwas unternehmen.
Die nächste Stadt finden. Oder eine Oase. Irgendetwas mit Wasser.

Zuerst zog ich alle überflüssige Kleidung aus.
Wenn es nicht um mein Leben ginge, wäre der Anblick fast schon komisch gewesen. Ein junger Mann steht im Anzug mitten in der Wüste.

Besagtes Kleidungsstück warf ich in die Kugel, zusammen mit dem Hemd, der Krawatte und der Hose.

Erleichtert atmete ich auf, denn unter der Sonneneinstrahlung hatte sich der dunkle Stoff noch um ein vielfaches erwärmt.
Nur noch in meinen Boxershorts und dem Unterhemd stand ich also da. Obwohl die schwarzen Anzugschuhe äußerst unpassend wirkten, behielt ich auch sie an. Der Sand war einfach zu heiß, um sich ohne Schuhe darauf zu wagen.

Was nun, in welche Richtung sollte ich mich wenden?

Ich drehte mich noch einmal um die eigene Achse und betrachtete dabei die Umgebung. In der Ferne erkannte ich etwas, das aussah wie Felsen. Diese Richtung würde ich fürs erste einschlagen.

Die Kapsel hatte mich sicher auf den Boden gebracht und damit ihre Aufgabe erfüllt. Es gab nichts mehr darin, was für mich von Nutzen sein könnte.
Damit nicht versehentlich jemand darüber stolperte, aktivierte ich den Selbstzerstörungsmechanismus und ging los.



Nach einer gefühlten Stunde, die in Wahrheit nur eine Viertel war, begann ich zu ahnen, dass dies mein sicherer Tod sein würde.
Es kam mir vor, als ob ich überhaupt nicht vom Fleck gekommen wäre. Außerdem war ich noch erheblich geschwächt und meine Kräfte begannen bereits zu erlahmen.

So hatte ich mir diese Reise nicht vorgestellt. Gefangen, mitten in einer Wüste, verendet an der elenden Hitze. So stellte sich mir mein Schicksal dar.

Bereits halb im Delirium erinnerte ich mich an meine Worte zu Lisa: „Niemals würde ich mir diese Reise entgehen lassen, auch wenn es noch so gefährlich wäre!“
Das hatte ich gesagt. Wenn ich es mir doch nur anders überlegt hätte.
Zuhause sitzen, im angenehm temperierten Wohnzimmer meiner Genfer Wohnung. Ein kühles Bier, das meine Kehle herunterrinnt. Es waren verlockende Vorstellungen, denen ich mich im Geiste hingab. Ein ausgedehnter Spaziergang über den Nordpol war ebenso darunter, wie ein Bad in einer Wanne voll Eiswürfeln. Ich würde…

Plötzlich kam ich aus dem Gleichgewicht und fiel der Länge nach hin. Ich versuchte mich abzustützen, rutschte aber im feinen Sand ab und rollte die Düne herunter.

Mühsam versuchte ich, mich wieder aufzurappeln. Ich durfte nicht liegen bleiben, denn dann war ich endgültig verloren. Beschwerlich kam ich wieder auf die Füße.

Ich versuchte mich zu orientieren, soweit das in einer immer gleich aussehenden Landschaft möglich war.
Die Felsen, auf die ich zunächst zugesteuert hatte, waren nicht mehr zu sehen. Dafür befand ich mich in einer Art Schneise zwischen zwei Dünenzügen, die sich wohl eine ganze Weile dahin zog.

Also beschloss ich, diesen natürlichen Weg, den die Landschaft hervorgebracht hatte, zu verfolgen.

Abermals verging Zeit, in welchem Maße konnte ich unmöglich sagen. Es kam mir vor wie Stunden, doch die Sonne hatte ihren Stand am Zenit kaum verlassen.

Meine Beine wurden immer schwerer, das Vorwärtskommen immer mühsamer. Da ich mich kaum noch auf den Beinen halten konnte, kam ich auch nur unwesentlich voran. Der Zeitsprung hatte mich bereits erheblich geschwächt und die Wüste nahm mir auch die letzte verbliebene Kraft.

Mit verschwommenem Blick sah ich irgendetwas Dunkles vor mir im Sand liegen. Es könnte der Kot eines Tieres sein, ging es mir durch den Kopf.

Das Etwas kam näher. Nein, falsch. Ich war umgekippt und dem Etwas näher gekommen.

Vielleicht war es auch nur ein Haufen Steine gewesen, ich wusste es nicht.

Ich wusste gar nichts mehr.

Kapitel 3

Ich schloss die Tür zu meinem Arbeitszimmer im dritten Stock des ATR-Gebäudes auf.

Doch nach der ersten Tür befand sich eine weitere, die ich auch aufschloss. Eine dritte Tür versperrte mir den Weg, direkt nach der vorherigen.
Ich wollte auch sie entriegeln, aber der Schlüssel klemmte. Er blieb stecken und bewegte sich weder vor, noch zurück.

Ich drehte mich um, in dem Versuch einen anderen Weg ans Ziel zu finden. Doch mit Entsetzen musste ich feststellen, dass sich die zweite Tür inzwischen wieder verschlossen hatte.

Ich rüttelte daran, doch nichts tat sich. Auf einmal nahm ich ein Fenster wahr, das vorhin noch nicht dagewesen war. Ich empfand es als logisch, das Fenster zu öffnen und hinauszuspringen.

Ich fiel und fiel. Der Sturz schien kein Ende nehmen zu wollen. Alles wurde dunkel um mich herum.



„Meine Herren, ich bitte Sie…“, ich saß in roter Robe auf dem Richterstuhl und versuchte den aufgebrachten Saal zu beruhigen. „Beherrschen Sie sich, oder ich werde das Gericht räumen lassen.“

Der Staatsanwalt erhob sich und wies auf einen nackten Jungen, der in der Saalmitte mit dem Rücken zu mir an einen Marterpfahl gebunden war. „Dem Angeklagten wird zur Last gelegt, sich dem unsittsamen Kontakte zwischen zwei männlichen Individuen schuldig gemacht zu haben. Er ist mit einer Geldstrafe von 10.000€ zu belegen, ersatzweise 20 Tage gemeinnützige Arbeit als Stricher.“

Die Verteidigerin des Jungen, welche die Gesichtszüge Lisas aufwies, protestierte energisch.

„Die Liebe, meine Herren. Ist sie nicht die treibende Kraft des menschlichen Schaffens, ja des Lebens überhaupt?

Ist sie nicht Ausdruck und Befriedigung des humanen Strebens nach Vollkommenheit?

Wenn zwei Menschen zusammenfinden und sich vereinigen, in dem Bestreben eine vollständigere Einheit zu bilden, so ist dies Ausdruck dieser menschlichen Schaffenskraft. Es ist der Motor der Progression, es ist die manifestierte Menschlichkeit selbst.

Ist Liebe nicht der Entschluss, das Ganze eines Menschen zu bejahen, die Einzelheiten mögen sein, wie sie wollen?

Wer sind jene, die urteilend in diese Kräfte der Natur eingreifen wollen? Sie sind nichtig und ihre Meinung ohne Gewicht vor einer reinen Seele.

Dies wird auch das hohe Gericht erkennen müssen und meinen Mandanten freisprechen.“

Ich war zu Tränen gerührt von dieser bewegten Rede.
Auch der Saal war ganz still geworden und alle Blicke ruhten jetzt auf mir, der die finale Entscheidung treffen, das bindende Urteil fällen musste. Denn es gab keine höhere Instanz mehr, der Ausgang des Verfahrens lag in meiner Hand allein.
Mir wurde ganz flau im Magen.

„Die Beweislage ist nicht ausreichend für ein abschließendes Urteil dieses Gerichts“, richtete ich mich an die Anwesenden. „Herr Staatsanwalt, ich bitte Sie den Tathergang zusammen mit dem Angeklagten zu rekonstruieren.“

„Mit Vergnügen“, antwortete der angesprochene Staatsdiener und schritt in die Mitte des Saals hinter den Angeklagten. „Die Penetration erfolgte von hinten, genau so“, fuhr er fort, ließ seine Hose herunter und nahm den Jungen von hinten.

Ich nickte zustimmend. „Nehmen Sie das bitte ins Protokoll“, wies ich die Protokollantin an.

Die Verteidigerin mahnte mich: „Hohes Gericht, es wird Zeit für das Urteil. Ich verpasse sonst den Tee mit meiner Schwiegermutter.“

Die Leute sahen mich erneut erwartungsvoll an. Nun konnte ich nicht mehr ausweichen.

Ich schwitze und mein Kopf war leer. Ich blicke in tausende Gesichter, die bald die schlimmste Strafe, bald den Freispruch forderten. Mir schwante, dass ich etwas Wichtiges vergessen, irgendein Detail oder Indiz nicht bedacht hatte.
Mir wurde schwindlig. Alles drehte sich.



Übelkeit empfing mich, als ich das Bewusstsein wiedererlangte. Wilde Träume hatten mich geplagt, doch ich erinnerte mich kaum noch daran.

Was war passiert? Ach ja, ich war in einer unbekannten Wüste, fernab von meinem planmäßigen Zielort materialisiert und bei meinem Marsch durch die Gluthölle in Ohnmacht gefallen.

Das stärkste Gefühl neben der Übelkeit war jedoch Durst. Mein Mund fühlte sich an wie eine staubige Düne, ich meinte sogar den Sand zu schmecken.

Ich öffnete mühsam die Augen und nahm die Szene um mich herum auf.

Ich erschrak heftig!
Mein Herz schlug schneller und ich war nun gänzlich wach.

Nicht nur, dass sich das Umgebungsbild entschieden gewandelt hatte, ich befand mich auch nicht mehr auf heißem Wüstensand, sondern festgeschnallt auf dem Rücken eines Kamels!

Dieses Reisevehikel schaukelte bedenklich hin und her und war wohl die Ursache meiner Übelkeit.

Vor mir waren noch weitere Kamele zu sehen, alle mit einer Leine verbunden. Sie bildeten scheinbar eine Art Karawane. Um uns herum war zwar immer noch Wüstensand das vorherrschende Element, aber in der Ferne meinte ich, bereits einige Gebäude ausmachen zu können.

Auf manchen Kamelen saßen Reiter, aber die meisten waren mit allerlei Gepäck beladen.
Die Reiter waren seltsam gekleidet, oder besser gesagt, kaum bekleidet. Sie trugen lediglich weiße Lendenschurze, die fast bis zu den Knien gingen. Außerdem noch einigen Schmuck um den Hals oder die Arme, wie ich ihn sonst nur von Frauen kannte.

Andererseits sah ich bis auf meinen weißes Unterhemd in den Boxershorts auch nicht viel besser aus. Und natürlich die Schuhe, dachte ich und stutze gleich darauf.
Ich konnte mich zwar nicht umdrehen, da ich auf dem Bauch lag und die saubere Verschnürung meinem Körper keinen Spielraum gab, aber ich fühlte keine Schuhe mehr an meinen Füßen. Man hatte sie mir offensichtlich ausgezogen.

Wenigstens schienen die Armgeräte des TTEKs unversehrt. Zwar waren sie aus einer sehr resistenten Verbundlegierung gefertigt und nicht ohne weiteres von meinen Armen entfernbar, aber man konnte ja nie wissen.

„Sie sind wach Dr. Marten.“
Ich zuckte zusammen, hatte ich doch fast vergessen, einen elektronischen Begleiter zu haben.

Da Elisa wieder aktiv war, musste ich wiederrum eine ganze Weile bewusstlos gewesen sein.

„Statusbericht folgt.

Dr. Marten, Sie befinden sich in einem kritischen Zustand. Sie leiden an akuter Dehydration, starkem Sonnenbrand und haben einem Hitzeschlag erlitten.

Ich habe ihnen fiberhemmende, schocklösende und kreislaufstärkende Medikamente injiziert, sowie ein schwaches Schmerzmittel.

Eine weitergehende Behandlung ist aufgrund der beschränkten Mittel des Medizinischen Notfallsystems nicht möglich.

Sie müssen unbedingt Flüssigkeit zu sich nehmen.“

Deshalb ging es mir also noch halbwegs erträglich, ich war vollgepumpt mit allen möglichen Medikamenten. Zwar war ich froh darum, jedoch erleichterte mir das nicht gerade, einen klaren Kopf zu bewahren.

Ich wollte Elisa fragen, wie es um die Raumzeitpeilung stand, bekam aber außer einem Krächzen nichts über meine rissigen Lippen.
Das war aber für die Verständigung zwischen uns nicht weiter hinderlich, denn sie erkannte das Gesagte so wie so anhand eines Stimmbandsensors.

„Peilung unmöglich. Die Abweichung der aktuellen Raumzeitposition von der anvisierten überschreitet den bearbeitbaren Grenzwert.

Sobald eine grobe Abschätzung der aktuellen Position auf der Erde und des Zeitabschnitts vorliegt, kann ich versuchen, die Gleichungen zu korrigieren.“

Mir war elend zumute. Ich hatte gehofft, Elisa würde die Peilung abgeschlossen haben und könnte jetzt sofort das Rückkehr-Signal senden. Ich würde einfach verschwinden, weg von diesem furchtbaren Ort und in mein heimisches Bett zurückkehren. Oder erst mal auf die Krankenstation des ATR-Baus.

Ich versuchte mich ein wenig zu beruhigen. In dieser Sache würde ich eben abwarten müssen, bis wir an einem belebteren Ort kamen. Vielleicht ließen sich dort Rückschlüsse auf meinen Aufenthaltsort ziehen. Und ewig durch die Wüste wandern, würde diese Karawane wohl nicht.

Mein Gekrächtze von eben war dem Reiter vor mir nicht unbemerkt geblieben. Er drehte sich um und musterte mich.

Ich räusperte mich und brachte mit einiger Anstrengung schließlich die gewünschten Laute hervor: „Wasser“, versuchte ich es auf Deutsch. „L’eau… Water“, schloss ich das gleiche auf Französisch und Englisch noch an. Alle diese Länder hatten im 19. Jahrhundert noch Kolonien besessen und es war immerhin möglich, dass ich mich in einer davon befand.

Der Mann hatte sonnengebräunte Haut und war wohl um die 25. Den Eindruck, als hätte er das Gesagte verstanden, machte er jedoch nicht.
Er betrachtete mich fast mitleidig von oben bis unten – oder besser gesagt von vorne nach hinten, denn ich lag ja immer noch horizontal auf dem Kamelsattel.

Auch ohne meine Worte zu verstehen, schien er mein Problem zu begreifen. Er löste eine Art Beutel mit schlauchartiger Verlängerung aus dem Gepäck seines Kamels.
Zwar war die braun-ledrige Außenhaut des Behälters nicht durchsichtig, aber ich vermutete in ihm eine trinkbare Flüssigkeit.

Der Reiter löste den Verschluss am Schlauchende und nahm einige Schlucke. Dann hielt er mir das Gefäß hin.

Obwohl es nicht gerade einen hygienisch einwandfreien Eindruck machte, hätte ich seinen Inhalt sofort geleert. Nur waren meine Hände ja immer noch unter dem Bauch des Kamels zusammen gebunden.

Der Mann lachte und schien die Situation auch noch komisch zu finden. Was mich noch stärker besorgte war, dass er weniger über seine Ungeschicktheit zu lachen schien, als über mich.

Er lachte mich tatsächlich aus.
Langsam stieg in meinen ausgedörrten Gehirnwindungen der Verdacht auf, dass ich nicht etwa aus Fürsorge und der Angst ich könnte herunterfallen so gründlich an das Reittier gebunden war, sondern um mich zu fesseln.

War ich ein Gefangener dieser ominösen Wüstenleute?

Inzwischen schien auch mein Vordermann zu der Erkenntnis gelangt, dass ich – ob nun Gefangener oder nicht – ohne eine Dosis aus seinem Wasserschlauch, die Reise nicht überleben würde.

Endlich hielt er mir die Öffnung an den Mund. Ich schluckte gierig das lauwarme Nass.

Nach einer viel zu kurzen Zeit riss er den Behälter jedoch zurück und verschloss ihn wieder. Dann richtete er noch einige Worte in einer mir unbekannten Sprache an mich und drehte sich wieder um.

Das war also mein erster Kontakt zu einem Menschen aus früherer Zeit. Ich hoffte, dass die folgenden etwas besser und mitteilsamer verlaufen würden.
Doch dazu müsste ich die Menschen hier ja erst einmal verstehen.

„Was ist das für eine Sprache, Elisa?“ fragte ich lautlos.

„Keine hinreichende Übereinstimmung mit einer bekannten Sprache oder einem ihrer Dialekte erkannt.

Es werden weitere Proben zur Analyse benötigt.“

Das wurde ja immer mysteriöser. Die Sprache dieser Wüstenmenschen war nicht einmal in der Datenbank.
Ob es sich um Ureinwohner handelt, irgendein bisher unentdeckter Stamm?

Aber das wohl abwegig, denn die Umrisse einer größeren Stadt zeichneten sich immer deutlicher am Horizont ab. Zweifellos war sie das Ziel dieser Karawane. Aber bis wir es erreichten, würden noch einige Stunden vergehen.

Was Lisa wohl gerade dachte? Es müsste jetzt ungefähr die Zeit sein, in der ich spätestens das Signal hätte senden sollen.
Sie kam sicher fast um vor Sorge. Doch sie konnten nichts tun, um mir zu helfen.

Die Müdigkeit nahm nun wieder überhand. Trotz des ständigen Schaukelns und der eher unbequemen Liegeposition war ich bald eingeschlafen.

Kapitel 4

Mein Schlaf war unruhig und seicht gewesen. Immer wieder schreckte ich hoch, geplagt von düsteren Vorstellungen, ungewissen Ängsten und dem Geschaukel des Wüstenschiffs.

Die Sonne stand bereits Nahe des Horizonts und die Hitze war nicht mehr so drückend wie am Mittag. Vor allem aber lag die Stadt jetzt direkt vor uns.

Die Größe der Ortschaft war beeindruckend. Sie war umzäunt von einer mittelhohen Stadtmauer, die von zahlreichen Toren durchlöchert war.
Noch bevor wir ein solches passierten, kamen wir bereits an einigen Gebäuden vorbei. Es waren allesamt kleine, einstöckige Hütten, die nicht wirklich stabil oder für die Dauer gemacht erschienen.

Männer, Frauen, aber auch Kinder begegneten uns. Teilweise waren sie auf der Straße unterwegs, die wir seit einigen Minuten befuhren, teils saßen Sie vor oder in den Häusern.
Gekleidet waren sie fast noch minimalistischer als meine Begleiter und trugen kaum Schmuck. Ich vermutete, dass es sich um einen ärmeren Bevölkerungsteil handelte. Viele von ihnen schienen Bauern zu sein, welche die Felder am nahen Fluss bestellten.

Bis auf ein paar herumtobende Kinder waren die Leute eher wortkarg und leisteten so Elisas Sprachstudien wenig Vortrieb.

Mittlerweile hatte aber etwas ganz anderes meine vollständige Aufmerksamkeit gefesselt. Ein Schauer lief über meinen Rücken.
Das Stadttor war jetzt nur noch an die hundert Meter von uns entfernt. Eine Inschrift darüber hatte meinen Blick gefesselt. Doch ich war mir nicht sicher, ob es das war wofür ich es hielt.

„Zoom“, befahl ich tonlos. Sofort wurde das Tor stark vergrößert in einem Fenster meines Sichtfelds eingeblendet. Den Visorlinsen sei Dank.
Tatsächlich! Ich hatte zwar keine Ahnung, was die Inschrift bedeutete, die Zeichen erkannte ich jedoch sehr wohl.
Es waren Hieroglyphen!

Ich brauchte Elisas Analyse gar nicht erst abzuwarten, um Ägypten als unseren Aufenthaltsort zu bestimmen.

„Der Schriftzug besteht aus altägyptischen Schriftzeichen, den Hieroglyphen. Er enthält den Namen der Stadt. Waset.
Dies ist die altägyptische Bezeichnung für Theben.“

„Ich schließe daraus, dass wir uns in Theben, Ägypten befinden.“
Oh, wirklich messerscharf, diese Schlussfolgerung.

„Des Weiteren lässt sich aus dem Erhaltungszustand des Objekts und der es umgebenden Bauten, sowie allen weiteren bereits gesammelten Informationen folgende Schlussfolgerung ziehen:

Die Lokalzeit liegt mit 98% Wahrscheinlichkeit zwischen 1600 und 1200 vor Christus. Das entspricht dem Neuen Reich des alten Ägypten.“

Mein Gott, der hatte gesessen! Wäre ich nicht festgebunden, wäre ich mit Sicherheit vom Kamel gefallen.
Vor Christus?! Das war völlig unmöglich. Der Fusionsreaktor des CERN lieferte nicht mal genug Energie für einen genauen Transfer über 500 Jahre, geschweige denn 3500!

„Wie ist das möglich?“ fragte ich und sprach es in meiner Verwirrung sogar laut aus.

„Darüber liegen keine gesicherten Informationen vor.“

„Und was ist mit den ungesicherten, irgendwelche Vermutungen?“ fragte ich jetzt wieder lautlos.

„Das Aufstellen von Vermutungen gehört nicht zu meinem Kompetenzbereich.“
Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich diese Antwort zickig nennen.

„Eine mögliche Ursache ist jedoch folgende. Angenommen es wurde für den Transfer die vorgesehene Energiemenge verwendet. Dann kann diese Zeitspanne nur durch eine extrem ungenaue Ortskoordinate erreicht worden sein.

Diese Theorie ist jedoch nur mit einer Wahrscheinlichkeit von 1,6% zutreffend, da dies der Chance entspricht, bei solchen Parametern noch in der Nähe der Erdoberfläche zu materialisieren.“

Mir wurde ganz anders. Wenn diese Theorie stimmte war es ein echtes Wunder, dass ich jetzt hier lag und nicht als schockgefrostete Leiche im leeren All umhertrieb.
Es war also die Wahrheit. Dies war das alte Ägypten, irgendwo saß der Pharao auf seinem Thron und hier unten auf dem Kamel lag ich, ein verirrter Zeitreisender aus dem 21. Jahrhundert.

Ich kam mir verdammt verloren vor. Ob ich jemals würde zurückkehren können?
Mist! Es schien nicht so. Die Basis hatte schlicht nicht genug Strom für einen solchen Transfer.

Andererseits war ich ja auch hierhergelangt. Sehr merkwürdig…
Aber nochmal würde ich mich nicht auf eine Überlebenschance von 1,6% einlassen.

Ich hoffte nur, dass Elisa die Raumzeitpeilung jetzt durchführen konnte. Dann würde sie auch den Funkkontakt zur Basis herstellen können. Elektromagnetische Signale ließen sich nämlich wesentlich leichter zwischen den Zeiten beziehungsweise Welten übertragen.
Und wenn mir einer helfen konnte, dann Lisa und ihr Team.

Inzwischen hatten wir die Stadtmauern passiert und wankten über breite Straßen einem unbekannten Ziel entgegen.

Die Bauten nahmen an Ausmaß und Prunk zu, je weiter wir in die Stadt eindrangen. Während die Hütten vor der Stadt eher bräunliche Wände besaßen und aus Lehm gefertigt schienen, war Weiß die im Inneren vorherrschende Mauerfarbe.
Es war unverkennbar, dass der wohlhabendere Teil der Bevölkerung ein Leben in der Innenstadt vorzog.

Wir überquerten eine Reihe von Kreuzungen nach den unterschiedlichsten Himmelsrichtungen. Ich konnte wir den Weg zwar nicht merken, aber es reichte ja auch, dass Elisa alles speicherte was ich sah. Sie würde den Weg zurück wissen, sollte es nötig sein.

Nun näherten wir uns einem großen Platz. Viele Stände waren dort aufgebaut, an denen Händler die unterschiedlichsten Waren anzupreisen schienen. Hier wurde nicht nur ununterbrochen diskutiert, verhandelt und gefeilscht, es schien auch das Ziel meiner Karawane zu sein.

„Ich habe auch eine gute Nachricht für Sie, Dr. Marten.“
Oh, na wenigstens etwas.

„Die Informationen über die altägyptische Sprache aus der Datenbank waren zwar sehr lückenhaft, aber mithilfe der gesammelten Sprachbeispiele konnten diese korrigiert und vervollständigt werden. Es ist nun eine Simultanübersetzung möglich.“

Das war wirklich eine gute Nachricht. So würde ich wenigstens verstehen, was die Leute mir sagten – oder über mich sagten. Auch wenn ich ihnen schlecht antworten konnte.
Natürlich könnte Elisa mir übersetzten, was ich sagen wollte und ich würde es dann vorlesen. Aber diese umständliche Möglichkeit würde ich mir für den Notfall aufsparen.

Die Karawane hatte gestoppt und einige Arbeiter kamen herbeigeeilt, um die Waren abzuladen. Mein Vordermann war inzwischen abgestiegen und wandte sich dem älteren Mann zu, der mit großen Schritten auf ihn zugeeilt kam.

„Vater, sei gegrüßt! Ich hoffe es ging dir gut in meiner Abwesenheit.
Und die Geschäfte, wie laufen sie?“

„Gut, mein Sohn, beides gut. Ich sehe du hast einiges mitgebracht.“ Dabei blickte er mich an und krauste die Nase. „Was ist das denn für einer? So weiß und merkwürdig gekleidet. Es ist hoffentlich kein fremdländischer Adliger, die sind immer so zimperlich.“

„Keine Ahnung, was das für einer ist. Lag einfach auf der Wüstenstraße, als ich ihn fand. Hatte nichts zu Trinken bei sich und war schon halb tot.“

„Egal“, antwortete der herbeigeeilte, „er wird zwar keinen hohen Preis machen, aber gib ihn zu den anderen in einen Käfig. Und gib ihm noch etwas Wasser. Wenn er tot daliegt, will ihn erst recht keiner mehr.“

Ups! Das war es also. Die Herren handelten unter anderem mit Sklaven und ich sollte als solcher verkauft werden.
Das war zwar ein wenig beängstigend, aber irgendwie auch lustig. Vielleicht lag der letzte Aspekt auch nur an den Medikamenten oder dem Hitzeschlag. Oder meine Synapsen waren schon größtenteils ausgetrocknet.
Wenigstens wartete noch etwas zu trinken auf mich.

Ich bekam kaum noch mit, wie meine Fesseln gelöst und ich in den besagten Käfig getragen wurde. Die Müdigkeit übermannte mich und nachdem ich die bereitgestellte Schale geleert hatte, schlief ich schließlich ein.

Kapitel 5

Es war schon früh hell als ich erwachte.

Das erste was ich spürte waren die Schmerzen des Sonnenbrands auf fast allen Körperteilen. Erst jetzt merkte ich, was mir das Schmerzmittel gestern alles erspart hatte.

Elisa begrüßte mich gleich mit einer netten Einblendung.

12. August 1443 v. Chr.
Uhrzeit 06:12
Temperatur 27° C, Luftfeuchte 49%

Sollten die Zeitreisen eingestellt werden, würde sie eine gute Wetterstation abgeben.

Es war jedenfalls deutlich angenehmer als gestern. Ich fühlte mich auch wesentlich frischer, wenngleich der Durst nicht weniger geworden war und ich auch gehörigen Hunger verspürte.
Außerdem musste ich mal.

Halt, Moment!
12. August 1443 hieß es dort. Das heißt, Elisa hatte die Raumzeitpeilung durchführen können!
Das war ein Hoffnungsschimmer am Horizont.

„Wie ist der Status, Elisa?“ fragte ich lautlos.

„Ich habe die Raumzeitpeilung vor einer halben Stunde abgeschlossen. Daraufhin habe ich einen kurzen Bericht an die Basis geschickt, aber noch keine Antwort erhalten. Ich wiederhole die Übertragung alle zehn Minuten.“

Wie es dort wohl gerade aussah? Ich war immerhin schon seit mehr als 12 Stunden überfällig.
Hoffentlich erhielten sie die Nachricht, Lisa würde sicher schon krank vor Sorge sein.
Wozu ja auch aller Grund bestand. Meine Rückkehr war mehr als fraglich und mein Überleben in dieser Zeit wenig sicherer. Schließlich war ich ein Sklave und dazu noch ein recht unverkäuflicher.

Der Marktplatz war noch fast leer, obwohl einige erste Händler bereits ihre Auslagen zu füllen begannen. Es gab dort allerlei Früchte und Gemüse, mir teils bekannt, teils nicht. Aber auch lebende Tiere zum Schlachten, wie Schweine oder Tauben, waren darunter.
Selbst Katzen wurden verkauft. Hoffentlich als Haustiere und nicht zum Verzehr.

Neben meinem Käfig gab es noch einige weitere. In der Hälfte davon saßen oder lagen andere Mitgefangene. Sie unterschieden sich alle mehr oder weniger von den Menschen jenseits der Gitterstäbe.
Man hielt wohl überwiegend Sklaven von fremden Völkern – wie meistens bei der Sklaverei.

Der ältere Mann, scheinbar der Vater meines gestrigen Reitbegleiters, kam gerade auf die Käfige zu. Wobei die Bezeichnung „älter“ nur im Vergleich mit dem hiesigen Durchschnittsbürger angebracht war, denn er war nicht älter als 35.

„Es ist Zeit euch frisch zu machen. Heute ist Hauptmarktag und ich will ein gutes Geschäft machen.“ Wer nicht wusste, dass der Euro noch nicht erfunden war, hätte meinen können, dass ihm die Eurozeichen in den Augen standen.

Zwar hatte ich mich bei meinen vorbereitenden Geschichtsstudien aus naheliegenden Gründen auf das 18. bis 20. Jahrhundert konzentriert, doch besaß ich auch einige Grundkenntnisse des Altertums.
Zum Beispiel wusste ich, dass es im alten Ägypten keine Währung gab und Geschäfte daher als Tauschhandel abgewickelt wurden.

Es gab eine Recheneinheit, den Deben, der eigentlich eine Gewichtseinheit war. Er diente dazu, den Wert aller Waren im Vergleich zu ihrem Gewicht in Gold, Silber oder Kupfer festzulegen.

Ob mein Preis wohl auch vom Gewicht abhängen würde?
Ich grinste in mich hinein. Sehr komisch, Phil.
Na wenigstens dein Galgenhumor ist dir noch geblieben.

Bei Zeit würde ich mein Wissen über Land und Leute mit einiger Lektüre aus der Datenbank des TTEK ergänzen.

Jetzt stand aber erst die Säuberung an. Wir wurden von einigen kräftigen Männern aus den Käfigen geholt. Wir waren zwar in keiner Weise gefesselt, doch machten die bewaffneten Wächter ihren Standpunkt auch so klar.

Die anderen schienen die Prozedur schon zu kennen und so machte ich ihnen einfach alles nach. Es standen einige Tongefäße mit Wasser bereit, die wir zur Reinigung wohl über uns gießen sollten.
Dazu mussten wir uns natürlich ausziehen, was mir auf einem Marktplatz mit einigen dutzenden Leuten nicht gerade gefiel.

Die anderen schienen damit jedoch kein Problem zu haben und waren schon fleißig in nacktem Zustand mit ihren Tonkrügen beschäftigt. Mehr als einen kurzen Seitenblick auf diese Szene traute ich mich jedoch nicht. Eine Erektion wäre das letzte, was ich bei meiner Waschaktion gebrauchen könnte.
Ich zog also Unterhose und –Hemd aus, wobei ich letzteres nicht aus dem Augen ließ. Schließlich war es beruhigend, dadurch einen gewissen Schutz vor den meisten Waffen dieser Zeit zu besitzen.

Ich genoss es, das kühle Wasser langsam über meinen Körper fließen zu lassen. Diese Erfrischung war wirklich nötig. Auch trank ich einiges davon, denn ich war immer noch durstig.
Es gab auch ein Leinentuch zum Abtrocknen. Aber nur eins, für alle vier nassen Körper. Zum Glück stand ich am linken Rand und bekam das Handtuch zuerst. Gut, dass es nicht der rechte war…

Ich sah, wie einer der anderen Sklaven in seinen Krug pinkelte, nachdem er ihn über sich geleert hatte. Ein anderer setzte sich sogar darauf, um ein größeres Geschäft zu erledigen.
So machte man das also.

Ich versuchte einfach nicht an die anderen Leute zu denken, die sich noch auf dem Platz befanden. Abgesehen davon schienen sie sich auch nicht für uns zu interessieren.
Nachdem ich mich erfolgreich erleichtern konnte, wurde ich wieder in meine vergitterte Behausung zurückgebracht.

Der Händler, dessen Sohn mich gestern aus dem Wüstensand gerettet hatte, ging jetzt zu jedem einzelnen hin und wechselte einige Worte.

Schließlich kam er auch zu meinem Käfig. „Kannst du mich verstehen?“ fragte er.

Ich schüttelte den Kopf.

„Diese Handlung war unlogisch“ tadelte mich Elisa.
Oh Phillip… Natürlich hatte sie vollkommen Recht. Wenn ich vorgeben wollte, ihn nicht zu versehen, dann war mir das gründlich misslungen.

Der Mann lachte.
„Jedenfalls verstehst du genug für einen Sklaven. Also hör gut zu.

Du kannst ein gutes Leben führen. Du bekommst Brot und Bier von deinem Herrn und wohnst auf seinem Grundstück. Du hast alles zu tun, was dein Herr dir befiehlt. Und wenn du alt bist, dann lässt er dich vielleicht sogar frei.

Wenn du ihm aber Kummer bereitest, dann wird er dich bestrafen. Wenn es sein muss auch mit dem Tode.

Hast du verstanden?“

Diesmal nickte ich.

„Gut, da ist aber noch etwas. So kann ich dich nicht verkaufen, du brauchst andere Kleidung. Zieh deine alte aus und das hier an.“
Er hielt mir ein weißes Leinentuch hin, wie es auch die anderen um die Lende geschlungen hatten.

Mist! Ich musste unbedingt vermeiden, dass mir das Unterhemd abgenommen wurde.

Der Händler musste meinen erschreckten Gesichtsausdruck gesehen haben, denn er meinte, dass es Sklaven erlaubt sei Eigentum zu besitzen und ich meine alte Kleidung behalten dürfte – nur eben nicht anziehen.

Somit beruhigt legte ich gleich den neuen Leinenschurz an. Ich musste mich dabei jedoch so ungeschickt angestellt haben, dass der Händler laut auflachte. „Du bist vielleicht ein komischer Sklave. Verstehst unsere Sprache, aber weißt nicht wie man sich anzieht.“

„Sieh hin, wie es geht.“ Er nahm seinen eigenen Lendenschurz ab und entblößte sich damit. Die Ägypter schienen im Gegensatz zu unserer Anzieh-Kultur kein Problem mit der Nacktheit zu haben.
Mit schnellen und flüssigen Bewegungen knotete er das Leinentuch wieder um seine Hüften.

Diesmal hatte ich aufgepasst und tat es ihm gleich, wenn auch nicht so elegant.

Der Händler nickte zufrieden. „Gut, als letztes brauchst du noch einen einheimischen Namen. Da du ja nicht sprechen kannst, suche ich dir einen aus. Ich nenne dich… Ameniu.“

Ameniu, das klang nett. Ich signalisierte ihm meine Zustimmung mit einem Kopfnicken.
Zufrieden wandte er sich wieder ab.

Langsam füllte sich auch der Markt mit Kundschaft. Die Ägypter schienen Frühaufsteher zu sein.

Anhand ihrer Kleidung konnte man die Besucher leicht in Gruppen einteilen. Die armen Bauern, einfache bis mittelständischen Handwerker und Gelehrte, sowie Reiche.
Wer es sich leisten konnte, trug aufwändige Seidentuniken um die Hüfte und verschiedensten Schmuck. Auch die Männer.
Selbst Armreife ähnlich den meinen bekam ich zu Gesicht, nur waren diese wesentlich kunstvoller gearbeitet und häufig aus Gold. Deshalb hatten meinen Händler die Armteile des TTEK auch nicht weiter gestört, sie waren in seinen Augen nur billiger Schmuck.

Für den Sklavenstand interessierten sich gerade nur sehr wenige Leute und alle die es taten, gehörten zu den oberen Bevölkerungsschichten. Natürlich konnten sich die armen Bauern oder einfachen Handwerker keine Sklaven leisten. Dafür kauften sie viel Brot und andere einfache Nahrungsmittel.

So interessant es auch war, das Markttreiben zu beobachten, beschloss ich lieber etwas Sinnvolles zu tun. Ich vertiefte meine Kenntnisse von Land und Leuten anhand der historischen Datenbank Elisas.



Nach ein paar Stunden beendete ich erschöpft die Lektüre. Die letzte Seite verschwamm schon fast vor meinen Augen, die angefangen hatten zu schmerzen.
Für längeres Lesen waren die Visorlinsen wohl nicht so geeignet. Das sollte fürs nächste Mal optimiert werden.

Tja, das nächste Mal. Ob es das überhaupt geben würde, nach diesem Fehlschlag? Und wenn ja, wer würde gehen? Ich fiel als Raumzeit-Gestrandeter jedenfalls aus.

Immerhin hatte mich meine Lektüre ein gutes Stück schlauer gemacht. So wusste ich jetzt zum Beispiel, dass das ägyptische Familienideal das Zeugen möglichst vieler Kinder war. Familien ohne Kinder kamen gar nicht vor und Zeugungsunfähigkeit war das Schlimmste, was einem Ägypter passieren konnte.
Abgesehen davon war die Sterblichkeit im Kindbett sowohl für die Kleinen als auch die Mütter sehr hoch. Was auch immer mir diese ganzen Infos nutzen sollten.

Der Marktplatz hatte sich nun endgültig belebt. Geschäftiges Treiben an fast allen Ständen war die Regel. Auch zu uns kamen jetzt mehr Leute und betrachteten die Ware.
Die Blicke der Leute auf der anderen Gitterseite waren mir unbehaglich, obwohl sie nicht besonders neugierig oder penetrant waren. Aber dieses zur Schau gestellt werden gefiel mir nicht.
Ob die Tiere im Zoo sich genauso fühlten?

„Taugt er denn etwas für die Gartenarbeit?“ hakte gerade ein Interessent bezüglich meines Nachbargefangenen nach. Gärten waren wichtige Statussymbole, wie ich seit meiner kleinen Recherche wusste.

Der Händler beeilte sich, jedwede Eignung des zukünftigen Sklaven zu beteuern. Er war sichtlich in seinem Element und steuerte geradewegs auf einen Verkauf zu.

„Aber versteht er sich denn auch mit Kindern, ich habe nämlich zwei Söhne und eine Tochter“, zweifelte der Kunde weiter.

„Oh, das ist hervorragend. Nameph hier ist selber Vater gewesen in seiner Heimat und kennt sich mit Kindern hervorragend aus“, säuselte der Händler.
Ich wusste nicht wieso, aber ich hatte doch meine Zweifel an seinen Worten.

„Und was verlangst du für ihn?“

„Für dich mache ich ein Sonderangebot. Nur 2000 Deben Kupfer.“

„Pah, das ist ja mehr als fünfzehn Rinder Wert sind. Und die haben wenigstens mehr auf den Rippen.“

„Dafür können die aber keine Gartenarbeit leisten. Jedenfalls keine, nach der du deinen Garten noch wiedererkennen würdest.“

„Also gut“, gab der reiche Kunde nach, „für 1000 Deben würde ich ihn nehmen.“

„Keinesfalls. Sieh nur wie muskulös er ist. Ich gebe ihn dir für 1500.“

„1300 und ich nehme ihn.“

„Abgemacht“, stimmte nun auch der Händler zu. Nun handelten sie noch eine Weile die Details aus.

Das Feilschen war also keine Erfindung der Neuzeit. Wie viel man wohl für mich zahlen würde?
Ich hoffte bloß, dass ich einen gescheiten Herrn bekam und nicht gerade die Drecksarbeit würde machen müssen.
Ich sah mich schon irgendwelche Säcke durch die Mittagshitze schleppen. Aber erst mal abwarten, vielleicht war ich ja wirklich unverkäuflich. Was dann wohl passieren würde? Sicher nichts Gutes.

Was auch immer auf mich zukommen würde, ich plante nicht länger als unbedingt nötig ein Sklavendasein zu fristen. Wenn nur Lisa endlich meine Nachricht empfangen würde. Ober vielleicht hatte sie das ja, konnte aber nicht antworten?

Ein Junge, vielleicht an die 13, kam mit einigen Schüsseln heran und setzte jedem von uns eine vor. Das Frühstück war angerichtet. Wenn man eine schlammige graue Grütze so nennen konnte.

„Was zum Teufel ist das?“

Der Junge hatte mich natürlich nicht verstanden, las aber meine Bedenken aus meiner gerunzelten Stirn.
Er lachte. „Das ist gut, meine Mutter bereitet es selbst zu. Ich esse es auch zum Frühstück.“

Wenn letzteres stimmte, konnte ich ja beruhigt sein. Immerhin machte der Junge einen sehr lebendigen Eindruck auf mich.
Aber irgendwo musste ja auch das mit den 35 Jahren mittlere Lebenserwartung herkommen…

„Die Hauptbestandteile der Mischung sind Bier und Brot“, klärte mich Elisa auf.

„Die Spektralanalyse verzeichnet noch einige andere geringdosierte Inhalte, deren Aufzählung jedoch ihren Appetit mindern könnte.
Sie sollten die Nahrung zu sich nehmen.“

Wie fürsorglich von ihr, meinen Appetit erhalten zu wollen. Vielleicht war es auch besser so.
Ich lange also zu, erst zögerlich, dann kräftiger. Okay, es war kein Gaumenschmaus, aber man konnte es durchaus essen. Und es machte satt.

Soweit gestärkt widmete ich mich wieder meiner Umgebung. Es war nur ein Kunde in der Nähe, ein Mann – oder sollte ich besser sagen Junge – von vielleicht 20 Jahren.
Anders als bei uns waren die Ägypter in diesem Alter schon verheiratet und besaßen einen eigenen Hausstand.

Der junge Mann war ein paar Zentimeter kleiner als ich und hatte kurzes, schwarzes Haar, wie die meisten hier. Ebenso war sein Oberkörper frei und muskulös. Nicht so wie bei den Leuten, die schwere körperliche Arbeit zu leisten hatten, aber auf ihre Form schienen alle Ägypter gern zu achten.
Um die Hüfte trug er das übliche Tuch, das plissiert und aus feinem Stoff gewebt war. Auch ein wenig dezenter Schmuck war vorhanden, der ihm durchaus stand.
Ich musste schon sagen, dass mit dem Schmuck für Männer sollten man auch bei uns einführen.

Jetzt ging er die Reihe der Käfige entlang und musterte jeden Insassen. Der Händler versuchte zugleich einen diskreten Abstand zu wahren und doch immer nah genug zu sein, um in den Augen seines potentiellen Kunden lesen zu können.

Als dieser mich erreichte, blieb er stehen und betrachtete mich eingehend. Sein Gesicht hellte sich merklich auf und er wandte sich zum Händler um.

„Den nehme ich“ sagte er und zeigte dabei auf mich. „Er sieht zwar nicht so kräftig aus, hat aber eine so schön helle Haut. Das ist sehr vornehm, genau das Richtige für meinen persönlichen Diener.“

Der Händler, die Reaktionen seines Gegenübers scharf beobachtend, erwiderte:
„Das freut mich, dass er dir gefällt. Aber er ist auch der Beste in meinem Sortiment und hat daher seinen Preis. 3000 Deben Kupfer.“

Obwohl ich es versuchte mir zu verkneifen, musste ich lachen. In Wirklichkeit war der Händler heilfroh einen Abnehmer für mich – den schlechtesten Sklaven in seinem Sortiment – gefunden zu haben. Daher würde bei dem Preis sicher noch einiges gehen.

Er warf mir auch einen bösen Blick zu, verlagerte sich dann aber darauf seinen Klienten mit einem seligen Lächeln einzulullen.

„Gut, ich nehme ihn.“

Das kam wirklich überraschend. Immerhin hatte mein deutlich potenter aussehender Nachbarhäftling nur einen Erlös von 1300 Deben erzielt.

Es zählten eben auch die inneren Werte.
Wobei, wenn mein Käufer von meinen Inneren Werten wüsste… Und damit meine ich nicht nur das kleine Zeitreisedilemma, sondern auch meine Homosexualität. Die stand im alten Ägypten nämlich in einem sehr schlechten Ruf, schließlich gingen keine Kinder daraus hervor. Und das war immer noch das Hauptziel ägyptischen Familienlebens.

Der Händler, zunächst ganz perplex, schien nun doch so etwas wie Gewissensbisse zu bekommen. „Er ist ein guter Sklave und hat mir keinen Kummer gemacht. Du solltest aber wissen, dass ihn die Götter mit der Krankheit der Stummen gestraft haben. Er versteht unsere Sprache, kann aber nicht sprechen.“

„Umso besser, da kann er keine Geheimnisse ausplaudern.“

Diesen Aspekt hatte der Händler noch gar nicht bedacht und er notierte ihn sich sicher gedanklich für ähnlich gelagerte Fälle in der Zukunft.

Die beiden hatten sich damit geeinigt und der Händler kam mit sichtlich erfreutem Gesichtsausdruck auf mich zu, um die Gittertür zu öffnen. „Denk an das, was ich dir gesagt habe“, flüsterte er mir noch als letzte Warnung zu.

Dann übergab er mich auch schon meinem neuen Herrn. „Der Name deines neuen Sklaven ist Ameniu. Er stammt aus dem Norden, jenseits des Meeres.“

Letzteres entsprach sogar der Wahrheit. Ob der Händler aber wirklich daran glaubte, wusste ich nicht. Er wollte nur nicht zugeben, dass er eigentlich keine Ahnung von mir hatte.

Kapitel 6

„Komm mit, Ameniu. Wir gehen zu meinem Haus und ich erzähle dir unterwegs von deinen Pflichten.“

Mein neuer Dienstherr hieß übrigens Imanuthep, wie er mir gleich zu Beginn eröffnete, wurde von seiner Familie aber einfach Manu genannt.

So gingen wir also nebeneinander die Straße entlang. Nur am umfangreichen Schmuck meines Nachbarn war der Rangunterschied zwischen uns erahnbar.
Aus der Nähe sah er übrigens noch ansehnlicher aus, als vorhin. In einer anderen Zeit unter anderen Umständen hätten wir Freunde sein können. Solche oder jene.

„Mein Vater ist Richter im Großen Haus von Theben.“
Dieses Große Haus, war in etwa vergleichbar mit einem Landesgerichtshof, wie Elisa kurz annotierte.

„Ich arbeite auch am Gericht. Es gibt viel zu tun, aber es ist eine ehrenwerte Arbeit.“

„Als mein persönlicher Diener bist du eigentlich für alles zuständig, was mit meinem körperlichen und geistigen Wohl zu tun hat.“

Er musste meinen skeptischen Blick bemerkt haben, denn er fügte lächelnd hinzu: „Also Kochen musst du nicht, oder Wäsche waschen. Du wirst dich einfach immer in meiner Nähe aufhalten, für den Fall, dass ich dich brauche.“

„Du begleitest mich auch fast überall hin. Dann kannst du ein wachsames Auge auf die Leute und die Umgebung haben, wenn ich im Gespräch verwickelt bin.

Dass du stumm bist, ist zwar auf der einen Seite schade. Aber so kann dich wenigstens Niemand mit einer Unterhaltung ablenken.“

Worin nun eigentlich meine Aufgabe bestand, war mir trotz der Erklärungen Manus nicht wirklich klar. Es schien fast, als wusste er es selbst noch nicht genau. Auch hätte ich ihn gerne gefragt, wieso er bereitwillig einen so hohen Preis gezahlt hatte. Doch das ging nun mal nicht.

Während wir seinem Domizil entgegenwanderten, besah ich mir die Gegend, die wir passierten.

Die Straßen waren nicht gepflastert, aber vom regen Verkehr geplättet. Sauber waren sie jedenfalls nicht, so dass ich eher ungern mit nackten Füßen darüber ging. Aber meine Schuhe hatte ich ja nicht mehr und es war hier so wie so üblich barfuß zu gehen. Nur in Gebäuden oder auf heißem Sand zogen die Einheimischen Sandalen an.

Wir näherten uns einem imposanten Bauwerk, das inmitten der Stadt lag. Es war offensichtlich ein Tempel und je näher wir kamen, desto größer wurden die Häuser und desto weitläufiger die Grundstücke. Die wohlhabenderen wohnten anscheinend gerne in der Nähe ihrer Götter.

Indessen waren wir vor einem zweistöckigen Haus angelangt, etwa von den Ausmaßen eines modernen Reihenhauses. Nur war es nicht ganz so hoch und hatte wie alle Behausungen hier ein Flachdach, das man sogar begehen konnte.

„Wir sind da“ sagte Manu. Und ich meinte einen Anflug von Stolz aus seiner Stimme herauszuhören.

Das Grundstück war von einer schulterhohen Mauer umgeben, um die Bewohner vor neugierigen Blicken zu schützen.
Als wir durch die Pforte traten, empfing uns als erstes ein hübscher Vorgarten. Die Ägypter hielten also tatsächlich etwas auf ihre Gärten. Ich war sichtlich erfreut von dem Anblick dieser grünen Oase, die im Vergleich zur Wüste vor den Stadtmauern geradezu trostspendend wirkte.

Manu schien sich über meine Bewunderung zu freuen und gab an, dass der Garten hinter dem Haus noch schöner sei.

„Es ist nicht so groß wie die Villa meines Vaters. Aber die liegt auch eher außerhalb und da ist einfach mehr Platz. Ich wollte aber unbedingt in der Innenstadt leben. Man ist so einfach näher dran am Geschehen.“

Das konnte ich verstehen. Meine Eltern hatten mit mir auch in einem Vorort gelebt, bis ich dann zu Beginn meines Studiums auszog. Mich zog es ebenso in die Großstadt.

Wir schritten nun durch die Eingangstür und betraten den ersten Raum. Draußen wurde es langsam wieder heißer, aber hier drinnen war es noch angenehm kühl.
Der Raum war relativ klein und besaß außer einem Wandregal und einem kleinen Abstelltischchen keine weitere Ausstattung. Er diente wohl nur als Puffer zu einem größeren Raum, in den der Hausherr zügig voranschritt.

„Das ist der Empfangsraum. Hier empfange ich meine Gäste und speise mit ihnen. Wenn ich allein bin, esse ich aber lieber auf der Dachterrasse. Dort ist es im Sommer einfach erfrischender.
Ich weiß, noch ist es kühl, aber es heizt sich schnell auf.“

Dieser Raum war nicht nur größer, sondern auch sehr behaglich eingerichtet. Neben einigen relativ niedrigen Stühlen, die zu zweit an kleinen Tischen standen, gab es einige bunte Wandverzierungen. Auch fand ich frische Blumen in kleinen Tonvasen auf den Tischen.

Ich hatte kaum Zeit, das Gesehene zu verarbeiten, da wurde der Rundgang auch schon fortgesetzt.

„Weiter hinten befindet sich die Küche, du wirst meine Köchin sicher noch kennenlernen.
Im Keller sind die Werk- und Lagerräume, da müssen wir aber nicht hin.“

Mein Führer stieg jetzt die Treppe zum zweiten Stock empor, die gleich hinter dem Empfangsraum und vor der Küche lag. Wir durchschritten einen langen Flur.

„Zur Linken liegt mein Arbeitszimmer.“

Wir betraten den Raum und ich blieb überrascht stehen.
Das Zimmer war länger als es breit war und besaß fünf kleine Fenster an der der Tür gegenüberliegenden Längsseite. An den drei anderen Wänden bedeckten Schriftrollen aus Papyrus lange Regale.
Dies war mehr eine Bibliothek als ein Arbeitszimmer.

Außerdem gab es einen größeren Tisch, der wohl zum Arbeiten gedacht war. Es waren einige Papyri darauf ausgebreitet.
In der Zimmerecke lagen auf dem Boden Matten und Kissen. Hier konnte man es sich scheinbar auch gemütlich machen.

Manu hatte mein Erstaunen bemerkt und schien sich darüber zu freuen – oder auch zu amüsieren, da war ich mir nicht so sicher.

„Die Schriftrollen zur Linken enthalten Aufzeichnungen alter Fälle meines Vaters, er hat sie mir zum Studium überlassen. Diejenigen an der rechten Wand enthalten meine Fälle, die erledigten und die aktuellen. Du siehst, sie ist noch ein wenig Leer, aber ich arbeite ja auch erst seit ein paar Jahren am Gericht.
An der Längsseite, den Fenstern gegenüber, lagern schließlich die allgemeinen Schriften. Es gibt da Texte über die Rechtsprechung, Medizin, Geschichte, aber auch Romane und poetisches.
Als Schreiber ist es von Vorteil eine eigene Schriftensammlung zu besitzen.“

Lesen und schreiben zu können war damals ein Privileg und keinesfalls selbstverständlich. Nur wer darin ausgebildet war, konnte hohe Berufe ergreifen.
Kinder wohlhabender Leute wurden alle auf die Schule geschickt, Jungen wie Mädchen. Bei den mittelständischen Handwerkern lernten immerhin einige der Jungen das Schreiben.

Plötzlich drang eine Stimme aus dem Flur zu uns.
„Manu, mit wem redest du denn da. Haben wir Besuch?“

Eine junge Frau – nein ich korrigiere – ein Mädchen, vielleicht an die siebzehn, betrat den Raum.

„Das hätte ich fast vergessen.“ ergriff jetzt Manu das Wort. „Darf ich vorstellen, das ist mein neuer persönlicher Diener, Ameniu. Ich hatte dir ja heute Morgen erzählt, dass ich mir Jemanden zulegen wollte. Ameniu, das ist Naha, meine Frau.“

Natürlich hatte Manu eine Frau, vielleicht hatte er sogar schon Kinder. Trotzdem war ich überrascht, wie jung sie war. Andererseits hatte ich ja auch gelesen, dass Mädchen hier schon ab dreizehn, vierzehn Jahren verheiratet wurden.

Naha blickte zunächst etwas irritiert, weshalb ich mich beeilte eine kleine Verbeugung vor ihr zu vollziehen. Ich wusste zwar nicht, ob das hier so üblich war. Es erschien mir aber besser als nichts zu tun, denn ein freundliches Hallo war mir nun mal verwehrt.

„Sei willkommen in unserem Haus. Möge Amun dich stärken, auf dass du meinem Mann gute Dienste leistest“, begrüßte sie mich nun. Lag es nur an Elisas Übersetzung oder wählte sie wirklich förmlichere Worte als Manu?
Es war eben ein Nachteil, die Sprache nicht direkt zu sprechen. Ich musste darauf vertrauen, dass Elisa die feinen Nuancen in der menschlichen Ausdrucksfähigkeit korrekt interpretierte.
Immerhin konnte ich den Tonfall auch so heraushören. Und der klang freundlich, aber reserviert. Eben so, wie man es im Gespräch mit deutlich niedriger gestellten zu tun pflegt.

„Du siehst nicht aus wie in diesem Lande geboren. Wo kommst du her?“ fragte sie mich im selben Tonfall.
So gern ich ihr diese Frage auch beantworten würde – natürlich nicht wahrheitsgemäß – ging es nun einmal nicht. Ich hatte mich bereits in die Position des Stummen manövriert.

Die Alternative wäre gewesen, so zu tun als wenn ich die Sprache nur schlecht beherrschte, was wegen meiner zwangsläufig schlechten Aussprache ja auch der Wahrheit entsprochen hätte. Aber dafür war es nun zu spät. Ich schwieg also und sah Manu hilfesuchend an.

„Er kommt aus dem Norden, jenseits des Meeres“, antwortete er an meiner Stelle.

„Und er kann nicht einmal für sich selbst sprechen? Sag, Diener, bist du schüchtern in Gegenwart von Frauen?“, setzte sie leicht erheitert nach.

„Er kann dir nicht antworten, weil er stumm ist, Naha. Die Götter haben ihm die Gabe des Sprechens verwehrt.“

„Das verstehe ich nicht, Manu. Was für einen Nutzen soll er dann für dich haben? Und auch noch als dein persönlicher Diener.
Du hast mir heute Morgen erst erzählt, dass du dich mit dem Gedanken trägst so Jemanden einzustellen. Und dann kommst du schon am Nachmittag mit diesem hier heim.
Hast du dich mal wieder zu vorschnell entschieden? Und wo hast du überhaupt so schnell Jemanden gefunden?“

„Mach mal langsam, Naha. Ich habe ihn gerade eben auf dem Markt als Sklaven erstanden.“

„Was?! Du machst auch noch einen Sklaven zu deinem persönlichen Diener. Es gibt so viele ehrenwerte Ägypter aus geringerem Hause, die sich um diese Stelle reißen würden.“

„Versteh doch, ich möchte niemanden von hier, die sind alle zu sehr miteinander bekannt und vernetzt. Ameniu scheint mir genau der richtige.
Und außerdem ist es eine berufliche Entscheidung, die dich gar nichts angeht. Du redest ja auch alles immer gleich schlecht.“

Mit einem wütenden Blick auf ihren Mann, verließ Naha den Raum.

Ich hatte hier wohl gerade einen ägyptischen Ehestreit mitangehört. Obwohl dieser über 3000 Jahre vor unserer Zeit lag, verlief er nicht viel anders als sein neuzeitliches Pendant.

Ich hätte mich am liebsten bei Manu entschuldigt für den Ärger, den ich ihm mit seiner Frau beschert hatte. Anstelle der Worte versuchte ich einen möglichst betroffenen Gesichtsausdruck aufzusetzen, kombiniert mit der entsprechenden Gestik.

Manu seufzte auf, als seine Frau das Zimmer verlassen hatte. „Du brauchst dich nicht zu entschuldigen, sie ist manchmal etwas schwierig. Wir sind jetzt seit einem guten Jahr verheiratet und sie ist immer noch nicht schwanger. Das ärgert sie, denn wenn sich in den nächsten Monaten in dieser Sache nichts tut, kommt sie ins Gerede der Leute.“

„Egal, nichts mehr davon. Komm, ich zeige dir noch das zweite Stockwerk. Das Zimmer hier auf der anderen Seite des Flurs meiden wir lieber. Es gehört meiner Frau.“

„Warnung! Die Belastungsgrenze dieser Treppe liegt unter dem zulässigen Grenzwert, gemäß EU-Verordnung 1-274-B.“

„Nun, damit muss ich wohl leben Elisa. Wir sind hier schließlich nicht in der EU. Solange sie nicht akut einsturzgefährdet ist, brauchst du es mir nicht zu erzählen“, zischte ich stumm zurück.

Wir beschritten also die Treppe und kamen auch wohlbehalten oben an. Brüchig sah sie nun wirklich nicht aus.

Anstatt eines langen Flurs wie im ersten Stock empfing uns hier direkt ein geräumiges Zimmer. Es gab drei Durchgänge zu weiteren Räumen an den drei anderen Wänden.

„Das ist der private Wohnbereich“, klärte mich Manu auf. Hier lagen noch mehr von den gemütlichen Kissen und Matten auf dem Boden. Die Ägypter schienen das zu lieben.
Obendrein waren die Wände mit Malereien verziert.

„Geradeaus liegt das Bad. Ich habe mir sogar eine Toilette einbauen lassen.“
Die Toiletten hatten im alten Ägypten nichts mit ihren modernen Namensvettern gemein. Der Sitz war ein Kasten, bestehend aus Kalkstein oder Holz und hatte ein Loch in der Mitte. Innen, unter dem Loch, stand ein Tongefäß. Nach dem Geschäft wurde es mit Sand bestreut.
Eine Kanalisation gab es noch nicht.

„Zur Linken befindet sich der Aufgang zur Dachterrasse und zur Rechten liegt mein Schlafzimmer.“
Er wandte sich nach rechts und durchschritt den Durchgang.

Wir gelangten in ein kleines Zimmer von vielleicht drei mal vier Metern.
„Das ist der Vorraum zu meinem Schlafzimmer. Hier kleide ich mich an.“

In der Tat waren die Regale an den Wänden mit allerlei Kleidung belegt. Die schön verzierte Truhe davor enthielt den Schmuck.

„Hier wirst du schlafen“, eröffnete er mir.
Ich war überrascht. Hier, vor seinem Schlafzimmer? Gab es dafür denn nicht irgendwo Dienerquartiere?

Er musste meine Überraschung bemerkt haben, denn er setzte rechtfertigend hinzu: „Ich möchte dich immer in meiner Nähe haben, falls ich etwas brauche. Außerdem hilfst du mir morgens beim Anlegen des Schmucks und so. Und nicht zuletzt ist es im Schlafraum der Diener schon so voll.“

Mir war es nur recht. In einem stickigen Kellerraum mit was weiß ich wie vielen anderen Leibern zu liegen, war keine verlockende Vorstellung.

Wir kehrten jetzt um und Manu zeigte mir das Bad und die Dachterrasse. Ersteres war eher als Waschraum zu bezeichnen, denn natürlich gab es kein fließendes Wasser. Im Boden war aber ein Abfluss zu erkennen, der verschüttete Flüssigkeit nach außen leitete.
Einen richtigen Spiegel gab es auch nicht, nur eine Metallplatte auf der man sich mehr schlecht als recht erkennen konnte.

Die Dachterrasse hingegen war wunderschön. Hier gab es auch einige Pflanzen und weitere Sitzgelegenheiten. Ein Leinentuch war über einige Holzstäbe gespant, so dass eine große Fläche im Schatten lag. An den Rändern war nur eine sehr niedrige Brüstung aus Holz angebracht, die nicht sehr stabil aussah.
Bevor Elisa noch irgendeine Brüstungshöhen-Verordnung auskramte, hielt ich mich lieber in der Mitte.

„Es wird Zeit für das Mittagsmahl, komm wir gehen wieder nach unten. Ich speise heute im Garten, da ist es noch erfrischend kühl.“

Wir stiegen also die drei Treppen wieder hinab ins Erdgeschoss. Unten erwartete bereits eine andere Dienerin ihren Herrn. „Das Essen ist angerichtet, Herr. Im Gartenpavillon, wie ihr es befohlen habt.“

„Gut, Jahna. Das ist mein neuer persönlicher Diener, Ameniu. Zeige ihm die Küche und gib ihm etwas zu Essen. Und stelle ihn auch den anderen vor.“

Diesmal beugte Manu eventuellen sprachlichen Verwirrungen gleich vor: „Er versteht alles was du sagst, kann aber nicht antworten, da er stumm ist.“

Jahna zeigte sich leicht irritiert, verbeugte sich aber schnell und ich beeilte mich, es ihr nachzutun. Irgendwie wollte ich einen guten Eindruck machen. Ob auf Jahna, Manu, oder beide, wusste ich nicht so genau.
Eigentlich war es mir peinlich, dass mich alle für stumm hielten, obwohl dem nicht so war. Aber es bot immer noch die einfachste Lösung.

Während der Hausherr in Richtung Garten davonschritt, folge ich dem Dienstmädchen in die Küche. Dort waren zwei andere Ägypterinnen gerade mit den letzten Vorbereitungen für das Mittagessen beschäftigt. Wie es aussah, gab es Rind mit Lauchgemüse und einem Salat.

Mir lief schon das Wasser im Mund zusammen, denn seit dem kargen Brei von heute Morgen hatte ich wieder Hunger bekommen.
Jahna stellte mich den beiden anderen Mädchen vor. Sie schienen sehr neugierig zu sein und hätten sicher tausend Fragen gestellt, wenn Jahna nicht schnell meine kleine Besonderheit angegeben hätte. Sie wies auch eine Köchin in befehlendem Ton an, mir etwas Essen zusammenzustellen.

Ich hatte fast das Gefühl, dass es hier sonst etwas entspannter zuging. Doch jetzt schien Jahna ihre Position hervorheben zu wollen, um mir gleich zu signalisieren, was ihrer und nur ihrer Zuständigkeit unterlag: Die Küche.

„Hier, das ist für dich“, sagte eine der Köchinnen und übergab mir eine Schüssel. Darin lag etwas Brot, Reste von Salat und einige allzu speckige Brocken Fleisch. Auch ein Krug Bier übereichte sie mir.

Na dann Mahlzeit. Ich hätte mir ja denken können, als Diener nicht die guten und teuren Speisen meines Herrn zu teilen. Immerhin besser als grauer Nilschlamm-Brei.
Da ich nicht wusste wohin, hockte ich mich einfach in eine Küchenecke. Mein bescheidenes Mahl nahm ich mit den Fingern zu mir. Es gab hier einfach kein Besteck, selbst der Pharao speiste mit den Händen.
Das Bier schmeckte ausgezeichnet, wenn auch deutlich anders als die modernen Gebräue.

Jahna trug unterdessen die Schalen mit Manus Essen nach draußen. Ich wunderte mich nur, wieso er nicht mit seiner Frau zusammen speiste. Ob sie ihm noch böse war wegen dem Streit?

Ich beobachtete während dem Essen das geschäftige Treiben in der Küche. Es schien bereits der nächste Gang vorbereitet zu werden. Ein Nachtisch in Form eines Obsttellers mit Feigen, Datteln und Trauben.

Als ich die Schüssel nach einigen Minuten geleert hatte waren meine Hände dementsprechend dreckig. Ich gab der Köchin die Schale zurück und hielt ihr fragend meine offenen Hände hin. Sie zeigte auf ein Tongefäß mit Wasser in einer Ecke.

Mit sauberen Händen verließ ich also die Küche. Doch kaum war ich durch die Tür, blieb ich auch schon stehen. Ich wusste ja gar nicht wohin ich sollte.
Zum Hausherrn nach draußen zu gehen wäre vielleicht nicht so klug. Er würde mich schon rufen lassen, wenn er mich sehen wollte.

Der kleine Gang, der Küche und Empfangsraum verband besaß noch eine Abzweigung nach rechts, die sofort in einer kleinen Treppe mündete. Sie führte nach unten in den Keller. Obwohl Manu vorhin meinte, dass wir hier nicht hin müssten, war ich neugierig auch diesen Teil des Hauses zu besichtigen.

Ich stieg also die Treppe hinab und fand mich in einem niedrigen Gewölbe wieder. Ich konnte kaum aufrecht stehen, war aber auch größer als viele Ägypter. Der Keller schien linear angeordnet, ein Raum folgte dem anderen.
Das Zimmer in dem ich stand war eine Art Werkstatt. Werkzeuge verschiedenster Art dienten offenbar dazu kleinere Reparaturen im Hause selbst durchzuführen. Auch ein Webstuhl war vorhanden, an dem bei Bedarf aus Faden neues Leinen gewebt werden konnte.
Zurzeit waren all diese Gerätschaften unbesetzt und ich somit der einzige hier unten.

Ich schritt voran in den nächsten Raum. Es handelte sich scheinbar um eine Lagerkammer. Neben Korn standen hier unten Fässer mit Bier und Wein. Weiterhin stapelten sich Obst, Gemüse und getrocknetes Fleisch.
Außerdem war es angenehm kühl hier unten, während es sich in den oberen Stockwerken langsam aufzuheizen begann.

Der dritte und letzte Raum schließlich war der Schlafraum der Dienerschaft. Betten gab es im Gegensatz zum herrschaftlichen Schlafzimmer keine. Nur Matten waren auf dem Boden ausgelegt.
Daraus schloss ich vor allem, dass ich ebenso auf einer Matte schlafen würde. Welch eine Ironie, dass mein heimisches Bett sicher dreifach so komfortabel war wie das des Hausherrn.
Hoffentlich würde ich einschlafen können. Wenn nicht, sollte mir Elisa eben ein leichtes Schlafmittel verabreichen, falls so etwas überhaupt vorrätig war.

In dem kleinen Raum, der vielleicht sechs schlafende Personen fasste, gab es nichts weiter zu sehen. Also kehrte ich um und machte mich wieder auf den Weg zur Treppe.

Auf halber Strecke stieß ich fast mit Jahna zusammen.

„Da bist du also! Was hast du überhaupt hier unten zu suchen?“ meckerte sie mit der Intonation einer Monarchin, deren Hoheitsgebiet von einem Eindringling verletzt wurde.
„Der Herr lässt nach dir schicken. Er ist noch im Garten, mach dass du da hinkommst.“

Das ließ ich mir nicht zweimal sagen und schlüpfte an der schmächtigen Person vorbei, die Treppe hinauf. Schnell wandte ich mich in Richtung Garten und trat durch die Terrassentür.

Eine beeindruckende Grünanlage umfing mich. Die hohen Mauern, obendrein bewachsen mit Weinranken, schützten vor neugierigen Blicken der Nachbarn. Zahlreiche Bäume von denen ich eigentlich nur die Palme beim Namen kannte spendeten Schatten. In der Mitte lag sogar ein kleiner Teich von drei Metern Durchmesser, umrandet von weißen und roten Lotusblumen. Es war idyllisch, fast würde ich sagen romantisch.
Erst jetzt konnte ich die Faszination der Ägypter für Gärten verstehen. Sie waren eine Oase mitten in der Wüste, ein Ruhepol inmitten der Stadt und ein Ort der Privatsphäre und Entspannung.

Ein kleiner Pavillon stand auf vier Säulen mit einem rebenbedeckten Dach neben dem Teich. Dort saß auch Manu an einem Tisch. Das Hauptgericht war bereits abgedeckt und durch den Teller mit Obst ersetzt worden.

„Setzt dich zu mir, Ameniu.“
Das ließ ich mir gefallen, immerhin war Manu wesentlich freundlicher als Jahna. Und wesentlich hübscher, nebenbei bemerkt. Ich ließ mich also auf dem Stuhl ihm Gegenüber nieder.

„Wie gefällt dir mein Garten?“

Ich nickte und setzte einen anerkennenden Gesichtsausdruck auf.

„Das freut mich, er hat bisher noch jedem gefallen.
Nimm dir ruhig von den Früchten, sie sind gut.“

Ich nickte erneut, diesmal dankend und bediente mich an Datteln und Trauben. Sie schmeckten wirklich gut.
„Die Trauben sind aus eigenem Anbau.“

Manu schien in Gedanken versunken. Ich betrachtete ihn und bekam etwas von dem Duft in die Nase, den er verströmte. Parfüm schien den Ägyptern nicht unbekannt gewesen zu sein.

„Manchmal wünschte ich mir fort zu reisen. Neue Länder zu erkunden und etwas von der Welt zu sehen. Ja sicher, ich habe einen guten Posten hier und es gibt keinen Grund meine Heimatstadt zu verlassen. Im Gegenteil, ich muss mich um meine Familie kümmern, wenn mein Vater zu alt zum Arbeiten ist.
Aber eben die bereitet mir auch Kummer, Naha bereitet mir Kummer.“

Ich hörte ihm aufmerksam zu. Die Stummen waren ja zwangsweise die besten Zuhörer.

„Sie redet immer nur von Söhnen und Töchtern und wie viele sie doch haben möchte. Ich würde am liebsten gar keines haben. Aber das geht nicht an, es ist schlichtweg unmöglich für eine Familie und eine Schande für meine Frau.“
Er seufzte.

„Man kann es eben nicht jedem recht machen im Leben. Vieleicht brauche ich einfach etwas Abwechslung.
Wenn morgen nichts im Gericht ansteht, dann fahren wir zur Jagd in die Wüste.“

Kapitel 7

Es war bereits Abend, als Manu von einer Nachmittagssitzung am Gericht zurückkehrte.
„Ich werde dich demnächst dort einführen, sobald du dich hier eingelebt hast“, hatte er mir versichert.

Also war ich im Haus geblieben und hatte die Umgebung von der Dachterrasse aus beobachtet, an deren Brüstung ich mich dann doch gewagt hatte. Erstaunlicherweise ohne Warnhinweis meiner VI. Die Hitze war hier oben einigermaßen erträglich, solange man sich im Bereich des schattenspendenden Leinentuchs aufhielt. Zumal es gegen Abend so wie so angenehmer wurde.
Das Tuch erstreckte sich leider nicht bis zur Brüstung und so wollte ich gerade wieder der Sonne entfliehen, als ich den Herrn des Hauses in die Straße einbiegen sah.

Ich hatte die Idee zu einem kleinen Experiment und stieg schnell die drei Treppen ins Erdgeschoss hinunter. Ich suchte Jahna und fand sie wie vermutet in der Küche. Sie saß dort auf einer Matte in der Ecke, ohne gerade etwas zu tun zu haben.
Als sie mich kommen sah, stand sie jedoch auf und sah mich fragend an.

Nun kam der schwierigste Teil des Experiments. Ich versuchte ihr mit den Händen zu erklären, dass sie das Essen für den Herrn vorbereiten sollte und zwar oben auf der Dachterrasse.
Mit zusammengekniffenen Augen sah sie mir bei meinem Erklärungsversuch zu.

Schließlich schien sie meine Anweisungen nicht nur verstanden zu haben, sondern machte sich auch daran, ihnen nachzukommen. Obwohl ihre gekrausten Lippen nicht gerade Zufriedenheit ausdrückten.

Das Experiment war geglückt. Ich schien als persönlicher Diener des Hausherrn also im Rang über ihr zu stehen. Deshalb fürchtete sie wohl um ihre Vormachtstellung in der Küche. Nun, ich hatte wirklich nicht vor, ihr diese Position streitig zu machen.
Das Versuchsergebnis war zwar interessant, aber letztlich nutzlos für mich. Weder hätte ich ihr kompliziertere Sachverhalte darlegen können, noch hätte dies irgendeinen Sinn für mich gehabt.

Ich ging zurück in den Empfangsraum und begrüßte den Hausherrn, wie man es von einem guten Diener sicher erwartete.
Sein Gesicht zeigte einen missmutigen Ausdruck, als er aus dem Vorraum kam.

„Aus dem Ausflug morgen wird wohl nichts. Ich werde stattdessen noch einige Akten studieren müssen.“

Vielleicht war das auch ganz gut so. Ich konnte mir angenehmeres vorstellen, als einen erneuten Wüstenbesuch.
Manu schien sich jedenfalls darauf gefreut zu haben und sah dementsprechend geknickt aus. Aber vielleicht gab es gab dafür auch einen anderen Grund.

Ich bedeutete ihm das Essen oben auf dem Dach aufgetragen zu haben, worauf sich sein Gesichtsausdruck wieder aufhellte.
„Ah, gut. Dann lass uns hochgehen, abends ist es dort immer am schönsten.“

Oben angekommen setzte er sich auf die Kissen. Jahna stellte gerade eine Platte mit kleinen, bestrichenen Brotscheiben auf dem niedrigen Tisch vor ihm ab. Dann entfernte sie sich wieder.

Ich wollte mich gerade ebenfalls zurückziehen, als Manu mich aufhielt.

„Setz dich doch bitte zu mir, Ameniu. Ich esse nicht gern allein. Und du musst auch hungrig sein.“

Nun, das ließ ich mir nicht zweimal sagen, denn mit dem Hunger hatte er Recht.



Ich lag auf einer mit Kissen gepolsterten Matte im Raum vor Manus Schlafzimmer. Diese Unterlage hatte er einem der Regale an der Wand entnommen und mir in die Hand gedrückt. Es hatte eine ganze Weile gedauert, bis ich damit ein Nachtlager zusammengestellt hatte, auf dem ich in irgendeiner Position halbwegs bequem liegen konnte.
Natürlich war ich in dieser Hinsicht ein verweichlichter Europäer. Aber wie sollte es auch anders sein, wenn man sein ganzes Leben lang in bequemen, weichen Betten mit kuscheliger Decke ruhte.

Apropos Decke, die gab es hier überhaupt nicht. Was bei diesen Temperaturen, es waren immerhin noch 26° hier drinnen, auch völlig in Ordnung schien.
Nur war es ein kleiner Tick oder einfach nur alte Gewohnheit, dass ich nicht ohne Decke einschlafen konnte. Ich fühlte mich dann irgendwie nackt und unvollständig.

Derart wachgehalten überdachte ich in Ruhe meine Situation.
Ich war gestrandet im alten Ägypten, die Chance zur Rückkehr hätte selbst ein Rasterelektronenmikroskop vergeblich gesucht und ich musste als Diener arbeiten.

Zwar war dies nicht mein Traumberuf, auch nicht im alten Ägypten. Aber ich würde mich solange darin fügen, bis sich ein Ausweg aus meiner Situation eröffnete. Viel wahrscheinlicher war jedoch, dass es gar keinen gab… Wenn nur der Kontakt zu Lisa endlich funktionieren würde.

Außerdem war ich, bei Lichte betrachtet, nicht in der schlechtesten Lage. Ich kam als Sklave in die Stadt und bin bereits zum Diener eines sehr netten Ägypters aufgestiegen, was irgendwie auch merkwürdig war.
Ich bezweifelte, ob Manu mit mir die richtige Wahl getroffen hatte. Wie sollte ich ihn denn als persönlicher Diener, oder Assistent wie es die Moderne nannte, unterstützen können?

Jedenfalls hätte es auch schlimmer kommen können. Steine schleppen durch die Wüste, zum Beispiel.
Mit diesem beruhigenden Gedanken fiel ich irgendwann in einen leichten, unruhigen Schlaf.



„… Sie auf, Dr. Marten. Wachen Sie auf Dr. Marten. Wachen Sie…“

Verschlafen fuhr ich von meinem Nachtlager hoch. „Ich bin ja wach! Was ist denn los, Elisa?“

„Ich habe eine Antwort von der Basis empfangen. Bereit zur Herstellung der Echtzeit-Videoverbindung.“

Schlagartig war ich hellwach. Endlich! Selbst wenn ich für immer hier bleiben musste, so würde ich doch mit der Heimat in Verbindung bleiben können.
Schnell und möglichst leise stand ich auf und verließ den Raum. Ich hastete die Treppe hoch zur Dachterrasse. Außer Atem von der plötzlichen Anstrengung bei Nacht ließ ich mich auf die Kissen fallen.

„Verbindung herstellen!“

Ein paar Sekunden lag tat sich gar nichts. Ich wollte Elisa schon fragen, was denn jetzt sei, als sich ein Sichtfenster vor mir öffnete. Natürlich war es nicht wirklich da, sondern wurde auf die Visorlinsen projiziert.

Es kam mir vor, als stünde ich in Front eines Analogfernsehers, was an dem weißen Rauschen lag, dass die gesamte Bildfläche bedeckte. Nur mühsam schälte sich die Silhouette eines Menschen hervor.

Hätte ich es nicht besser gewusst, wäre ich der Meinung gewesen, Elisa wolle die Spannung damit steigern.

Plötzlich aber nahm das Bild an Kontrast und Schärfe zu. Das Schnee-Rauschen wich satten Farben. Dr. Lisa Bolzano sah mit gespanntem und besorgtem Blick in die Kamera.

„Phillip! Geht es dir gut? Was ist passiert? Stimmen diese Daten, die du uns geschickt hast? Mein Gott, ich war krank vor Sorge um dich!“

Mit all ihren Fragen gab sie mir erst gar keine Zeit zu antworten. Aber es tat unheimlich gut, ihre Stimme zu hören. Es war das einzige, was mich jetzt mit der Heimat verband.

„Beruhige dich erst mal, Lisa. Mir geht es gut. Ich bin unverletzt und gesund.“

Lisa seufzte und die Erleichterung war ihr deutlich anzusehen. Im Hintergrund war fast das gesamte Projektteam versammelt und lauschte gespannt Lisas und meinen Worten. Denn sehen konnten sie mich nicht, schließlich war meine einzige Kamera in den Visorlinsen integriert.

„Und ja, die Daten stimmen. Ich bin tatsächlich im alten Ägypten gelandet, anstatt im 19. Jahrhundert. Ich hatte gehofft, ihr hättet eine Erklärung dafür.“

„Noch nicht Phil, aber wir arbeiten daran. Seit dem wir die Nachricht Elisas empfangen hatten, wurde ununterbrochen daran gearbeitet, den Kontakt zu dir herzustellen zu können.“

Lisa sah eigentlich schlechter aus als ich. Sie hatte seit meiner Abreise wohl nicht mehr geschlafen.

„Vielen Dank, dass ihr das für mich getan habt. Aber jetzt solltet ihr euch erst einmal ausruhen. Auch du, Lisa. Mir geht es hier soweit gut und ich bin auch nicht in unmittelbarer Gefahr.“

Lisa schien protestieren zu wollen, aber ich ließ sie nicht zu Wort kommen. „Wer übermüdet ist übersieht Dinge und macht Fehler, Lisa. Wenn ihr euch morgen auf die Suche nach dem Fehler macht, findet ihr ihn sicher leichter. Keine Widerrede.“

„Also gut, Phil. Du hast ja Recht. Gibt es sonst noch irgendetwas, was wir für dich tun können?“

„Ich fürchte nicht, ich bin 3500 Jahre entfernt und auf mich allein gestellt.“
Ich wirkte ein wenig verloren und einsam nach diesem Satz.

„Keine Sorge. Wir werden alles tun, um dich wieder zurückzuholen. Wir haben die besten Wissenschaftler der Erde hier, es wird einen Weg geben!“

Ich wusste nicht, ob Lisa aus Überzeugung sprach, oder aus Hoffnung. Es hörte sich jedenfalls gut an.

Plötzlich drang das Geräusch von Schritten auf der Treppe an mein Ohr.

„Ich mache jetzt Schluss, Lisa. Okay? Meldet euch wieder, wenn ihr etwas herausgefunden habt. Elisa soll euch einen kurzen Bericht von meinen bisherigen Erlebnissen sowie Fotomaterial schicken. Die Historiker werden sich sicher freuen.“

„Alles klar, Phil. Pass bitte auf dich auf!“

Ich nickte und beendete die Verbindung.
Die Schritte waren inzwischen näher gekommen und Jemand hatte das Dach betreten. Im Mondschein konnte ich Manu erkennen. Ich erschrak etwas, denn ich war nicht sicher, ob er mich vielleicht für mein unerlaubtes Entfernen bestrafen würde.

„Ah, hier bist du also“, sagte er und kam auf mich zu. „Ich bin eben aufgewacht, weil ich mal musste. Und da hab ich gesehen, dass du nicht mehr da warst.“

Ich entschied mich zu einer entschuldigenden Verbeugung.

Er lachte. „Das war kein Vorwurf, ich war nur neugierig.“
„Hier oben komme ich auch immer hin, wenn ich nicht schlafen kann.“

„Fehlt dir deine Heimat?“

Ich nickte mehrmals.

„Ah, das dachte ich mir. Ich könnte mir auch nicht vorstellen, von hier wegzuziehen. Auch wenn ich unheimlich gern mal auf Reisen gehen würde. Aber das ist in meinem Beruf eben nicht nötig.“

Erst jetzt merkte ich, dass es hier oben unter klarem Himmel ziemlich kühl war. Ich fröstelte sogar ein wenig, was Manu wohl auffiel.

„Dir ist ja schon kalt. Lass uns doch lieber wieder reingehen.
Außerdem brauchen wir den Schlaf, denn morgen wird ein langer Tag. Am Abend kommen Familie und Verwandte zu Besuch.“

Nickend stimmte ich zu. Hier oben gab es nichts mehr zu tun und müde war ich auch.

Unten angekommen bette ich mich wieder in mein Lager und versuchte durch drehen und winden eine hinnehmbare Position zu erreichen.
Manu, der auf seinem Bett saß, beobachtete mich grinsend durch die breite Tür.

„Du scheinst diese Art Nachtlager nicht gewohnt zu sein. Ich frage mich nur, wo du in deiner Heimat geschlafen hast.“

Auch ohne zu sprechen, konnte ich ihm diese Frage beantworten. Ich beschloss forscherweise dies auch zu tun und zeigte auf sein Bett.

Er zog überrascht die Augenbrauen hoch und erwiderte mit ehrlichem Bedauern, dass er davon leider nur eines besäße.
Das war klar, denn für einen Diener war eben keine andere Schlafgelegenheit üblich als der Boden. Überhaupt konnten sich damals nur die Wohlhabenden Betten leisten. Ich sollte also nicht so empfindlich sein. Immerhin würde ich genug Zeit haben mich daran zu gewöhnen, denn an eine schnelle Rückkehr glaubte ich nicht.

„Hmm, ich weiß eigentlich noch so gut wie nichts von dir“, sagte Manu nachdenklich mit dem Kinn auf sein Knie gestützt.

Mag sein, dachte ich mir, aber das war doch auch nicht nötig für einen Diener, oder? In dieser Hinsicht war ich nämlich froh, als stumm zu gelten. Denn so kam ich gar nicht in die Verlegenheit unangenehme Fragen nach meiner Herkunft oder meinem bisherigen Leben beantworten zu müssen.

Auf einmal streckte Manu sich der Länge nach auf dem Bauch aus, stützte das Kinn in die Hände und sagte: „Ich habe eine Idee! Ich stelle dir lauter Fragen, die du alle mit Ja oder Nein beantworten kannst. So muss ich nur die richtigen Fragen finden, um mehr über dich zu erfahren.“

Das war mir zwar nicht so recht, aber ein guter Einfall. Es erinnerte mich an ein Kinder- und Jugendspiel von zuhause, dessen Namen mir gerade nicht einfiel. Einer aus der Gruppe suchte sich eine bekannte Persönlichkeit aus, die er darstellen wollte. Die anderen mussten dann durch Fragen, auf die nur wahrheitsgemäß und mit Ja oder Nein geantwortet werden durfte, herausfinden, um welche Persönlichkeit es sich handelte.
So ähnlich war auch meine Situation. Nur dass ich noch nicht wusste, ob ich immer bei der Wahrheit würde bleiben können.

„Also… Dieser Händler meinte ja, du kämst aus dem Norden, jenseits des Meeres. Stimmt das?“
Ich nickte.

„Dann bist du vermutlich mit dem Schiff hierher gelangt?“
Wieder ein Nicken.

„Ok, aber wieso bist du zum Sklaven geworden? Warst du etwa ein Krieger?“
Diesmal schüttelte ich den Kopf.

„Oder hast du Schiffbruch erlitten?“
Das hörte sich gut an. Ich quittierte mit einem Nicken.

„Alles klar. Aber wir sind hier im oberen Teil des Landes, das Meer ist über 500 Kilometer entfernt. Also musst du irgendwie hier hoch gekommen sein… Seit ihr mit dem Schiff vielleicht den Nil aufwärts gefahren, bis hier in die Nähe?“

Das bestätigte ich.
Insgesamt lief die Fragestunde besser als ich dachte. Mit seinen Fragen erfand Manu unwissentlich eine passende Hintergrundgeschichte für mich. Wie praktisch.

„Hattest du eine Familie?“ wechselte Manu das Thema.
Ich war mir nicht sicher, was er damit meinte. Natürlich hatte ich eine Familie im Sinne von Eltern. Aber ich hatte das Gefühl, dass er eher auf Frau und Kinder hinauswollte. Ich schüttelte deshalb den Kopf.

„Wie alt bist du denn? Ich bin zwanzig.“

Ich zeigte zwei Mal meine beiden Hände vor und dann vier Finger der rechten Hand.

„Vierundzwanzig! Und da bist du noch nicht verheiratet?
Aber im Nachhinein ist es wohl gut so, sonst hättest du sie zurücklassen müssen.“

„Würdest du in dein Land zurückkehren wollen?“
Natürlich wollte ich das, stimmte also zu. Es war sicher nicht verkehrt, so weit wie möglich bei der Wahrheit zu bleiben.

Er schien eine Weile sehr nachdenklich dazusitzen und in seine Augen trat ein trauriger Ausdruck.

„Ich möchte nicht, dass du unglücklich darüber bist, hier zu sein“, sagte er schließlich. „Du könntest zur Küste reisen und ein Schiff nach deiner Heimat nehmen.“

Das war ein erstaunlicher Vorschlag. Abgesehen davon, dass er völlig unnütz für mich war, hätte ich eine solche Großzügigkeit, ja solches Mitgefühl, nicht erwartet. Er hatte mich doch gekauft, damit ich ihm zu Diensten sein konnte.

Betrübt aber bestimmt schüttelte ich den Kopf. Hier hatte ich ein Dach über dem Kopf, etwas zu Essen und einen gewissen Schutz. Zurzeit gab es keinen Grund für mich, das aufzugeben.

Manu schien sichtlich erfreut, dass ich mich zum Bleiben entschied, wurde aber schnell wieder nachdenklich.
„Darfst du etwa nicht mehr zurückkehren? Vielleicht weil du bei deinem Auftrag versagt hast?“

Das schien mir eine plausible Erklärung zu sein. Anders hätte es ja keinen Grund für meine Ablehnung gegeben. Also nickte ich.

„Das tut mir leid.“

„Aber hier ist es wirklich nicht schlecht“, fuhr er lächelnd fort, „es ist eine schöne Stadt und die Menschen sind nett – jedenfalls die meisten.“

Die Aufregung über den Kontakt zur Heimat hatte sich mittlerweile gelegt und ich war einfach nur müde. Das sah auch Manu an meinem Gähnen, worauf er die Fragestunde beendete und mir noch eine gute Nacht wünschte.

Ich lag noch eine Weile da und grübelte über dies und das. Schließlich schlummerte auch ich wieder ein.

Kapitel 8

Als ich am nächsten Morgen erwachte, schien bereits die Sonne durch das kleine Fenster in Manus Schlafzimmer. Der Inhaber der Zimmers lag aber nicht mehr darin.

Nun, ein guter Diener sollte wohl früher oder wenigstens nicht später als sein Herr aufstehen. Aber dass es Manu mit meinen Dienerpflichten nicht so genau nahm und alles in allem ein sehr angenehmer Dienstherr war, hatte ich ja bereits gemerkt.

Ich stand also auf und rückte meine spärliche Bekleidung zurecht. Dumm nur, dass es hier keinen Spiegel gab. So musste ich mich beim Richten meiner Haare auf mein Gefühl verlassen.
Zuhause trug ich immer ein wenig Gel in den Haaren. Für die Reise waren sie aber in ihrer natürlichen Form belassen worden, da es im 19. Jahrhundert noch kein Gel gab. Hier natürlich auch nicht.

Da fiel mir ein, dass es ja im Badezimmer so etwas wie einen Spiegel gab. Für einen Diener war es kaum üblich den zu benutzen, aber Manu hätte sicher nichts dagegen. Er schien überhaupt ein sehr liberaler Ägypter zu sein. Andererseits war er auch der einzige Ägypter, den ich bisher näher kennengelernt hatte.

Nach einer kurzen Visite im Bad, bei der ich mein Haar notdürftig in Ordnung brachte, machte ich mich auf die Suche nach Manu. Mein erster Versuch, die Dachterrasse, schlug fehl und so probierte ich es im Garten.
Dort saß er tatsächlich, auf demselben Platz wie schon gestern Mittag.

Ich erwischte mich dabei, wie ich meinen Atem überprüfte, bevor ich hinaustrat. Dumm, dass ich mir hier nicht die Zähne putzen konnte. Den Beinamen Zeit-Reisenecessaire des TTEK sollte man in Zukunft vielleicht wörtlicher nehmen.

„Ameniu, da bist du ja, du Langschläfer“ begrüßte er mich.
Eigentlich glaubte ich von mir ein Frühaufsteher zu sein. Und es war immerhin erst acht Uhr.

„Ich sitze schon seit einer halben Stunde hier unten und bin gerade mit dem Frühstück fertig geworden. Naha ist auch schon weg, in die Stadt.
Meistens stehe ich so gegen halb acht auf. Aber ich wollte dich noch nicht wecken, du hast ja weniger Schlaf bekommen als gut ist. Und das war nicht zuletzt meine Schuld.“

Ich winkte ab. Dass ich wenig Schlaf bekam, war in den letzten Monaten eher die Regel gewesen.

„Iss erst mal etwas in der Küche. Du findest mich dann im Arbeitszimmer.“
Er seufzte. „Ich muss eine Menge Akten sichten.“

Ich ging also in die Küche. Jahna war nicht da und das war auch gut so. Stattdessen verrichteten die zwei Köchinnen vom Vortag wieder ihren Dienst.
Da sie von mir keine weitere Notiz nahmen suchte ich mir selbst etwas zusammen. In einer Schüssel stand ein frisch zubereiteter Brei, den Elisa auf meine Anfrage hin als Gerstenbrei identifizierte. Ich tat mir davon etwas in eine Schale und garnierte das Ganze noch mit ein paar Beeren.

Es war zwar keine Delikatesse, aber es machte satt und schmeckte gar nicht mal so übel. Nur diesen Brei mit den Fingern zu Essen fand ich sehr gewöhnungsbedürftig.
Nachdem ich die Schale geleert und meine Finger gereinigt hatte, machte ich mich auf den Weg zu Manus Arbeitszimmer.

Oben angekommen, fand ich ihn über eine Schriftrolle geneigt am Arbeitstisch sitzen.
Interessiert betrachtete ich die Schriftzeichen. Es waren keine Hieroglyphen, sondern eine Art Schreibschrift, das Hieratische. Die aufwändige Hieroglyphenschrift nutzen die Ägypter nur für religiöse Verzierungen.

„Ah, da bist du ja. Ich werde hier wohl eine Weile zu tun haben.
Für den aktuellen Fall meines Vaters muss ich jede Menge alte Prozessakten sichten.
Es geht um eine Unterhaltsforderung nach der Scheidung. Allerdings besteht der dringende Verdacht, dass die Frau ihrem Mann untreu gewesen ist.
Und jetzt muss ich alle ehemaligen Verhandlungsprotokolle durchsehen, ob es vielleicht einen ähnlich gelagerten Präzedenzfall gegeben hat.
Mein Vater geht davon aus, kann sich aber nicht an den Namen des Richters erinnern. Und danach sind die Papyri geordnet. Ich muss also knapp 300 Schriftrollen sichten.“

Ein Stapel davon lag bereits auf dem Tisch. „Wenn ich mit denen da fertig bin, kannst du sie wieder einräumen und den nächsten Schwung holen.“

Ich zog einen Stuhl heran und setzte mich. Es tat gut, mal wieder ein echtes Möbelstück unter sich zu spüren. Auch wenn die kissenbelegten Bodenmatten recht bequem waren, sie waren deutlich niedriger als man bei uns längere Zeit zu sitzen oder liegen gewohnt war.

Neugierig nahm ich eine Papyrusrolle vom Stapel und rollte den Anfang aus. Auch ohne es ihr mitzuteilen war Elisa klar, dass ich diesen Text lesen wollte und sie blendete mir die Übersetzung über den Originalzeichen ein.
Ich überflog den Titel und die ersten Zeilen. Es ging um einen Verbrecher, der in das Haus eines gewissen Pathotep eingebrochen war.
Sicher nicht das, was Manu benötigte.

Als ich die Schriftrolle wieder weglegte, bemerkte ich wie er mich erstaunt ansah.
„Kannst du etwa lesen, Ameniu?“

Oh, das hatte ich nicht bedacht. Aber wieso ihm die Wahrheit verschweigen, es war ja keine Schande lesen zu können. Ich nickte also.

„Aber das ist ja großartig!“ Manu war sichtlich erfreut über diese Entdeckung. „Ameniu, einen besseren Diener als dich hätte ich mir wirklich nicht vorstellen können.“
Ich fühlte mich ernsthaft geschmeichelt von diesem Lob.

„So wird es natürlich viel schneller gehen. Wir sehen die Rollen gemeinsam durch. Und wenn du eine findest, die zum Thema passt, dann legst du sie mir hin.“

Ich nickte erfreut, denn es gab endlich etwas, das ich für meinen Retter tun konnte. Und nichts anderes war Manu für mich, denn ohne ihn wäre ich immer noch in den Fängen der Sklavenhändler – oder schlimmeres.

Stück für Stück, Stapel für Stapel arbeiteten wir uns durch das Amtsgeschreibsel. Ein regelrechter Papierkrieg. Oder wohl eher Papyruskrieg.

Theoretisch hätte ich den Vorgang noch stärker beschleunigen können. Anstatt selber die Einleitungen der Gerichtsprotokolle zu lesen, hätte Elisa Sekundenbruchteile nach Aufrollen des Papyrus entscheiden könne, ob er das gesuchte Thema behandelte.
Das Verbot sich natürlich von selbst. Manu käme sonst noch zu der Meinung, ich läse die Schriftstücke überhaupt nicht.
Außerdem war es interessant zu wissen, mit welchen Problemen sich die ägyptische Judikative so herumschlug. Das Rechtsystem musste jedenfalls gut ausgeprägt gewesen sein.

Um zwei Uhr nachmittags, nach über fünf Stunden Arbeit, waren alle Papyri gesichtet. Nur zum Mittagessen hatten wir kurz Pause gemacht.
Insgesamt waren drei Dokumente dabei herausgekommen, die Manu morgen seinem Vater mitbringen wollte.

„Puh, das wäre geschafft. Und es ist erst zwei Uhr. Die Gäste heute Abend kommen frühestens um Sechs.
Also noch genug Zeit, um den eigentlich geplanten Jagdausflug wieder aufzugreifen.“

Obwohl mich diese Idee nicht wirklich begeisterte, schien sich Manu darauf zu freuen. Und das steckte mich doch irgendwie an.



Zu unserer Rechten erstreckte sich ein Felsmassiv, in dessen Schatten wir sein einer Viertelstunde gefahren waren.
Meine Befürchtungen auf einem weiteren Kamelrücken – nur diesmal in sitzender Lage – durch die Hitze schaukeln zu müssen, hatten sich nicht erfüllt.
Stattdessen saßen wir auf einem kleinen Wagen, der von zwei Pferden gezogen wurde und seine Insassen mittels eines gespannten Leinentuchs vor der Sonne schützte. Das altertümliche Äquivalent zum klimatisierten Reisebus.

Nur dass es keine Wände gab, denn der Wagen war zu allen Seiten hin geöffnet. So konnte der Jäger stets nach potentieller Beute Ausschau halten.
Bisher war allerdings noch nichts zu sehen und so kam das mitgeführte, beachtliche Jagdinstrumentarium noch nichts zum Einsatz. Darunter waren vor allem Speere, Bumerang-artige Wurfinstrumente, sowie Pfeil und Bogen.

Letztere in doppelter Ausfertigung. Vermutlich diente das zweite Exemplar als Ersatz, falls das erste beschädigt würde.

Außer Manu und mir waren noch ein anderer Diener als Wagenlenker und eine der Küchenmägde mit von der Partie.
Die Magd würde wohl für das Bearbeiten erlegter Tiere zuständig sein. Ich konnte mir gut vorstellen, dass diese bratfrisch den am Abend erwarteten Gästen vorgesetzt würden.

Wenn es nach Elisas Datenbank ging, dann war Jagen eine äußerst beliebte Freizeitbeschäftigung der Ägypter. Ich verstand zwar immer noch nicht recht, was daran so toll sei, aber Manu schien voll in seinem Element.
Er huschte von einer Wagenseite zur anderen und spähte in die Wüste hinaus, aber auch zur Felswand hin. Dort gäbe es natürlichen Unterschlupf für manche Tiere, hatte er mir erklärt.

Doch die schienen sich entweder verkrochen zu haben, oder einen ausgedehnten Ausflug zu unternehmen, denn Manu hatte noch nichts gesichtet.

„Du sitzt da ja nur so rum, Ameniu. Wenn du zuhause auch so gejagt hast, wirst du wohl kaum etwas gefangen haben.“

Nun, zum einen hatte ich zuhause gar nicht gejagt und zum anderen war das hier doch seine Jagd, nicht meine.
Aber wenn er unbedingt wollte, dass ich mich daran beteiligte, so würde ich das auch tun.

„Ich würde sagen, wir machen eine Wette. Wer als erster etwas findet.“

„Aber Nagetiere und Geier zählen nicht“, setzte er lachend hinzu.

Also gut, er hatte es so gewollt. Jetzt würde ich mich anstrengen und zusehen, ob ich die Wette gewinnen konnte.
Ich begann also ebenfalls mit angestrengten Augen die Umgebung abzusuchen.

Da hatte ich eine noch viel bessere Idee. Lautlos wies ich Elisa an, alle Lebenszeichen in unserer Umgebung zu erfassen und ihre Position zu markieren. Ausgenommen Vögel und Kleintiere.

Sekunden später war mein Sichtfeld mit mehreren Markierungen angereichert.

„2x Luchs – 214m“ prangte an einem vorausliegenden Punkt der Felsenkette, an der wir uns entlang bewegten.

„1 Stier – 1,34km“ war irgendwo in Richtung Wüste zu lesen. Okay, das war zu weit.

Ohne auf weitere Markierungen zu achten, entschied ich mich für die Luchse. Wir näherten uns deren Position nämlich immer mehr und es stand zu befürchten, dass auch Manu sie früher oder später entdecken würde.

Ich tippte ihm auf die Schulter und zeigte in die entsprechende Richtung. Er starrte angestrengt dorthin.

„Ich sehe da nichts, bist du dir sicher?“

Natürlich war ich mir sicher, was ich auch mit einem absolut souveränen Nicken kundtat. Nebenbei bemerkt, sah ich auch nichts.

Wir waren keine fünfzig Meter mehr entfernt, als die beiden Tiere hinter einem Felsvorsprung zum Vorschein kamen. Sofort ließ Manu den Wagen halten, der bereits bis hierhin im geräuscharmen Tempo gefahren war.
Die Tiere hatten uns noch nicht bemerkt.

Manu betrachtete die Situation. „Es sind zwei. Ich nehme den linken, du den rechten. Wir müssen gleichzeitig schießen, sonst entkommt uns einer.“

Wie bitte?! Ich sollte schießen. Mit Pfeil und Bogen?
Also war der zweite wohl nicht nur als Ersatz gedacht.

Okay, jetzt hieß es Konzentration. Unser Physiklehrer hatte in der letzten Stunde vor den Ferien mal einen Bogen mitgebracht. Und auf einem Campusfest hatte ich erneut das Vergnügen mit solchen Schießübungen gehabt.
Aber im Gegensatz zu diesen hier, waren das irgendwelche Aluminiumfabrikate gewesen. Und obwohl das Ziel unbeweglich war, hatte ich eher schlecht als recht getroffen.

Manu hatte sich seinen Bogen und den Köcher gegriffen und war ausgestiegen. Er pirschte sich langsam in der Hocke an das Ziel heran.
Ich beeilte mich, es ihm nachzutun.

Schließlich schien es ihm nah genug zu sein und er hielt. Ich hingegen fand die Entfernung viel zu weit.

Langsam spannte Manu seinen Bogen mit einem Pfeil aus dem Köcher. „Wo bleibst du?“

Schnell langte auch ich nach einem Pfeil und legte ihn auf den Bogen. Ganz so wie er es zuvor getan hatte. Auch die Haltung versuchte ich bei ihm abzugucken.
Wahrscheinlich war es trotzdem fürchterlich falsch. Gut nur, dass er gar nicht hinsah. Er war damit beschäftigt das Ziel anzuvisieren, was ich nun auch tat.

„Trefferwahrscheinlichkeit 28%“, war Elisas ernüchternder Kommentar. „Optimierungsvorschläge: Zielen Sie fünf Zentimeter höher. Spannen Sie den Bogen zehn Zentimeter stärker.“

Ich beeilte mich, diese segensvollen Hinweise in die Tat umzusetzen. Das Spannen des Bogens war jedoch ganz schön kraftaufwändig und führte dazu, dass meine Zielführung schwammiger wurde.

„Also Ameniu, wir schießen auf Drei.“

Trefferwahrscheinlichkeit 43%.“ Na immerhin. Ich hatte mich gebessert.

„Eins… Zwei… Drei!“ Ich ließ den Pfeil los, Manu ebenso.

Sekundenbruchteile später flog einer der Luchse durch die Luft, der andere stob davon.

„Sie haben das Ziel um 1,6 Meter verfehlt“, bemerkte Elisa und klang dabei wie ein Navigationsgerät.
Aber gut, dass sie mich darauf hinwies. Ich hätte nicht sagen können, wer welches Tier nun getroffen hatte.

Manu schien da das geübtere Auge zu haben. „Mach dir nichts draus“, sagte er, als wir an den erlegten Luchs herangekommen waren. „Du hast ihn nur knapp verfehlt, das passiert selbst den besten Schützen.“

Das klang schon fast wie ein Lob. Dabei war ich auf der Schützen-Skala nicht einmal in der Nähe von gut.

Die Köchin war mittlerweile herangekommen und freute ich sich über die Ausbeute.
„Der Herr hat gut geschossen. Das wird für die Vorspeise reichen.“

Das fand ich auch, dass der Herr gut geschossen habe. Besser als ich jedenfalls.

Während wir zum Wagen zurückgingen, machte sich die Magd daran das Tier auszunehmen. Ihren geübten Handgriffen folgte ich aber nicht weiter, denn der Vorgang war eher unappetitlich.

Manu schenkte derweil zwei Bierkrüge aus einem Tongefäß voll.
„Ein Jagderfolg muss auch gefeiert werden.“

Wirklich kühl war das Bier zwar nicht mehr, schmeckte aber immer noch. Es stieg mir nur etwas zu Kopf, was wenig verwunderlich war bei dieser Hitze.

Endlich war auch die Köchin mit ihrer Arbeit fertig und sprang wieder auf. Daraufhin setzten wir die Fahrt fort. Der Fahrtwind kühlte ein bisschen.

„Als nächstes kommen wir an eine kleine Oase. Da gehen viele Tiere zur Tränke“, meinte Manu.
Sollte mir recht sein, Oase hörte sich immer gut an.

Keine zehn Minuten später kam der grüne Fleck inmitten der Wüste in Sicht. Es war eine Ansammlung von Palmen, die sich um einen kleinen Tümpel gruppiert hatten. Gras bedeckte den Boden.
Lange bevor wir die Stelle erreichten, wusste ich um eine Gruppe Stiere, die das kühle Nass genossen.

Da wir jetzt wieder in der Sonne unterwegs waren, dankte ich dem Konstrukteur im Stillen für den Sonnenschutz am Wagen. Ich hatte wenig Lust, mir meine Haut erneut zu verbrennen.

Kurz vor den ersten Palmen ließ Manu halten. Von hier aus wollte er sich zu Fuß anpirschen, um eventuelle Beute nicht zu verschrecken. Von den Stieren wusste er natürlich noch nichts, denn die Palmen versperrten die Sicht auf den innenliegenden Tümpel.
Umgekehrt hatten uns also die Tiere also auch nicht kommen sehen.

Fröhlich schnappte sich Manu einen Speer und schnallte Bogen und Köcher auf den Rücken. Er sprang vom Wagen und sah mich erwartungsvoll an.
War ja klar, dass ich wieder mitkommen sollte. Ich fragte mich, ob das Jagen an der Seite seines Herrn wirklich zu den Aufgaben eines persönlichen Dieners gehörte?
Aber ich wollte ihn schließlich nicht verstimmen und rüstete mich ebenfalls aus.

Insgeheim hoffte ich, dass die Tiere uns bemerken und reißausnehmen würden. Denn zum einen fand ich die Ansammlung von vier Stieren schon etwas bedenklich und zum anderen hatte ich noch nie einen Jagdspeer in der Hand, geschweige denn benutzt.

Geduckt schlichen wir durch das Gebüsch. Manu ging voraus, ich folgte. Eine gewisse Spannung und ein Hauch von Abendteuer war der Sache nicht abzusprechen.

Plötzlich gab er mir ein Zeichen anzuhalten. Auf allen Vieren schloss ich zu ihm auf.
„Da vorne sind vier Stiere, siehst du!“, flüsterte er mir ins Ohr.

Sein Atem prickelte angenehm an meinem Ohr. Als er weiter sprach, begann sich das Prickeln auch auf andere Körperteile auszuweiten.
Schnell konzentrierte ich mich wieder auf die Situation, um unangenehme Reaktionen meines Körpers zu vermeiden.

Aber ich gab zu, dass es etwas aufregenden hatte, dicht neben Manu im Gebüsch zu kauern. Fast schon etwas Erotisches.
Oh Mann, ich musste schon einen Hirnschaden durch die Hitze erlitten haben, um einer Jagd inmitten der Wüste etwas Erotisches zuzugestehen.

Während meiner Träumerei hätte mein Gehirn fast vergessen, Manus Worte zu verarbeiten.
„Wir nehmen den vordersten. Erst schießen wir mit dem Bogen, dann gleich hin und mit dem Speer nachsetzten“, hatte er gesagt.

Ich überlegte kurz, ob ich richtig gehört hatte. Er wollte doch diese Herde von gefährlich aussehenden Biestern nicht etwa angreifen?
Ich setzte ein fragendes Gesicht auf und zählte ihm die Zahl Vier an meiner rechten Hand vor.

Er lachte nur.
„Keine Sorge, sobald die Pfeile ihr Ziel treffen, hauen die anderen ab. Wir müssen uns nur mit dem einen herumschlagen.“

Das schien mir schon gefährlich genug. Aber ich vertraute in dieser Hinsicht einfach auf seine bisherige Jagderfahrung.
Ich hoffte nur, er würde nicht zu stark auf meine Hilfe setzten. Denn ob ich ihm wirklich eine sein würde, bezweifelte ich.

„Wieder auf drei“, legte er fest und spannte seinen Bogen. Geschwind tat ich es ihm gleich und versuchte Elisas frühere Anweisungen diesmal direkt zu berücksichtigen.
Auch hatte ich festgestellt, dass mein Pfeil bei den Luchsen etwas zu kurz gekommen ist, also setzte ich das Ziel noch ein Stück höher an.

„Trefferwahrscheinlichkeit 74%“
Das hörte sich gut an. Ob die gestiegenen Chancen an einem besseren Umgang mit dem Bogen, oder einfach nur an der gesteigerten Größe des Ziels lagen, blieb unklar.

„Eins… Zwei… Drei!“
Wieder ließ ich den Pfeil los. Er zischte in Richtung der Tiere davon.
Die Bogensehne schnellte zurück und streifte mich dabei am Unterarm.
Autsch! Das gab sicher einen Bluterguss.

Viel Zeit mein Missgeschick zu betrauern blieb mir nicht. Manu war bereits aus der Deckung gesprungen. Er rannte in Richtung der Tiere.
Beide Pfeile hatten das Ziel getroffen und als der verwundete Stier sich aufbäumte, waren die anderen wild auseinandergestoben.

Der verletzte Stier hatte ebenfalls angefangen sich davon zu machen, blieb aber beim Anblick des auf ihn zustürmenden Ägypters stehen. Das Tier brüllte. Es scharrte mit den Hufen und stürmte direkt auf Manu zu.
Verdammt! Manu ließ sich nicht beirren und hielt weiter auf die wild gewordene Bestie zu, den Speer hoch erhoben. In wenigen Sekunden mussten sie aufeinander treffen. Der Stier würde ihn mit seinen Hörnern durchbohren!

Ich war nur ein paar Meter von ihm entfernt, erreichte ihn aber nicht, da er mindestens genauso schnell rannte.
Auf einmal stolperte Manu über einen Stein. Er schrie auf und schlug der Länge nach hin. Der Stier ließ sich nicht beirren und hielt weiter auf ihn zu.

Er würde ihn jede Sekunde erreichen und einfach zertrampeln.

Ohne Nachzudenken rannte ich schräg von der Seite her auf das rasende Tier zu und rammte ihm mit aller Kraft meinen Speer in den Hals.
Der Stier gurgelte und kam von seiner eingeschlagenen Richtung ab. Knapp verfehlte er den am Boden liegenden Körper und brach wenige Meter danach selbst zusammen.

Schnell saß ich neben Manu und blickte ihn besorgt an. Hoffentlich hatte er sich nichts gebrochen bei seinem Sturz. Ich wusste nicht in wie weit die Medizin dieser Zeit bereits in der Lage war solche Gebrechen zu heilen.

„Es geht mir gut, glaube ich“, brachte er mit leicht zittriger Stimme hervor. „Nur ein Paar Schürfwunden. Aber wenn der Stier… Du hast mich im letzten Moment gerettet, Ameniu.“

Langsam stand er wieder auf. Er war zwar noch etwas wacklig auf den Beinen, schien sich aber wirklich nichts gebrochen zu haben.

Völlig unerwartet kam er auf mich zu und umarmte mich.

„Vielen Dank. Du hast mir wahrscheinlich das Leben gerettet.“
Ich war gerührt und erwiderte die Umarmung nur zu gern. Seine innige Berührung fühlte sich einfach schön an.

Ich wusste nicht genau, wie lange wir schon so dagestanden hatten, als ich mir dessen bewusst wurde und schnell die Umarmung löste. Ich wurde sogar ein wenig rot.

Phillip, beherrsch dich! Du hast es hier mit einem verheirateten Mann aus einer völlig anderen Zeit zu tun.
Manu indessen schien die lange Umarmung nicht peinlich gewesen zu sein. Wieder deutlich entspannter, schlug er vor zum Wagen zurückzukehren, damit das Tier ausgenommen werden könne.

Beim Wagen angekommen, schickte er die Magd los und wies den Kutscher an, ihr bei dem Großwild behilflich zu sein.
Ich machte mich derweil auch nützlich und schenke uns von dem Bier ein. Es war inzwischen zwar alles andere als kalt, aber das war mir herzlich egal.

Von der Aufregung und dem Adrenalinschub noch etwas gestresst, lehnten wir an der niedrigen Wagenwand und schlürften das Bier.
„Das haben wir uns aber echt hart verdienen müssen“ bemerkte Manu. Ich nickte schwer.

Kapitel 9

„Kommst du mal, Ameniu?“
Ich war gerade dabei, die kleinen Tische im Empfangsraum mit einigen Blumen zu dekorieren, als Manu mich von oben her rief.

Ich hätte zwar gerne „einen Moment noch!“ erwidert, aber da das nicht ging, ließ ich den Strauß liegen und stieg direkt die Treppen hoch.
Da sich im ersten Stock kein Manu blicken ließ, war er wohl noch höher zu finden. Und tatsächlich, er stand noch am Treppenabsatz, als ich oben ankam.

„Ich würde gern noch duschen, bevor die Gäste in einer Stunde eintreffen. Hol doch bitte unten aus der Küche zwei Krüge warmes Wasser.“

Das war natürlich die Voraussetzung für eine Dusche, denn Wasserhähne samt den nötigen Leitungen waren noch nicht erfunden. Alles Wasser kam also aus Brunnen.

Ich machte mich also wieder auf den Weg nach unten.
Jahna war mit den beiden Köchinnen gerade dabei das Fleisch zu bearbeiten. Den Stier würde es nämlich als Hauptgericht geben.

Aber ich konnte mich auch selbst zurechtfinden.
An einer Wand standen mehrere Tonkrüge mit Wasser. Es schien sich um frisches zu handeln, das irgendwer von einem nahegelegenen Brunnen angeschleppt haben musste.
Was ein Glück, dass diese Arbeit nicht zu meinem Aufgabenbereich gehörte.

Manu hatte warm gesagt, also stellte ich zwei der Krüge auf die Feuerstelle an der Stirnseite der Küche. Diese war nach außen hin geöffnet, so dass der Rauch abziehen konnte. Außerdem schien sie immer in Betrieb zu sein, wenn auch auf kleiner Flamme.

Eine gefühlte Ewigkeit und zahlreiche Finger-ins-Wasser-halt-Tests später war eine angenehme Temperatur erreicht. Da ich nicht beide Krüge auf einmal tragen konnte, beförderte ich sie nacheinander ins Badezimmer.

Nachdem ich den zweiten Krug abgestellt hatte, prüfte Manu die Temperatur und zeigte sich zufrieden. In den ersten hatte er bereits irgendein Reinigungsmittel gegeben, denn das Wasser schimmerte trüb.
Meine Arbeit hier war also getan. Ich würde mich wieder um die Blumendekoration kümmern.

Ich war gerade dabei das Bad wieder zu verlassen, als er mich zurückhielt.

„Wo willst du denn hin? Soll ich mir das Wasser etwa selber über den Kopf gießen?“, lachte er.
„Wie soll ich mich dann gleichzeitig abreiben?“

Ich brauchte einen Moment, um den Sinn seiner Worte zu verarbeiten. Ich sollte also hier bleiben und ihn mit dem Wasser übergießen?
Das wäre mir im Traum nicht eingefallen, schließlich war man in der häuslichen Dusche unserer Zeit für gewöhnlich allein. Aber da kam das Wasser ja auch aus der Brause, insofern war Manus Einwand gerechtfertigt.

Ein angenehmes Prickeln lief mir den Rücken herunter. Ich konnte mir schlimmeres vorstellen, als einen Schnucki wie Manu mit Wasser zu übergießen und dabei zuzusehen, wie er sich einseift.

So ein Mist! Anstatt mich mit solchen Vorstellungen heiß zu machen, würde ich aufpassen müssen meine Erektion zu verbergen. Denn die würde keinesfalls ausbleiben.

„Los geht’s!“ verfügte Manu vergnügt. „Fang mit dem Seifenwasser an.“
Dabei ließ er das Leinentuch von seinen Lenden gleiten. Er stand nun völlig nackt vor mir.

Oh Gott, steh mir bei! Schnell drehte ich mich nach dem Wasserkrug um.
Das Bücken nutzte ich auch, um flink meinen Schwanz in eine etwas ungefährlichere Lage zu manövrieren.

Mit dem Krug trat ich hinter ihn, die Augen dabei auf das Behältnis in meinen Händen gerichtet.
Mit zitternden Gliedern und klopfendem Herzen hob ich den Krug über meinen Kopf. Ich hatte etwas Angst, er würde mir aus der Hand rutschen.
Langsam begann ich das kühle Nass über Manus Haupt auszugießen.

Meinen Blick konnte ich dann doch nicht von ihm lassen. Schon alleine um sicherzugehen, dass das Wasser auch am rechten Fleck ankam.
Er fuhr sich mit den Händen durch das Haar und über den Rücken. Seine muskulösen Arme streiften über seinen Hals, sein Gesicht und seine Beine.
Als er sich bückte betrachtete ich seinen wohlgeformten Po. Spätestens jetzt hatte sich mein gutes Stück gen Himmel erhoben und zeichnete sich trotz meines Zurechtrückens von eben deutlich unter dem weißen Stoff ab. Gut, dass Manu nicht hinsah.

Ups, er tat es doch! Seinen Kopf nach hinten gedreht musterte er mich vorsichtig. Es schien etwas Unsicheres in seinem Blick zu liegen.
Jetzt hatte er meine Latte gesehen. Ich wurde knallrot. Er würde mich für einen kranken Perversen halten, oder schlimmeres.

Er drehte sich nun völlig zu mir um.
Voller Erstaunen sah ich, dass auch er einen Steifen hatte.

Plötzlich begann er, meine Brust mit seinen Händen einzuseifen. Die Berührung elektrisierte mich förmlich und entlockte mir ein Stöhnen.
Ich konnte nicht glauben, was da gerade geschah. Manu lächelte sanft. Ich blickte in seine Augen und empfand tiefe Zuneigung.

Ich hielt den Krug immer noch über ihm, oder besser gesagt über uns. Denn Manu war inzwischen so nah heran gekommen, dass ich seinen Atem spüren konnte. Sein Mund näherte sich meinem.

Wir küssten uns. Ich konnte seine Zunge an meinen Lippen spüren und gewährte ihr Einlass.

Er seifte mich ein, am Rücken, an den Armen. Seine Hände und Küsse wanderten tiefer. Sie umfassten meinen pulsierenden Schwanz.
Ich stöhnte auf, als Manu zärtlich meine Eichel mit seiner Zunge liebkoste. Dabei blickte er mir von unten her in die Augen.
Das Wasser war mittlerweile leer und ich stellte den Krug auf dem Boden ab. Anstatt wieder aufzustehen drückte ich Manu sanft nach hinten. Er war zwar schon eingeseift, aber ein bisschen eigenhändig nachzuhelfen ließ ich mir nicht nehmen.
Es gefiel ihm augenscheinlich wie ich über seine starke Brust strich, die harten Nippel dabei umspielend.

Ich massierte seinen Schwanz mit der rechten Hand, während ich mich langsam über ihn beugte. Unsere Lippen fanden sich erneut und eröffneten den lustvollen Tanz zweier Zungen.
Ich lag jetzt auf ihm, unsere Schwänze berührten einander. Es war wundervoll.

Nach einer Weile sagte er mit heiserer Stimme: „Lass uns den Krug mit klarem Wasser holen, dann können wir uns gegenseitig abreiben.“

Gesagt, getan. Während er Wasser aus dem Krug über sich goss, säuberte und erkundete ich sorgsam jede Stelle seines Körpers. Umgekehrt tat er es mir gleich.
Als das Wasser verbraucht und wir vom Schaum befreit waren, zog Manu mich mit einem tiefen Kuss zu sich. Seine Zunge wanderte an mir herab und liebkoste meine Brustwarzen ebenso wie meinen Bauchnabel.
Schließlich war sie an ihrem Ziel angekommen und betätigte sich mit einem lustvollen Blasvergnügen an meinem Schwanz.

Ich war schon verdammt scharf und so dauerte es keine Minute, bis ich mich unter lautem Stöhnen in Manus Mund ergoss. Er schluckte jeden kostbaren Tropfen.
Nachdem sein Mund alle Spuren der Lust restlos getilgt hatte, kehrte er nach oben zurück und verschmolz mit meinem zu einem innigen Kuss.

Ich wollte mich aber unbedingt noch revanchieren…



Vorsichtig schlängelte ich mich zwischen den kleinen Tischchen in der Empfangshalle hindurch, hier und da die Weingläser der immer durstigen Gäste nachfüllend.
Die Vorspeise war bereits durch und hatte sich größter Beliebtheit unter den geladenen Ägyptern erfreut. Alle waren gut gekleidet und mit reichlich Schmuck behangen, wie es auch bei einem Society-Event unserer Zeit üblich gewesen wäre.

Jedoch war nicht alles vergleichbar. Die Gäste tafelten nicht an einem großen und vor allem langen Tisch, sondern verteilten sich in Paaren auf viele kleinere Zweiertische.
Während die beiden Köchinnen in der Küche ihres Amtes walteten und Jahna es sich nicht nehmen ließ, die fertigen Mahlzeiten persönlich zu servieren, hatte ich für gefüllte Gläser zu sorgen.

Dieser Aufgabe kam ich zwar nach, war mit meinen Gedanken aber ganz wo anders. Nämlich bei dem, was sich vor einer knappen Viertelstunde im Badezimmer abgespielt hatte.

Manu war also schwul? Nein, das war sicher nicht als Frage zu formulieren. Manu war schwul. Punkt. Einen eindeutigeren Beweis hätte es kaum geben können.
Und er mochte mich. Allein der Gedanke daran ließ es mir ganz warm ums Herz werden.
Ich hatte eigentlich noch nie einen Freund gehabt. Also Freund im Sinne von… ja wie sagt man dazu eigentlich?
Das Englische besaß da eine klare Trennung, es gab den friend und den boyfriend. Von der letzten Sorte hatte ich, bis auf ein kleines Abenteuer in einem Sommercamp, noch keinen kennengelernt.

Am merkwürdigsten aber fand ich die Tatsache, dass Manu verheiratet war – mit einer Frau. Oder war es vielleicht doch nicht so merkwürdig, wenn man die Umstände dieser Zeit miteinbezog?
Wir schrieben noch nicht das 21. Jahrhundert und die Homosexualität stand in einem sehr schlechten Ruf. Schließlich gingen daraus keine Kinder hervor, was die Hauptsache des hiesigen Familienlebens zu sein schien.

Sollte ich ihn also deswegen verurteilen?
Nein, das wollte ich nicht. Und ich hatte auch nicht das Recht dazu, hatte ich doch selbst mein Outing noch vor mir.

Ein Gast blickte verärgert zu mir hoch. Beinahe hätte ich seinen Weinbecher umgestoßen. Mit einer entschuldigenden Verbeugung machte ich kehrt.
Ich sollte mich wirklich etwas besser konzentrieren.

Manu saß ebenfalls an einem der Tische, ging aber auch ab und zu durch die Runde, um hier und da einige Worte fallen zu lassen.
Immer wenn ich an seinen Tisch kam, um sein Glas vollzuschenken – und das tat ich auch, wenn es noch fast randvoll war – schenkte er mir von unten einen süßen Blick.

Gerade machte ich mich auf den Weg in die Küche, um meinen Vorrat an Bier und Wein zu erneuern.
Auf einmal blieb ich wie angewurzelt stehen.

Ich hatte ganz vergessen, dass Elisa alles aufzeichnete, was ich sah und hörte. Zu Forschungszwecken und zur Analyse der Mission.
Mein kleines Abenteuer mit Manu aber würde ich lieber für mich behalten. Ich wollte ja nicht riskieren, dass sich die älteren Kollegen bei der Durchsicht des Materials an ihrem Kaffee verschluckten.
Abgesehen davon wäre es extrem peinlich für mich, wenn die Videowand im Labor plötzlich zum Pornokino würde.

Ich musste das Material also löschen. Hoffentlich würde Elisa das zulassen.

„Elisa, lösche bitte die audiovisuellen Aufzeichnungen von meinem letzten Betreten bis zum Verlassen des Badezimmers im zweiten Stock.“

„Aufzeichnungen gelöscht.“
Puh, nur gut, dass ich die Administratorrechte besaß.

„Ich schließe aus ihrer Anweisung, dass sie den Inhalt der Aufzeichnungen der Begutachtung durch Dritte entziehen möchten. Zu diesem Zweck wäre es hilfreich, eine technische Störung als Grund für das Fehlen der Informationen in das Protokoll einzufügen.“

Ein Tipp mit absolut logischem Scharfsinn. Was würde ich nur ohne Sie tun?
Elisa war eben ein Schatz, wenn auch manchmal etwas verdreht.

„Dann mach das. Und wenn in Zukunft ähnliche… Szenen auftreten sollten, dann verfahre bitte genauso damit.“
So hatte ich mich auch für alle kommenden Lustspiele abgesichert – und ich hoffte wirklich, dass sie kommen würden.

Jahna kam mittlerweile mit dem Hauptgericht aus der Küche. Der erlegte Stier war zu einem wohlriechenden Braten verarbeitet worden und ruhte jetzt samt Beilage auf Silbertabletts in ihrem Armen.
„Aus dem Weg! Was stehst du denn hier so untätig herum. Sollen die Gäste verdursten?“

Nun, bei den bereits konsumierten Flüssigkeitsmengen war diese Gefahr wohl eher gering.
Aber ich beeilte mich trotzdem, meiner Verpflichtung wieder nachzukommen. Schließlich war auch Manu da draußen im Saal.

Als ich den großen Raum betrat, wurde ich sofort von einem ungeduldig wartenden Gast herangewinkt. Ich wollte ihm gerade den Bierkrug nachfüllen, da meldete sich Elisa wieder bei mir.
Ob sie jetzt auch noch einen Sex-Tipp für mich hatte? Oder hatte ich etwa eine EU-Richtlinie zur Verhütung verletzt?

„Dr. Marten, folgende Nachricht ist von der Basis eingetroffen: Dr. Bolzano bittet um eine Videokonferenz.“

Beinahe hätte ich dem ahnungslosen Mann sein Bier auf den Schoß gekippt, konnte es aber im letzten Moment abfangen.
„Pass doch auf!“, beschwerte der sich.

Ich beachtete ihn nicht weiter. Ob sie etwas Neues herausgefunden hatte?
Ich ging zurück in Richtung Küche, bog dann aber in den Keller ein. Hier unten hatte ich eine Weile meine Ruhe und würde mich auf das Gespräch konzentrieren können.

Ich wies Elisa an, die Verbindung aufzubauen.

Das Videofenster öffnete sich und Lisas Konterfei erschien. Diesmal ging der Verbindungsaufbau wesentlich flotter.

„Hallo Lisa, alles klar bei euch?“

„Hi Phillip, das sollte ich wohl eher dich fragen.“

„Bei mir ist alles bestens. Ich bin weiterhin als Diener angestellt und kann mich nicht beklagen. Wobei, wenn du mich zulange aufhältst, verpasse ich vielleicht meinen Anteil am Abendessen.“

Lisa lachte. „Also solange du deinen Humor noch hast, muss ja alles in Ordnung sein.“

„Habt ihr Fortschritte gemacht?“, fragte ich hoffnungsvoll.

„Ja, das haben wir in der Tat. Das ist auch der Grund für meinen Anruf.“

Anruf, das klang so alltäglich und ganz und gar nicht, als wäre ich jenseits von Raum und Zeit gefangen.

Aber ich war auf Lisas Resultate gespannt.
„Was habt ihr herausgefunden?“

Lisa tauschte einen kurzen Blick mit jemandem außerhalb des Kameraradius.

„Normalerweise hättest du eine so große Abweichung von der Zielzeit nicht überlebt. Die Wahrscheinlichkeit dafür liegt unter zwei Prozent. Du hättest irgendwo im Weltall ankommen müssen.
Doch Gott sei Dank lebst du noch! Und das war auch der Punkt an dem wir mit den Nachforschungen angesetzt haben.“

Soweit wusste ich ja bereits Bescheid.

„Wir sind auch fündig geworden. Und zwar haben die Sensoren im Moment deiner Abreise eine merkwürdige Trägerwelle in der Raumzeitspalte aufgefangen.
Wir hatten es erst übersehen, da die Energiesignatur sehr schwach war und von den Emissionen unserer Generatoren überlagert wurde.

Und jetzt kommt das merkwürdigste. Diese Trägerwelle ist dem Rückhol-Signal des TTEKs, mit dem wir deine Position exakt erfassen können, erstaunlich ähnlich.
Wir glauben, dass durch die Interferenz mit dem Signal der Raumzeittunnel auf den Ursprung des Signals umgelenkt wurde. Sowohl zeitlich, als auch räumlich.

Es ist also kein Zufall, dass du dort gelandet bist. Irgendetwas, oder Irgendwer, hat dich dorthin geführt – ob absichtlich oder nicht, können wir nicht sagen.

Dafür konnten wir den Ursprungsort des Signals ziemlich genau feststellen. Es wurde aus der Umgebung des heutigen Kairo aus gesendet.
Damals gab es dort aber keine Siedlung. Die nächstgelegene Stadt deiner Zeit ist Memphis, was nur 20 Kilometer entfernt liegt.“

Also war es doch kein Zufall!
Wurde ich etwa absichtlich hierher verfrachtet, von einer fremden Intelligenz?

„Lisa, das ist ja unglaublich. Wodurch auch immer dieses Signal ausgelöst wurde, die Menschen dieser Zeit waren es sicher nicht.
Vielleicht ist ja an den Gerüchten etwas dran, dass die Pyramiden von Außerirdischen erbaut worden sind?
Ich muss unbedingt nach Memphis reisen, um mir das vor Ort anzusehen. Vielleicht kann ich dort Licht in die Sache bringen.“

„Außerirdische… woran du immer gleich denkst, Phillip. Aber was auch immer es war, in Memphis oder Umgebung findest du am ehesten etwas.“

Ich wusste wo das lag, denn ich war bereits dort gewesen. Kairo, die Hauptstadt des neuzeitlichen Ägyptens, war ein Muss für jeden Urlauber. Schließlich beheimatete sie mit den Pyramiden von Gizeh eines der sieben Weltwunder.

„Gibt es sonst noch etwas, das ich wissen sollte?“

„Nein, das ist alles, was wir herausgefunden haben. Aber…“

„Aber was?“, hakte ich nach.

„Wie du sicher weißt, reicht die Leistung unseres Systems nicht aus, um dich aus einer so weit entfernten Vergangenheit zurückzuholen.
Wir könnten die Anlage natürlich ausbauen. Und das werden wir auch, so schnell wie möglich. Trotzdem kann es sich viele Jahre lang hinziehen.“

Ich schluckte. Natürlich würde es so schnell kein Zurück für mich geben. Das hatte ich auch schon vor Lisas Erklärung gewusst.
Dennoch, solange es niemand ausgesprochen hatte, war noch eine Spur von Hoffnung geblieben. Damit war nun Schluss.

„Ich weiß, Lisa. Ich werde schon zurechtkommen solange. Die Leute hier sind wirklich nett. Und sieh es mal so, wir erfahren jede Menge über das alte Ägypten. Unsere Kenntnisse dieser Zeit sind so spärlich, dass die Historiker Luftsprünge machen werden.
Jetzt sehe ich mir erst einmal die Sache in Memphis an.“

„Okay, Phillip. Aber, pass auf dich auf, man weiß ja nie.
Das ganze Team grüßt dich übrigens herzlich. Und von Dr. Carrol soll ich dir ausrichten, du mögest ihm doch bitte ein Paar altägyptische Kleidungsstücke mitbringen. Für seine Sammlung.“

Ich lachte herzlich. Alles würde gut sein, wenn ich nur regelmäßig Kontakt nach Hause haben könnte.
„Also gut Lisa, ich mache dann Schluss. Bitte grüß auch meine Familie von mir und sag ihnen, dass es mir gut geht.“

„Das mache ich. Bis dann!“ verabschiedete sich Lisa, worauf die Verbindung getrennt wurde.

Das waren wirklich aufregende Neuigkeiten. Und vor allem unerwartete.
Doch ich würde später darüber nachdenken müssen, denn zunächst rief die Pflicht. Ich war schon zu lange abwesend und zu viele Gäste würden bereits auf den Boden ihres Glases sehen können.



Es war eine halbe Stunde vor Mitternacht, als sich auch die letzten Besucher verabschiedet hatten. Ihrem Schwanken beim Hinausgehen nach zu urteilen, schon in einem bedenklichen Zustand.

Zuletzt hatte ich auch einen Anteil vom Menü abbekommen. Ein gutes Stück Stier konnte ich mir in der Küche sichern, bevor es die Köchin selbst verdrückte.

Ansonsten war ich einfach nur müde. Manu ging es wohl genauso, er war bereits in sein Schlafzimmer geflüchtet. Dorthin folgte ich ihm jetzt auch, nachdem ich im Bad fertig war. Denn das konnte ich natürlich mitbenutzen, wegen meines Status als heimlicher Geliebter des Hausherrn – solange seine Frau nichts bemerkte.

Ich wollte mich gerade auf meiner Liege im Vorzimmer ausstrecken, als Manu nach mir rief.

„Ameniu, was willst du denn da unten?“, fragte er spöttisch. „Im Bett ist es doch viel bequemer. Und es ist auch genug Platz für uns beide, sofern wir eng zusammenrücken.“

Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Ich sprang wieder von meinem Lager hoch und legte mich zu Manu ins Bett. Dabei kuschelte ich mich eng an ihn, was wirklich ein herrliches Gefühl war.

Er gab mir einen Kuss auf den Mund. „Schlaf gut, Ameniu. Ich hab dich lieb.“
Verdammt, wie gern würde ich ihm jetzt sagen, dass ich ihn ebenso lieb hatte. Stattdessen musste ich mich damit begnügen, innig den Kuss zu erwidern.

So konnte es wirklich nicht weiter gehen. Wie sollte ich ihm zum Beispiel erklären, dass ich unbedingt nach Memphis reisen musste?
Das wäre mir schon schwergefallen, hätte ich mit ihm darüber reden können. Ohne Sprache war es jedoch schlichtweg unmöglich.

Egal, ich war jetzt zu müde, um mich mit diesem Problem zu beschäftigen.
Nach einer Weile, in der ich nur den warmen Körper neben mir spürte, schlief ich schließlich ein.

Kapitel 10

Ich erwachte recht früh, so dass es noch dunkel im Zimmer war. Genau genommen war es 4:37 Uhr, wie ich dem morgendlichen Bericht Elisas entnehmen konnte.

Obwohl an weiterschlafen nicht mehr zu denken war, blieb ich noch liegen, da sonst Manu hätte aufwachen können. Sollte wenigstens er seinen verdienten Schlaf haben.
Abgesehen davon war es mir ganz recht, eine Weile in Ruhe nachdenken zu können.

Ich hatte immer noch ein dringendes Problem zu lösen. Ich musste nach Memphis.
Die eigentliche Schwierigkeit bestand darin, dass wir uns in vormotorisierter Zeit befanden und Kairo über 500 Kilometer Luftlinie entfernt lag.

Aber es musste einen Weg geben! Und sicher würde Manu einen wissen. Außerdem hatte er selbst gesagt, dass er gerne einmal eine Reise unternehmen würde.
Vielleicht könnte ich ihn davon überzeugen, diese Reise mit mir anzutreten.

Okay, ich sah es jetzt ein. Das war nicht nur ein Problem, das war ein ganzer Problemkomplex.
Und der Kern sowie Schlüssel des Ganzen lag darin, mit Manu darüber reden zu können.

Ich hatte keine Wahl, ich musste mein Image als Stummer ablegen.
Das geringere Problem wäre dabei die Verständigung. Ich würde nur den Satz Elisa lautlos diktieren müssen und sie würde mir die Übersetzung anzeigen. Nur für eine halbwegs passable Aussprache würde ich ein wenig trainieren müssen.

Das größere Problem war, Manu zu erklären, wieso ich ihm meine Sprachfähigkeiten die ganze Zeit verheimlich hatte. Und dass er vieleicht sauer sein würde.

Jetzt stand ich doch auf. Vorsichtig rutschte ich Stück für Stück von Manu weg und erhob mich schließlich.
Ich hatte Glück, er schlief friedlich weiter. Wie süß er dabei aussah.

Ich schlüpfte aus dem Raum und stieg auf die Dachterrasse.
„Übersetze alle Worte, die ich forme ohne sie auszusprechen, ins Altägyptische, sofern sie nicht direkt an dich gerichtet sind. Dann zeige mir die Übersetzung in Lautschrift an, so dass ich sie aussprechen kann“, wies ich Elisa an.

Also gut, dass Training konnte beginnen.
„Ich muss nach Memphis reisen“, probierte ich als erstes. Prompt erschien die Übersetzung. Dumm nur, dass ich die meisten Zeichen davon überhaupt nicht verstand. Ich hatte nicht bedacht, dass ich mich mit Lautschrift überhaupt nicht auskannte.

Ich musste also etwas anderes probieren. Natürlich könnte ich auch noch die Lautschrift lernen, aber das würde einfach zu lange dauern.

„Anstelle der Lautschrift zeige mir die Texte bitte mit deutschen Buchstaben an, gemäß der am ehesten passenden Belegung.“

Ok, auf ein Neues. Ich widerholte meinen Probesatz von eben. Diesmal kannte ich alle Zeichen und konnte den Satz sogar aussprechen.
Als ich Elisa nach der Korrektheit meiner Aussprache fragte, bekam ich ein „zu 67% übereinstimmend“ als Ergebnis. Da würde ich wohl noch etwas dran arbeiten müssen.



82 Prozent. Das war das Ergebnis der letzten zwei Stunden, die ich mit konzentrierten Sprachübungen verbracht hatte. Und ich fand, das würde sich sehen beziehungsweise hören lassen können.

Ich versuchte mich gerade an einigen schwierigen Sätzen, um meinen bisherigen Highscore zu knacken, als Elisa mich warnend unterbrach.
„Achtung, es nähert sich eine Person ihrer Position.“

Kaum hatte sie mit ihrer Bemerkung geendet, als Manu bereits die Treppen heraufkam.

„Ah, hier bist ja, Ameniu. Ich dachte schon, eine Stimme gehört zu haben.“
Er lächelte mich entwaffnend an.

„Ich habe uns Frühstück machen lassen. Meine Frau isst morgens meistens bei ihrer Freundin, dann kann sie gleich den neusten Klatsch mit ihr austauschen.“

„Komm, wir setzten uns hier hin und genießen es zusammen.“

Ich zuckte etwas verlegen mit den Schultern und setzte mich zu ihm. Jetzt brachte ich es nicht über mich. Nein, erst einmal eine ordentliche Stärkung zu mir nehmen.

Manu hatte schon einige Pläne für den heutigen Tag ausgetüftelt und unterbreitete mir diese während des Essens.
Neben dem üblichen Brei gab es noch Trauben und Datteln.

„Ich muss heute Mittag ins Gericht, da nehme ich dich mit und zeige dir alles. Am Nachmittag können wir dann ein wenig in der Stadt oder am Fluss entlang spazieren gehen. Was meinst du?“

Ich nickte nur fahrig.
„Ist etwas, Ameniu? Du guckst so nachdenklich heute Morgen. Ach, wenn du nur mit mir reden könntest…“

Das war mein Stichwort. Jetzt oder nie.
Ich räusperte mich und wurde leicht rot.

Normalerweise, wenn man ein delikates Thema anzuschneiden gedachte, bereitete man sein Gegenüber mit einigen einleitenden Worten à la „Ich muss dir etwas Wichtiges mitteilen, bitte erschrick jetzt nicht…“ darauf vor.
Doch in diesem Fall war bereits das erste Wort, welches über meine Lippen kommen würde, die Enthüllung selbst – ganz gleich, welches es war.

„Manu, es tut mir leid es dir nicht früher gesagt zu haben. Ich kann sprechen. Bin nicht stumm“, sprudelte ich die vorbereiteten Worte hervor, alle Ergebnisse meines Aussprache-Trainings missachtend.

Schon beim ersten Laut sog der Angesprochene scharf die Luft ein und seine Augen weiteten sich. Nach meinem Bekenntnis schluckte ich und schwieg. Jetzt war Manu am Zug.

Das anfängliche Erstaunen in seinen Gesichtszügen wich einem Ausdruck von Verärgerung.

„Und das sagst du mir erst jetzt. Wieso nicht schon am ersten Tag? Es hätte doch alles viel einfacher gemacht“, sagte er ärgerlich und schüttelte verständnislos den Kopf.

Ja, wieso hatte ich es ihm nicht gleich gesagt? Im Nachhinein betrachtet wäre es das Beste gewesen. Aber damals war es einfach bequemer, den Stummen zu mimen. Ersparte mir das doch, allzu detaillierte Selbstauskünfte geben zu müssen.

Ich entschloss mich, möglichst nahe bei der Wahrheit zu bleiben.

„Wir kannten uns damals noch nicht, Manu.“
„Ich wusste nicht wie du mich behandeln würdest.“
„Von der Sache gestern Abend noch ganz zu schweigen.“

Es würde wohl etwas dauern, bis ich eine gewisse Routine in der ungewohnten Sprechweise innehatte.

„Und da ich nicht reden musste, konnte ich auch nichts falsches sagen.“
„Später hatte ich auch gewünscht, mich mit dir unterhalten zu können. Doch da war es schon zu spät, mich zu offenbaren. Aber jetzt, wo wir…“

Verlegen brach ich ab und sah zu Boden. Dann fiel mir etwas Besseres ein.

„Ich hab dich sehr gern, Manu.“
Mit einem flehenden Blick sah ich ihm in die Augen.

Sein Mund formte sich plötzlich zu einem süßen Grinsen.
„Bei deinem grottigen Akzent ist es kein Wunder, dass du dich davor geschämt hast. Ich denke, ich verzeihe dir.“

„Jetzt können wir endlich über so vieles Reden! Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll“, fuhr er begeistert fort.

Puh… am besten gar nicht. Aber gut, dass er mir verzieh.

„Was hältst du eigentlich von der Jahna?“, fragte Manu. „Meine Frau hat sie aus dem Hausstand ihrer Eltern mitgebracht.“

„Ich finde sie etwas herrisch.“

Er stimmte lachend zu.
„Ja, das ist sie. Aber im Grunde ihrer Seele ist sie sein gutmütiger Mensch.“

Das erinnerte mich irgendwie an die Beteuerungen einiger Kampfhund-Besitzer, dass Hundi eigentlich ganz, ganz lieb sei und nur etwas spielen wolle.

„Und gestern bei der Jagd, also du hast mich zwar gerettet und dafür bin ich dir auch sehr dankbar.“
Er gab mir einen Kuss.
„Aber mit Pfeil und Bogen hast du dich nicht gerade geschickt angestellt. Jagd ihr denn bei euch zuhause anders?“

Genau solche Art von Fragen hatte ich zu vermeiden gesucht.

„Ähm, ja. Das tun wir.“

Er schaute mich eine Zeit lang erwartungsvoll an.
„Ja, und wie?“

Tja, ich hatte keine Ahnung. Also schnell etwas zurückrudern.

„Also wir jagen schon so wie ihr auch. Nur ist es kein Volkssport wie hier. Es gibt einige berufsmäßige Jäger, bei denen die anderen dann ihr Fleisch kaufen.“

Das klang doch plausibel.

„Ach so ist das, interessant.“
Eigentlich tat es mir leid, ihm diese Märchen auftischen zu müssen. Aber ich hatte keine andere Wahl. Die Wahrheit wäre ihm viel zu unglaublich vorgekommen und er hätte mich womöglich als Spinner verstoßen.
Außerdem war es mir nach dem ATR-Kodex eigentlich verboten, näheren Kontakt zu den Einheimischen zu haben, um ihre Beeinflussung durch mich so gering wie möglich zu halten.

Diese Regel war aufgrund meiner prekären Situation freilich nicht einhaltbar gewesen. Und spätestens nach unserem gemeinsamen Dusch-Erlebnis so wie so mehr als gebrochen.

Manus Fragenkatalog aber schien noch lange nicht erschöpft, sodass ich mich genötigt sah einzulenken.

„Das viele Sprechen ist für mich sehr anstrengend, Manu. Bitte nicht so viele Fragen auf einmal.“
Dabei lächelte ich ihn entwaffnend an.

„Außerdem muss ich noch etwas Ernstes mit dir besprechen.“
Daraufhin sah mich Manu erwartungsvoll an.

„Ich muss nach Memphis reisen.“
Jetzt war die Katze aus dem Sack.

Einen Moment lang schien er etwas irritiert, dann kam die obligatorische Frage: „Warum das?“

Es wäre töricht gewesen, ihm diese Offenbarung zu machen, ohne eine Antwort auf jene entscheidende Frage parat zu haben. Zum Glück hatte ich mir in den letzten zwei Stunden darüber den Kopf zerbrechen können.

„Ich habe dir doch erzählt, wie ich hier mit meinem Schiff gestrandet bin.“
„Einer von unseren Leuten ist in Memphis an Land gegangen, er sollte dort irgendwelche Handelsangelegenheiten erledigen.“
„Auf dem Rückweg sollten wir ihn dann wieder mitnehmen. Ich muss dorthin, um ihn zu finden und über das Schicksal unseres Schiffes zu informieren.“

Hoffentlich würde er das schlucken.

„Hmm… würde es da nicht reichen einen Boten zu senden?“

Manu, du harter Brocken, komm schon. Beiß an.

„Das würde nicht funktionieren. Der Bote weiß nicht, wie der Mann aussieht.“
„Und selbst wenn er ihn findet, der Matrose würde dem Boten nicht einfach so glauben.“

Manu grübelte eine Weile darüber. Nun nickte er kurz, mehr zu sich selbst als zu mir.

„Dann würde ich sagen, fang schon mal an zu packen!“
Er strahlte übers ganze Gesicht und ich ebenfalls.

„Ameniu, ich freue mich schon riesig auf die Reise. Ich war noch nie weiter als ein paar Kilometer von meinem Heimatort entfernt.
Es wird großartig und nur wir beide alleine…“

Ob es wirklich so toll werden würde, wagte ich zu bezweifeln. Aber für jemanden, der noch nie von zuhause weggekommen war, war es sicher ein Erlebnis.

Jedenfalls freute ich mich darüber, dass er letztlich zustimmte. Ich hatte ja gehofft, seine Reiselust wecken zu können, die er mir bereits früher gestanden hatte.
Denn Argumente gegen ein notwendig persönliches Erscheinen hätten sich finden lassen. So wäre zum Beispiel die Anfertigung eines entsprechenden Schriftstücks für den Boten in Betracht gekommen.

Aber dass er nicht nur mir die Möglichkeit gab die Reise anzutreten, sondern gleich selbst mitkommen wollte, freute mich am meisten.

„Heute Mittag muss ich trotzdem ins Gericht, meinen laufenden Fall abschließen. Danach nehme ich mir dann einige Wochen frei.
Und meiner Frau sagen wir einfach, dass ich geschäftlich verreisen müsse.“

Memphis war neben Theben die wichtigste Stadt des alten Ägyptens und lag nicht weit vom heutigen Kairo und seinem Vorort Gizeh entfernt.
Eine Geschäftsreise dorthin schien plausibel.

„Ich mache mich mal auf den Weg, Ameniu. Dann kann ich vorher noch alles Nötige veranlassen.
Ich denke, wir werden mit dem Schiff reisen. Das geht am schnellsten. Mein Vater kennt sicher einige Reeder, ich werde ihn gleich fragen.“

Manu war ja wirklich Feuer und Flamme für die Idee. Ich hätte nicht gedacht, dass er so schnell wie möglich los wollte.
Obwohl das genau meinen Wünschen entsprach. Denn je länger es dauerte, bis wir dort eintrafen, desto geringer waren die Chancen noch eine Spur – von was oder wem auch immer – vorzufinden.



Seitdem Manu gegangen war, wanderte ich unruhig im Haus herum. Er hatte zwar gesagt, ich solle schon mal packen. Aber aufgrund meiner beschränkten Kenntnisse der Gewohnheiten dieser Zeit war mir fast nichts eingefallen.

Immerhin, auf dem kleinen Stapel lagen bereits mein Unterhemd, ein Packen des standardmäßigen weißen Lendenschurzes für Manu und mich, sowie eine Landkarte aus dem Arbeitszimmer.
Auf letztere war ich zwar nicht angewiesen, aber es schien mir logisch sie einzupacken.

Danach waren mir die Ideen ausgegangen. Elisa aber hatte der Packliste noch einiges hinzuzufügen.
So ermahnte sie mich vor allem, genügend Wasservorräte mitzuführen. Das Wasser aus dem Nil entspreche nämlich in keiner Hinsicht den Kriterien für Trinkwasser. Selbst das Baden darin sei nicht ratsam und das nicht nur wegen der Krokodile.

Sie hatte noch einige solcher Vorschläge parat, deren Ausführung aber allesamt nicht in meinen Aufgabenbereich fiel. Dazu müsste ich Jahna instruieren, was aber nicht gehen würde, ohne ihr – und damit indirekt jedem im Haus – meine Beredsamkeit zu offenbaren.
Doch ich hatte das Gefühl, es wäre besser, wenn Manu und ich diese Sache für uns behalten würden. Insbesondere seine Frau, Naha, musste davon ja nichts wissen.

Ich würde also die weiteren Vorbereitungen ihm überlassen.
Auch weil ich nicht wusste, wie schnell er uns eine Mitfahrt auf einem Schiff organisieren konnte. Vielleicht klappte es erst in den nächsten Tagen.

Es war bereits später Nachmittag und mit seiner Rückkehr rechnete ich jede Minute.
Als ich jemanden die Treppe heraufkommen hörte, drehte ich mich voller Erwartung um.

Doch die Person, welche jetzt das kleine Wohnzimmer im zweiten Stock betrat, in das die Treppen endeten, war gar nicht Manu, sondern Naha.
Sie war wohl aus der Stadt zurück und auf den Weg ins Badezimmer, um sich etwas frisch zu machen.

Dabei musterte sie mich kritisch. Ich beeilte mich, sie mit einer angemessenen Verbeugung zu empfangen und machte den Weg frei.
Doch anstatt weiterzugehen warf sie einen zweifelnden Blick auf meinen bescheidenen Stapel.

„Was wird das denn, räumst du Manus Regale um?“, fragte sie in einem leicht spöttischen Ton.

„Und was ist das für ein Papyrus… Ah, die Landkarte. Ein wertvolles Erbstück von seinem Großvater.“

Plötzlich stutzte sie und sah mich scharf an.
„Du hast doch nicht etwa vor sie zu stehlen und heimlich zu verkaufen?“

Entsetzt schüttelte ich den Kopf.

„Na dann ist ja gut. Ich gehe mich jetzt im Bad erfrischen und möchte nicht gestört werden“, fuhr sie in leichtem Plauderton fort.
Sie hatte wohl nicht ernsthaft damit gerechnet, dass ich wirklich diebische Absichten hätte.

Und keine Sorge, ich würde mich hüten das Bad während ihrer Anwesenheit zu betreten.
Stattdessen verlegte ich lieber den Reisestapel in Manus Schlafzimmer, damit Naha nicht doch noch vorzeitig hinter unsere Pläne kam.

Dabei hörte ich erneut Schritte auf der Treppe.
Diesmal war es Manu.

Freudestrahlend kam er auf mich zu.
„Da bin ich wieder und ich habe einige Neuigkeiten.“

Dabei wollte er mich umarmen, ich ließ es aber nicht zu. Schließlich konnte Naha jederzeit wieder aus dem Bad kommen.
Manu sah mich zunächst irritiert an, bis ich den Satz aussprachefertig hatte: „Deine Frau ist gerade im Bad.“

„Ach so, na dann gehen wir auf die Dachterrasse. Ich habe schon Jahna gebeten, uns etwas zu Essen heraufzubringen.“

Gesagt, getan. Als wir uns auf den gemütlichen Sitzgelegenheiten unter dem schattenspendenden Sonnenschutz niederließen, begann Manu zu erzählen.

„Ich war bei meinem Vater und habe ihn um Rat gebeten, bezüglich der Schiffsreise. Er hat dann bei seinem Bruder nachgefragt, der ist Schreiber im königlichen Handelswesen.
Wir haben wirklich Glück, denn schon morgen Vormittag legt eine Handelsflotte nach Memphis ab. Da dürfen wir mitfahren.
Proviant und andere Vorräte haben sie bereits an Bord. Wir müssen also nichts weiter als unsere eigenen Habseligkeiten mitnehmen.“

Das waren wirklich gute Nachrichten. Ich hatte nicht gedacht, dass es so schnell gehen würde. Andererseits war ein reger Schiffsverkehr zwischen den beiden wichtigsten Städten des Landes nur natürlich.

„Hat dein Vater nicht gefragt, was du dort willst?“

„Doch, klar hat er das.“

„Und?“, hakte ich nach. „Was hast du ihm erzählt?“

Manu lächelte etwas verlegen.
„Ich habe ihm gesagt, dass ich dort eine spezielle Medizin für meine Frau abholen wolle.“

„Aha, und das hat er einfach so geschluckt?“

„Ja, ich habe ihm gesagt, es handele sich um eine Salbe zur Förderung der Fruchtbarkeit. Du weißt doch, dass meine Frau noch nicht schwanger ist…

Was mein Vater aber nicht weiß – und auch sonst Niemand – ist, dass alle Salben der Welt an diesem Zustand nichts ändern könnten.“

Ich dachte einen Moment darüber nach.
„Heißt das, du bist unfruchtbar?“

Manu wurde noch verlegener und sogar etwas rot.
„Nein, das ist es nicht. Ich bekomme einfach keinen hoch bei ihr im Bett. Es turnt mich total ab, wenn ich sie nackt sehe.“

Nun musste ich herzhaft lachen. Nicht wegen der von Manu geschilderten Erektionsprobleme, sondern dank Elisas Übersetzung.
Es klang einfach sehr komisch einen Ägypter den neumodischen Begriff „abturnen“ verwenden zu hören. Vielleicht hatte meine elektronische Helferin hier etwas zu sinnbildlich übersetzt.

„Ich finde das nicht gerade lustig“, strafte Manu mich dafür ab.

Schnell wurde ich wieder ernst und versicherte ihm, die Sache keineswegs lustig zu finden. Eher traurig.

11. Kapitel

„Ameniu, wach auf. Wir müssen bald los. Das Schiff legt um Zehn Uhr ab.“

Verschlafen drehte ich mich auf die andere Seite. Ich erkannte Manu, der am Kopfende unseres gemeinsamen Bettes stand.

Wie spät war es denn… kurz vor Neun!
Mann, da hatte ich aber lange geschlafen. Was auch kein Wunder war, denn ich war erst recht spät eingeschlafen. Zuvor hatten Manu und ich noch ordentlich gekuschelt und ein wenig miteinander rumgemacht.
Die angenehme Erinnerung drohte sich bereits in meiner Lendengegend bemerkbar zu machen, so dass ich mich für ein schnelles Aufstehen entschied.

„Guten Morgen!“, begrüßte ich Manu mit einem fröhlichen Grinsen und einem Kuss auf den Mund.

„Wie ich sehe, hast du gestern schon gepackt, Ameniu. Oder zumindest den Versuch dazu gemacht…“
Dabei zeigte er auf den kleinen Stapel, den ich gestern hier abgestellt hatte.

„Mir ist nicht gerade viel eingefallen. Tut mir leid.“

„Das macht nichts. Ich ergänze es noch ein wenig, aber viel mehr brauchen wir wirklich nicht.
Jetzt lass uns erst mal frühstücken. Und genieß es, wer weiß was wir während der Reise bekommen.“

Solange wir nicht das Nilwasser trinken mussten, war mir eigentlich alles recht.

„Hast du deiner Frau schon Bescheid gesagt?“

„Ja, heute früh. Noch bevor sie zu ihrer Freundin gegangen ist.“



Gleich nach dem Frühstück auf der Dachterrasse, die wegen ihrer Abgeschiedenheit unser Lieblingsort für alle Mahlzeiten geworden war, vervollständigte Manu das Gepäck.

Er fügte unter anderem einige Artikel aus dem Bad hinzu, unter der Anmerkung, dass man nie wisse wie es um die Hygiene auf den Schiffen bestellt sei.
Ich saß derweil auf dem Bett und wartete. Einige erwartungsvolle Gedanken gingen mir durch den Kopf.

Welche Schlafgelegenheit es wohl auf dem Schiff gab?
Ob ich Seekrank werden würde?

Schließlich war Manu zufrieden und alles schien reisefertig. Er kam zu mir und gab mir einen langen, intensiven Kuss.

Auf einmal merkte ich, dass irgendetwas nicht stimmte. Ich glaubte, etwas gehört zu haben.

„Achtung, Dr. Marten! Dritte Person nähert sich!“

Abrupt löste ich den Kuss und stolperte einen Schritt rückwärts. Manu und ich blickten zur Tür.

Dort stand Naha, die Augen in Entsetzen weit aufgerissen. Sie keuchte.

Ich errötete und Manu erbleichte ins Aschfahle.

„So ist das also!“, stieß sie hervor. „Deshalb konntest du nie mit mir schlafen!“

Sie schlug die Hände vors Gesicht. „Das ist ja grauenhaft.“

„Naha, ich… es tut mir leid“, sprudelte Manu verzweifelt hervor. „Ich konnte es dir doch nicht sagen. Und es kann ja noch alles gut werden.“

Ich hätte nicht sagen können, ob sie seine Worte wahrgenommen hatte. Jedenfalls stürmte sie aus dem Raum und die Treppe hinunter.

Während der ganzen Szene hatte ich wie versteinert dagestanden. Jetzt ließ ich mich auf das Bett sinken.

„Manu“, begann ich stockend, „es tut mir leid, dass das passiert ist. Es ist ja letztlich meine Schuld. Wäre ich nicht hier“ – an dieser Stelle unterbrach Manu mich.

„Nein Ameniu, du bist der letzte, der sich entschuldigen muss. Es ist allein meine Schuld. Im Gegenteil, ich muss mich bei dir dafür entschuldigen, dich mit hereingezogen zu haben.“

Er umarmte und drückte mich fest. „Außerdem bin ich sehr froh, dass du hier bist.“
Das wärmte mein Herz.

„Was wird sie jetzt tun?“, fragte ich.

„Ich vermute, sie wird den ganzen Tag in ihrem Zimmer verbringen und darüber trauern, welches Pech sie doch im Leben hat. Und das kann ich ihr nicht einmal verübeln, denn sie hat Recht.
Und dann wird sie so tun, als sei nichts vorgefallen. Denn das letzte was sie sich wünscht ist, dass andere davon erfahren.“
Er schluckte.

„Ich vermute, unsere Reise kommt da gerade recht. So hat sie für eine Weile Abstand von mir und umgekehrt“, bemerkte Manu betrübt.

Irgendwie tat Naha mir leid. Nur gut, dass in unserer Zeit so etwas nicht mehr vorkam. Zu mindestens hoffte ich das.

Manu rappelte sich hoch. „Komm, lass uns zum Schiff gehen mein Schatz. Es wird Zeit, sonst legt es noch ohne uns ab.“



Das Schiff war mit einer Länge von 20 Metern, sowie circa fünf Metern Breite erstaunlich geräumig. Ein mir noch unbekannter Mann begrüßte uns herzlich an Bord.

„Richter Imanuthep, schön dass du gekommen bist. Die anderen Passagiere sind bereits an Bord, wir werden also gleich ablegen.
Wie geht es übrigen deinem Vater? Ich habe früher eine Weile mit ihm gearbeitet.“

„Oh, dem geht es blendend, Kapitän Senmut. Ich wünschte nur manchmal, er würde anfangen ein wenig kürzer zu treten. Immerhin geht er langsam auf die Fünfzig zu.“

Der als Senmut angesprochene lachte.
„Und wen hast du da noch mitgebracht? Den Worten deines alten Herrn nach dachte ich, du wärst Alleinreisender.“

„Nicht ganz. Darf ich dir Ameniu vorstellen. Er ist ein Diplomat aus dem Norden und weilt derzeit in meinem Haus. Da er in einer Woche wieder abreisen muss, habe ich ihn gebeten, doch gleich mit mir zu fahren.“

Manu konnte wirklich einfallsreich sein, wenn es um Ausreden und Vorwände ging.

„Dann heiße ich dich herzlich Willkommen an Bord meines Schiffes, Botschafter Ameniu. Möge Amun deine Reise segnen.“

Ich nickte dem Kapitän dankbar zu und folgte ihm mit Manu über einen kleinen Steg auf das Schiff. Es gab keinerlei Absperrung auf den Planken und ich vermied tunlichst nach unten zu sehen.
Freileich wäre ich nicht tief gefallen, das Deck befand sich keine zwei Meter über der Wasseroberfläche. Aber diese Peinlichkeit und den unnötigen Wasserkontakt wollte ich mir ersparen.

Sicher an Deck angekommen, wurden hinter uns die Planken eingezogen und einige Kommandos verkündeten das Ablegen des Schiffs.

Der Kapitän schien dabei nicht gebraucht zu werden, denn er begann mit einer kleinen Rundführung. Wie ich schnell erkannte, richtete sich diese weniger an Manu als an mich, dem er die gute Ausstattung und generelle Großartigkeit seines Schiffs beweisen wollte.

„Dies ist das Flaggschiff der Flotte und zugleich das einzige, auf dem reisende Passagiere transportiert werden.
Die anderen vier Schiffe, die jetzt gerade hinter uns ablegen, transportieren ausschließlich Waren. Vor allem Minenerzeugnisse und Importgüter aus dem Süden.

Die Schiffe werden durch Segel angetrieben und natürlich kommt uns die Strömung zugute. Es gibt aber auch Ruder, wenn wir zu langsam vorankommen sollten.“

Das war zwar alles sehr interessant, aber vor allem interessierte mich die Dauer unserer Reise. Ich formulierte also eine entsprechende Frage.

„Der Nil ist fast auf seinem Höchststand, wir werden gut vorankommen. Ich schätze, dass wir in knapp zwei Wochen Memphis erreichen werden.“

Oha! Ich hatte mit ein paar Tagen gerechnet, nicht aber mit Wochen.

Der Kapitän hatte mein Erstaunen bemerkt, deutete es aber in die falsche Richtung.
„Ja, das ist ziemlich schnell, nicht wahr. Bei niedrigem Wasserstand dauert das gut und gerne zwei Monate.“

Na dann hatte ich wohl noch Glück im Unglück. In zwei Monaten wären meine Chancen, am Reiseziel noch etwas zu finden, sicher nahe Null.

Während der Kapitän noch allerlei nautische Details seiner Flotte anpries, blickte ich mich auf dem Schiff um.
Die Besatzungsmitglieder mit Ausnahme des Kapitäns waren leicht von den Reisenden zu unterscheiden, denn sie waren wesentlich einfacher beziehungsweise schmuckloser gekleidet.

So konnte ich zwei weitere Passagiere ausmachen, anscheinend ein Paar, die offensichtlich nicht zur Crew gehörten. Der Mann sah aus wie man sich anhand der Zeichnungen an Tempelwänden und Grabkammern einen Ägypter vorstellte, denn er trug eine schwarze Perücke.
Ob sie auch bis nach Memphis reisten?

Inzwischen waren dem Kapitän die aufzählbaren Ausstattungsmerkmale ausgegangen.
„Fühlt euch einfach wie zuhause auf meinem Schiff“, endete er.

„Aber lasst mich euch noch die beiden anderen Mitreisenden vorstellen.“

Zum Glück übernahm Manu wieder das Reden und nannte dem Paar unsere Namen, worauf diese sich als Amendat, Priester des Amun, mit seiner Frau Aneksi vorstellten.

Amun war auch mir ein Begriff. Es handelte sich um die Lokalgottheit Thebens.
Zu Ehren zahlreicher Götter wurden damals prunkvolle Tempel erbaut, die natürlich der Pflege durch ebenso zahlreiche Priesterinnen und Priester bedurften.

Das Schiff hatte währenddessen vollständig abgelegt und fuhr nun in einiger Entfernung zum Ufer dahin.
Während Manu sich mit dem Paar unterhielt, stand ich an der Reling und beobachtete die Umgebung. Mit 400 Metern Breite war der Nil ein erstaunlich großes Gewässer.

Am Ufer konnte ich allerlei Gestalten erkennen. Es schienen Bauern zu sein, die ihre Felder bestellten. Dieses Land war wie kein anderes auf Flusswasser angewiesen. Schließlich befand sich ein paar hundert Meter weiter nichts als heißer Wüstensand.
Der fruchtbare Boden im Nilkorridor war der einzige landwirtschaftlich nutzbare Bereich. Fiel die jährliche Überschwemmung des Nils mager aus, konnte es zu Hungersnöten kommen.

Kein Wunder also, dass die Ägypter die vermeintlich dafür verantwortlichen Götter mit Monumenten und Opfergaben wohlgesonnen stimmen wollten.

Langsam ließen wir die Stadt hinter uns. Am Flussufer erstreckten sich nur noch die Felder der Bauern.
Egal in welche Himmelsrichtung ich jetzt sah, immer bot sich mir eine idyllische Szene, die ganz im Gegensatz zu unserer vielbebauten Gegenwart stand.
Ich hätte mich fast wie im Urlaub gefühlt, wäre ich nicht als berufsmäßig Gestrandeter quasi immer im Dienst.

Manu hatte seinen Plausch mit dem Priesterpaar beendet und gesellte sich zu mir an die Reling.

„Es ist eine trostlose Landschaft, nicht wahr?“

Das sah ich anders.
Ob er die Umgebung in meiner Gegenwart für schöner halten würde? Wohl kaum, eher würde ihn die Gebäudelandschaft zutiefst schockieren.

Ich konterte mit einer Gegenfrage, die mich schon eine Weile beschäftigte.
„Wieso hast du mich vorhin als Diplomat aus dem Norden vorgestellt und nicht einfach als deinen Diener?“

„Nun, ich wollte nicht, dass sie dich als Diener ansehen. Denn dann würde dir keine Aufmerksamkeit geschenkt und du könntest auch nicht an den Mahlzeiten teilhaben. Und mir ist doch aufgefallen, dass du eine Vorliebe für gutes Essen hast.“

Ich musste lachen.
So so, das war ihm also aufgefallen. Recht hatte er jedenfalls. Ich konnte mir besseres vorstellen als den Brei aus meiner Gefangenschaft oder trockenes Brot.
Auf die Aufmerksamkeit hätte ich hingegen verzichten können.

„Und da habe ich mir das mit dem Botschafter ausgedacht. Es passt einfach perfekt zu dir.
Du trägst keinen Schmuck, was dich normalerweise degradieren würde. Trotzdem hast du eine helle Haut, was dich wie Jemanden von höherer Stellung aussehen lässt. Außerdem sprichst du mit einem starken Akzent.
Aber nur als ausländischer Gesandter passt all das zusammen und ist völlig verständlich.“

Das war ein kluger Gedanke, auf den Manu da gekommen war. Er schien ein helles Köpfchen zu sein und hätte sicher auch zu meiner Zeit etwas aus sich gemacht.
Ich lächelte ihn dankbar an. Viel lieber hätte ich ihn geküsst, aber das ging in der Öffentlichkeit natürlich nicht.



Die Sonne stand bereits am Horizont und der Tag neigte sich seinem Ende zu. Bisher, das musste ich zugeben, verlief die Reise sehr angenehm.
Gerade war man dabei den Gästen, also uns, ein Abendmahl zuzubereiten. Wir saßen alle zusammen auf den berühmten Kissen an Deck, wo wir bereits den größten Teil des Tages verbracht hatten. Denn an der Reling zu stehen und die Umgebung zu betrachten, war zwar sehr schön, aber auf Dauer zu heiß, war man doch der Sonne direkt ausgesetzt.
Hier unter einem großen, aufgespannten Leinentuch, hatte sich die Mittagsstunde angenehm verbringen lassen.

Langweilig wurde es auch nicht. Das Pärchen und Manu hatten sich nämlich nicht nehmen lassen, mich in ein Brettspiel namens Senet einzuführen. Es wurde zu zwei gespielt und ähnelte entfernt unserem heutigen Mensch-ärgere-dich-nicht.
Jedenfalls insofern, dass auch gewürfelt und Spielfiguren gezogen wurden.

Das Prinzip war nicht sehr schwer. Ich hatte es schnell verstanden und so hatten wir den Tag und Nachmittag spielend verbracht.
Dabei war abwechselnd jeder gegen jeden angetreten.

Nun aber geschah etwas Seltsames. Der Kapitän ließ halten und die anderen Schiffe folgten seinem Beispiel.
Der Anker wurde von Bord geworfen. Das Schiff befand sich quasi in Parkposition.

Wozu diese Unterbrechung?
Ich war gerade im Begriff Manu danach zu fragen als mir die Idee kam, es könnte mit der anbrechenden Dämmerung zu tun haben.

Auf unserem Weg hatten wir mehrfach Sandbänke passiert, die bei Nacht und ohne Bugscheinwerfer nur schwer auszumachen sein würden.
Vielleicht konnte man deshalb bei Nacht nicht fahren, da das Risiko auf Grund zu laufen zu groß war.

Zwar hätte eine entsprechende Frage Gewissheit gebracht, doch war sie zu riskant. Laut meiner Hintergrundstory hatte ich bereits den umgekehrten Schiffsweg bewältigt und müsste demnach mit solchen Gegebenheiten vertraut sein.

Jetzt kam das Abendessen.
Obwohl wir uns direkt an der Quelle befanden, sah der Speiseplan keinen Fisch vor. Stattdessen gab es irgendein Fleisch, nach dessen Herkunft ich mich aber nicht erkundigte. Jedenfalls schmeckte es.

Zu trinken gab es Wein, den der mit uns speisende Kapitän als „aus eigener Herstellung“ deklarierte. Wie meistens bei solcherart ausgezeichneten Tropfen schenkte der gütige Wirt mehr davon aus, als der Durst verlangt.
So saßen wir auch nach der Mahlzeit noch lange mit stets gefüllten Gläsern beisammen. Wir lauschten den Tempel-Anekdoten von verirrten Besuchern und betrunkenen Priesterinnen, die Amendat zum Besten gab und die mit fortschreitender Stunde immer freizügiger wurden.

Schließlich wurde die gesellige Runde aufgehoben und man wünschte sich eine gute Nacht.
Die Nachtlager entsprachen ungefähr dem, das ich in Manus Vorzimmer gehabt hatte. Nur waren sie etwas besser gepolstert.
Man schlief auf Deck, denn der Bauch des Schiffes war mit Waren gefüllt. Außerdem ging hier ein angenehmes Lüftchen. Eine willkommene Abwechslung zur Hitze des Tages.

Stark angeheitert, dauerte es trotz der nicht allzu bequemen Lage nur kurz, bis ich neben Manu eingeschlafen war.



Irgendein Geräusch weckte mich.
Es war Elisas eindringliche Stimme.

„Warnung! Mehrere Personen haben sich in Booten den Schiffen genähert. Die Wahrscheinlichkeit, dass es sich hierbei um einen Überfall handelt, liegt über 98%.“

Der Inhalt dieser nüchternen Mitteilung traf mich wie ein elektrischer Schlag. Ich fuhr in die Höhe und brüllte: „Überfall!“

In der Eile hatte ich zwar deutsch gesprochen, aber allein die Lautstärke weckte jeden an Bord. Ich beeilte mich den Warnruf auf Ägyptisch zu wiederholen.

Schlagartig kam Leben in die Besatzung. Der Kapitän war sofort hellwach und brüllte seine Befehle. Die Männer begannen sich zu bewaffnen.
Doch die Angreifer waren ihnen einen Schritt voraus. Die ersten schwangen sich bereits über die Reling von ihren Booten aufs Deck.

Und sie waren bewaffnet. Sie trugen Speere auf dem Rücken und Säbel am Gürtel.

Manu war ebenfalls erwacht und zog mich nun mit sich.
„Komm schon Ameniu, wir müssen sofort unter Deck! Da warten wir bis alles vorüber ist.“

„Geh schon vor!“, rief ich, mich nach meinem Reisegepäck umschauend.
Kaum hatte ich den Stapel entdeckt, hechtete ich geduckt darauf zu. Ich riss das Unterhemd heraus und streifte es mir über.

Manu hatte sich indessen nicht vom Fleck bewegt. Jetzt zog ich ihm mit mir: „Los!“

Die Angreifer hatten ihre Waffen gezogen und kämpften bereits mit der Mannschaft. Das Priesterpaar war schon unter Deck geflüchtet.
Amendat stand in der Luke am Boden und hielt sie für uns auf. Fast hatten wir den rettenden Eingang erreicht.

Im Laufen vernahm ich einen lauten Ruf hinter uns und drehte mich um. Einer der Eindringlinge war auf uns aufmerksam geworden.
Er holte mit seinem Speer aus und schleuderte ihn in unsere Richtung.

Ich wollte mich Ducken und Manu dabei mitreißen, aber er hatte wohl eine ähnliche Idee. Er warf sich auf mich, um mich zu schützen.
Doch es war zu spät. Im Fallen traf ihn der Speer von hinten und durchbohrte ihn.

„Neeeiin!“, schrie ich auf. Das durfte nicht wahr sein! Der verdammte Speer hätte mich Treffen sollen, er wäre einfach an der Nanostruktur des Hemds abgeprallt.

Manu schrie auf und begrub mich unter ihm. Vorsichtig schob ich ihn zur Seite und befreite mich von der Last seines bewusstlosen Körpers.
Er musste so schnell wie möglich medizinisch versorgt werden. Wir mussten den Kampf gewinnen!

Ich blickte mich um. Der Kapitän focht mit der wilden Entschlossenheit seine Flotte zu verteidigen.
Zwei Besatzungsmitglieder lagen am Boden. Immer noch waren mindestens vier der Fremden an Bord und lieferten sich ein Gefecht mit der Crew.
Ich hatte keine Ahnung, wie die Sache ausgehen würde.

Jetzt kam einer der Räuber auf mich zu. Es war derjenige, der den Speer auf Manu geschleudert hatte.
Ich sah mich um, fand aber nichts womit ich mich hätte verteidigen können.

Dazu blieb mir auch keine Zeit mehr. Der Angreifer war bereits heran und stieß mir mit aller Wucht sein Schwert in die Rippen.
Doch der Effekt war anders, als er erwartet hatte. Es gab ein grässliches Kreischen und die Luft wurde mir aus den Lungen gepresst. Wie als hätte mich jemand gerammt, wurde ich ein Stück nach hinten geschleudert.

Dem Säbel erging es weniger gut. Die Klinge zerbrach in zwei Teile.
Der Mann starrte mich weit aufgerissenen Augen an. Er verstand nicht, was da gerade passiert war.

Diese Schrecksekunden wurden ihm zum Verhängnis, denn der Kapitän war inzwischen herangekommen, um seinen Gast zu beschützen.
Ohne zu zögern durchbohrte er den Eindringling von hinten. Es war eine recht widerliche Angelegenheit. An das Entsetzen in den Augen des Sterbenden würde ich mich noch einige Nächte lang erinnern.

„Alles in Ordnung mit dir?“, fragte mein Retter.
Ich nickte und rappelte mich wieder hoch.

Der Kapitän jagte sofort zurück ins Kampfgetümmel. Das Blatt hatte sich indessen eindeutig zu unseren Gunsten gewendet. Einer der Angreifer wurde soeben über Bord befördert.
Der letzte ergriff nun die Flucht, kam aber nicht weit.

„Statusbericht!“

„Die Angreifer wurden auf allen Schiffen zurückgeschlagen. Der überlebende Rest flieht. Folge der Kampfhandlungen sind fünf Verletzte und drei Tote auf unserer Seite.“

Ich hastete zu Manu zurück, der immer noch am Boden lag und einer dieser Verletzten war. Er war inzwischen aufgewacht, aber der Speer steckte noch unterhalb seiner Schulter.

Ich kniete neben ihm nieder.
„Medizinische Analyse!“, wies ich Elisa an.

Sofort erschien eine dreidimensionale, durchsichtige Abbildung seines Körpers, welche die verletzte Stelle vergrößert dargestellte. Zum Glück schien die Speerspitze simpel gefertigt zu sein und nicht mit Widerhaken oder ähnlichen Gemeinheiten versehen.

„Das Wurfgeschoss hat den Körper zu 78 Prozent durchschlagen. Es sind erhebliche Gewebeschäden entstanden. Eine Rippe ist gebrochen. Lebenswichtige Organe wurden nicht verletzt.

Empfohlene Notfallbehandlung: Verabreichen Sie dem Verletzen eine Dosis Nanobots, die schmerzstillende und entzündungshemmende Medikamente freisetzen. Dann Entfernung des Fremdkörpers und Anlegen eines Druckverbands. Die Nanobots werden die Geweberegeneration unterstützen.
Das medizinische Notfallprogramm des TTEK ist nur für Eigenbehandlung ausgelegt, sie müssen dem Verletzten das rechte Armteil anlegen.“

Das war nicht viel, aber wenigstens konnte ich etwas tun.

Ich nahm seine Hand.
„Alles wird gut Manu. Du wirst wieder gesund“, versprach ich ihm.

Dabei löste ich das Gerät von meinem rechten Arm und streifte es über seinen. Zum Glück passte es halbwegs, denn seine Arme waren nicht dicker als meine.
Ein sanftes Zischen verriet mir die erfolgte Injektion. Manu merkte nichts davon.

Die beiden anderen Passgiere waren mittlerweile wieder aus dem Frachtraum geklettert. Der Priester kam gleich auf uns zu und kniete sich mir gegenüber neben Manu.

„Ich habe am Tempel unter anderem die Medizin studiert. Mal sehen, ob ich ihm helfen kann.“
Dabei begann er die Eintrittswunde des Speers zu untersuchen.

„Wir müssen ihn herausziehen“, war sein scharfsinnier Schluss, auf den ich auch ganz ohne Studium der Medizin gekommen wäre.
Amendat ging zu seinem Gepäck und kramte etwas hervor. Es war ein Lederbeutel, dem er jetzt einen Leinenverband entnahm.

„Den habe ich immer dabei, für den Notfall.“

„Haben sie so etwas denn schon mal gemacht?“, fragte ich kritisch, als er Hand an den Speer legen wollte.

„Nicht direkt, aber mein Lehrer hat es mir während meiner Ausbildung einmal vorgeführt.“
Das klang wirklich vertrauenserweckend.

Trotzdem ließ ich ihn gewähren, denn um meine Erfahrung in diesen Dingen stand es noch schlechter.
Meine letzte ernsthafte Verletzung lag über ein Jahr zurück. Ich war auf der Leiter einer Wartungsluke im ATR-Gebäude ausgerutscht, als ich eine Kontrollmessung durchführen wollte.
Das war zwar davor noch niemandem passiert, aber Lisa bestand daraufhin auf das Einführen einer Seilpflicht für Wartungsluken.
Jedenfalls hatte ich wegen des Sturzes mit einem gebrochenen Bein und geprellten Rippen drei Tage auf der Krankenstation gelegen. Danach war Dank der Kombination aus moderner Nano- und Stammzelltechnologie der Bruch weitgehend verheilt.

Wenn ich da an die Geschichten meiner Eltern und Großeltern von Gipsbeinen und Krücken denke… Ich glaube fast, die Gesellschaft verweichlicht durch diese Fortschritte.

Der Medizinpriester zog gerade den Speer heraus.

„Oh, das tut ja nicht mal weh“, kommentierte Manu die Aktion.
Vielleicht hatte es Elisa mit dem Schmerzmittel etwas zu gut gemeint.

Jetzt wurde der Verband angelegt. Mein Gott, so viel Blut. War das nicht bedenklich?

Ich fragte Elisa danach, erhielt aber die beruhigende Antwort, dass der Blutverlust noch weit unter der kritischen Marke lag.

Der Doktor blickte mit zufriedener Miene auf die verrichtete Arbeit und sprach noch eine Art Zauberformel. Nun, jeder tat was er konnte.
Dann ging er weiter, um sich die anderen Verwundeten anzusehen.
Ich tat dies ebenfalls, beziehungsweise ließ es Elisa tun. Zwei waren bereits tot. Der Kapitän und ein weiteres Besatzungsmitglied hatten nur leichte Verletzungen davon getragen.

Ich ging also wieder zurück zu Manu.
„Wie fühlst du dich?“

„Ging schon mal besser“, scherzte er. „Aber es tut wenigstens nicht mehr weh.“

„Gut, dann bleib einfach liegen. Ich hole dir einige Kissen zum Unterlegen.“

Nachdem ich Manu in eine bequemere Liegeposition versetzt hatte, trat ich neben den Kapitän. Er stand aufmerksam ausschauend an der Reling.

„Dieses Gesocks! Das sind Wüstennomaden, die sich ihren Lebensunterhalt mit dem Ausrauben von Frachtschiffen verdienen.
Ich danke dir wirklich sehr, Botschafter Ameniu. Hättest du einen festeren Schlaf gehabt, wären wir jetzt vermutlich alle tot.“

Den Dank hätte ich eigentlich an Elisa weiterreichen müssen. Denn ohne sie wäre ich garantiert nicht aufgewacht.

Ich machte den Vorschlag jede Nacht Wachposten aufzustellen.
„Natürlich. Das habe ich bereits angeordnet. Es dauert noch drei Stunden, bis die Sonne aufgeht und wir unseren Weg fortsetzen können. Du solltest solange noch etwas schlafen, Botschafter.“

Ich nickte und kehrte zu meinem Lager zurück, das ich kurzerhand neben Manus Liegestelle verlegte.

Ich rauchte zwar nicht, aber wenn es zu dieser Zeit bereits die Möglichkeit gegeben hätte, wäre ich vielleicht in Versuchung gekommen.
So lag ich noch bis zum Morgengrauen wach, denn an Schlaf war nicht mehr zu denken.



Die Fahrt wurde fortgesetzt, kaum dass sich die ersten Sonnenstrahlen im Wasser spiegelten. Das Frühstück stand nun an und ich half Manu, sich in eine aufrechtere Sitzposition zu bringen.

Wie mir Elisa mitteilte, machte die Wunde gute Fortschritte.
„Die Geweberegeneration wird in drei Tagen abgeschlossen sein. Außerdem werden die oberen fünf Millimeter des Gewebes ausgespart, sodass die Optik der Wunde gewahrt bleibt.“

Gut, dass sie daran gedacht hatte. Andernfalls hätte ich sie etwas bremsen müssen, denn die Wundheilung sollte ja nicht zur Wunderheilung werden.

„Wie geht es dir heute Morgen?“, fragte ich Manu.

„Schon viel besser, ich fühle mich fast wie neu. Nur wenn ich den linken Arm bewege, dann tut es weh. Also halte ich ihn eben still. Ich bin so wie so Rechtshänder.

Aber heute Nacht hat es mich echt heftig erwischt. Ich hatte sogar Halluzinationen. Ich sah wie ein Mann mit dem Schwert auf dich losging. Aber anstatt dich zu durchbohren, brach die Klinge entzwei.“

Da war er wohl doch früher aus der Ohnmacht erwacht, als ich gedacht hatte.

„Ja, wirklich komisch“, war alles, was mir dazu einfiel.

„Ach so, wieso hast du mir eigentlich deinen Armschmuck umgelegt?“

„Er hat mir immer Glück gebracht. Ich habe gehofft, dass er dir bei der Genesung auch Glück bringt.“
Das war immerhin ein Teil der Wahrheit.

„Dann kannst du ihn ja jetzt zurück haben.“

Das ging nicht. Manu durfte ihn auf keinen Fall ablegen, denn ohne die Induktionsenergie aus dem Armteil würden die Nanobots ausfallen. Dann wäre es vorbei mit der angenehmen Heilung.

„Nein, behalt ihn noch ein paar Tage an. Nur um sicher zu gehen.“

„Wie du meinst. Komm mal etwas näher, Ameniu. Ich möchte dir etwas ins Ohr flüstern.“

Ich rückte neben ihn und hielt im gespannt mein Ohr hin.

„Vielen Dank, dass du dich um mich kümmerst. Ich liebe dich.“

Ich wurde rot im Gesicht. Das hatte noch Niemand zu mir gesagt.
Aber erwiderte ich diese Liebe? Konnte ich das? Durfte ich das?

Kapitel 12

Endlich! Wir waren am Ziel. Memphis lag wenige Kilometer voraus.

Jetzt, zwölf Tage nach unserer Abreise, wiederholte sich die Abfolge der Landschaften in umgekehrter Reihenfolge.
Zuerst passierten wir die Felder, auf denen erneut Bauern fleißig für die Kornproduktion sorgten. Dann mehrten sich die Hütten am Wegesrand und schließlich erhoben sich hinter der Stadtmauer die ersten Gebäude vor uns.

Als wir in den Hafen einfuhren, war ich überrascht von seiner Größe und den Ausmaßen der Stadt.
Neben mir standen Manu zu meiner Rechten und das Priesterpaar zu meiner Linken. Alle bestaunten sie wie ich die Metropole Ägyptens.

Gleich am dritten Tag meiner Abreise hatte ich den letzten Kontakt zur Basis gehabt. Aber neben der Übermittlung eines zusammenfassenden Berichts – in dem Elisa hoffentlich bestimmte delikate Details ausgespart hatte – waren keine Neuigkeiten zu vermelden gewesen.

Manus Verletzung war bereits soweit abgeheilt, dass er keines Verbandes mehr bedurfte. Trotz Elisas Vorsicht hatte der Priester und Hobbyarzt Amendat, Manu eine „außerordentliche, ja enorme“ Selbstheilkraft unterstellt. Dem so Gelobten blieb nichts anders übrig, als verlegen mit den Achseln zu zucken und sich über die Genesung zu freuen.
Das entliehene Armteil hatte ich auch wieder an mich genommen.

„Dr. Marten, ich empfange eine sehr schwache Energiesignatur.
In unserer Herkunftszeit wäre sie unmöglich zu entdecken gewesen. In dieser Zeit aber, unter Abwesenheit jeglicher künstlich erzeugter Energie, fällt das Signal auf.“

Eine elektromagnetische Abstrahlung, 1400 Jahre vor Christus! Ich würde einen Besen fressen, wenn dies nicht auch die Quelle der von Lisa beschriebenen Störstrahlung war.

„Wo liegt der Ursprung des Signals?“, fragte ich gespannt.

„Eine Lokalisierung ist nicht möglich, dafür ist das Signal noch zu schwach. Vielleicht erhöht sich die Intensität, wenn Sie sich der Quelle nähern.“

Das würde sie bestimmt. Nur bestand das eigentliche Problem darin, herauszufinden in welcher Richtung diese Quelle zu suchen war. Vielleicht hatte ich ja Glück und das Signal würde in der Innenstadt stärker werden.

„Da wären wir. Willkommen in Memphis!“, dröhnte der Kapitän hinter uns. „Es war mir ein Vergnügen mit euch zu reisen. Vergesst euer Gepäck nicht und mögen die Götter mit euch sein.“

Das war wohl der Vor-Vorläufer von „Vielen Dank für Ihre Reise mit der deutschen Bahn“.

Gutgelaunt gingen Manu und ich von Bord. Der Kapitän hielt uns noch kurz zurück und übergab uns zwei Säbel mit der Bemerkung „man weiß ja nie“.
Was ich vor allem nicht wusste war, wie im Ernstfall mit dem Teil umzugehen wäre.

Wir verabschiedeten uns noch herzlich von Amendat und Aneksi, die uns mit der Aufforderung entließen, sie doch mal zu besuchen.

Etwas ratlos stand ich vor dem Anlegeplatz unseres Schiffs.
„Wohin nun?“, fragte ich Manu.

„Ich dachte, du sagst mir das? Schließlich suchst du ja Jemanden, nicht ich.“

„Sicher. Ich dachte auch weniger an die Suche, bei der ich übrigens auch noch nicht weiß, wo anzufangen sei. Ich hatte dabei mehr die Frage im Sinn, wo wir heute Nacht unterkommen sollen?“

Ob es damals auch so etwas wie ein Hotel oder zu mindestens Gasthaus gab?

„Oh, da weiß ich schon was. Ein Teil der Familie meiner Frau lebt hier. Sie werden uns sicher für ein paar Nächte aufnehmen.“

„Meinst du wirklich? Immerhin bist du nicht gerade in Frieden abgereist. Vielleicht hat sie ihrer Familie irgendwas gesagt?“

Manu lachte nur.
„Erstens würde sie das wegen ihres Stolzes niemals tun. Zweitens, wie hätte sie das bewerkstelligen sollen? Kein Schreiben von ihr könnte vor uns angekommen sein.“

Ah, natürlich. Ich war eben geprägt vom Zeitalter der globalen Kommunikationsnetze. Jederzeit und überall erreichbar.

In meinem Fall hatte vor allem jederzeit eine besondere Wahrheit.

„Na gut, dann lass uns erst mal dorthin gehen. Wir können ja morgen mit der Suche beginnen. Außerdem wird es schon dunkel.“

„Du wirst sehen, meine Schwiegermutter wird sich über den Besuch freuen. Seit ihr Mann gestorben ist, hat sie nicht mehr viel Besuch.“

So schritten wir also durch die belebten Straßen Memphis. Eigentlich sah es genauso aus wie in Theben, nur noch etwas größer und mit mehr Menschen.
Ab und zu passierten wir einen Brunnen oder eine größere Zisterne. Dort war immer Betrieb und man konnte die Frauen und Kinder beim Wasserschöpfen beobachten. Manche standen einfach nur plaudernd da.
Alles schien mir einen harmonischen, ja fast idyllischen Eindruck zu machen. Aber vielleicht täuschte das auch.

Die nächste Straße war bereits weniger belebt. Auch machten die Häuser hier einen etwas heruntergekommen Eindruck.
Manu bog in eine Seitenstraße ein und hier verstärkte sich dieser Eindruck noch.

„Sag mal, bist du dir sicher mit dem Weg?“

„Naja, mein letzter Besuch liegt schon drei Jahre zurück. Und die Stadt ist seitdem gewachsen. Ich glaube, wir sollten da vorne wieder nach links gehen.“

Mit anderen Worten, wir hatten uns verirrt. Nun, wir würden unser Ziel schon irgendwann finden. Auch ohne Stadtplan.

Gerade als wir um die Ecke biegen wollten, sprang Jemand vor uns aus dem Schatten der Häuserwand. Er hielt ein Messer in der Hand.

Das durfte nicht wahr sein! Hatten wir etwa ein Schild „bitte überfallen“ auf dem Rücken?
Andererseits waren wir selbst schuld. Wir hätten diese zwielichtige Straße erst gar nicht betreten sollen. Und erst recht nicht bei Dämmerung.

Manu zog sofort seinen Säbel. Ich tat es ihm gleich.
Wir wichen langsam zurück, wobei der Räuber uns folgte.

„Achtung! Hinter Ihnen befindet sich ein weiterer Angreifer.“

Ich schnellte herum und sah das Elisa Recht hatte. Sie hatten uns von beiden Seiten her eingekesselt.

„Gebt mir euren Schmuck und euch wird nichts geschehen!“

Da ich keinen Schmuck besaß, meinte der Dieb wohl Manu.

„Niemals!“, antwortete dieser zu meiner Überraschung.
Ich vertrat klar die Meinung, dass Nachgeben in dieser Angelegenheit klüger wäre.

„Wir sollten tun, was sie verlangen, Manu. Ich will nicht, dass du nochmal verletzt wirst.“
Außerdem trug ich mein Unterhemd nicht. Ich hatte es mir im Wäschestapel unter den Arm geklemmt.

Aber Manu hatte seinen Stolz. Er blieb stur.
„Ameniu, du kümmerst dich um den hinter uns. Ich nehme den vorderen.“

Das konnte nicht sein Ernst sein. Ich hatte doch nicht die leiseste Ahnung vom Schwerkampf. Ich wollte einen entsprechenden Einwand formulieren, doch es war zu spät. Manu und der Dieb kreuzten bereits die Klingen.

Mein Gegner schien das als Aufforderung zu werten, ebenfalls zu beginnen. Er stürmte los.

Da ich im Kampf gegen ihn chancenlos wäre, verlegte ich mich auf ein Ablenkungsmanöver. Ich nahm das Bündel Wäsche und schleuderte es ihm entgegen.

Es klirrte als mein Wurfgeschoss mit seinem Säbel kollidierte. Er hatte wohl das Unterhemd getroffen.
Der Zusammenstoß hatte zwar seiner Klinge nicht geschadet, lenke ihn aber für einen Moment ab.

Einige Schritte neben mir lag ein faustgroßer Stein am Wegesrand. Ich hechtete zu der Stelle, um ihn aufzuheben.
Manu schlug sich auch nicht gerade gut. Der Räuber schien sein Handwerk zu beherrschen. Sicher jahrelange Berufspraxis.

Sobald ich ihn in der Hand hielt, schleuderte ich den Stein mit aller Wucht auf meinen Kontrahenten. Der drehte sich gerade zu mir, um die Verfolgung wieder aufzunehmen. Dazu kam es aber nicht.
Der Stein traf ihn hart im Gesicht. Er verlor das Gleichgewicht und kippte um.

Auf dem Boden aufgekommen regte er sich nicht mehr. So weit so gut.

Bei Manus Gegner sah die Sache etwas anders aus. Der hatte es inzwischen fertiggebracht meinen Freund zu entwaffnen.
Er hielt ihm die Klinge an den Hals. Manu keuchte.

Verdammt! Ich musste etwas tun.

„Hey!“, rief ich. „Du kannst meinen Schmuck haben. Hier ist er.“
Dabei löste ich das rechte Armteil des TTEK von meinem Arm und hielt es ihm hin. Jedoch nicht wahllos, sondern in einer bestimmten Lage. Mit nur etwas Glück würde er beim Zugreifen das Injektionsmodul an der Innenseite berühren.

„Betäube ihn, sobald Haukontakt besteht!“, wies ich Elisa lautlos an.

Der Dieb lachte.
„Sie sind doch alle gleich, die Reichen. Selbstsicher ziehen sie. Selbstsicher kämpfen sie. Aber wenn es dann um ihr Leben geht, kommen sie angerkochen.“

Er griff nach dem Armteil.
„Auch das andere“, schnauzte er mich an. „Und du auch“, wies er auf Manu.

„Ich konnte 23 Nanobots injizieren. Sie wurden programmiert zur nächsten Ader vorzudringen und dort das Betäubungsmittel abzugeben.“

Das war nicht gerade eine beachtliche Menge. Ich hoffe nur, dass das Präparat stark genug war.

Manu hatte inzwischen mit dem Ablegen seinen Schmucks begonnen.
Ich sah mich um. Der auseinandergefallene Wäschestapel lag nur einen Meter entfernt. Wenn wir schnell fliehen mussten, konnte ich ihn mitnehmen. Das war gut, denn ich wollte auf keinen Fall auf das Unterhemd verzichten.

Ich betrachtete den verbliebenen Dieb ganz genau. Jetzt warf er das Armteil in einen Beutel, um Manus Schmuck entgegen zu nehmen.
Ich hoffte inständig, dass die Nanobots bereits eine Ader erreicht hatten. Wenn nicht, wäre es zu spät. Ohne die Energiequelle des TTEK waren sie nur ein Haufen Mikroschrott.

Plötzlich fing der Mann heftig an zu blinzeln. Er strauchelte nach hinten.

„Komm!“, schrie ich Manu zu. Ich rannte zu dem Wäschehaufen und klaubte auf, was ich in die Finger bekam.
Dann riss ich dem verwunderten Kriminellen den Beutel aus der Hand. Rennend nahm ich den Weg Richtung Innenstadt, der verdutzte Manu neben mir.

Wir rannten die Straße entlang.
Unser Verfolger hatte sich von der geringen Dosis inzwischen erholt. Mit flinken Schritten setzte er uns nach.

„Schneller! Er ist hinter uns.“

Wir liefen so schnell wir konnten. Zum Zurückblicken war keine Zeit mehr.
Eine halbe Minute später hatte sich die Umgebung verändert. Die Wege waren wieder breiter und eine Hauptstraße schien ganz in der Nähe zu verlaufen. Selbst einige Menschen kreuzten unseren Weg.

Keuchend und prustend blieben wir stehen und sahen uns um. Von dem Dieb war keine Spur mehr. Er traute sich offensichtlich nicht, uns in belebtem Gebiet zu verfolgen.

Manu zeigte ein erleichtertes Gesicht.
„Puh… da haben wir wirklich Glück gehabt. Der hatte wohl etwas zu viel Wein intus. Wollte sich Mut antrinken, oder so.“

Es war schon interessant, wie gut Manu es verstand, Erklärungen für solche Dinge zu finden. Obwohl mir das mit dem Wein nicht sehr plausibel erschien. Schließlich hatte der Räuber sehr wachsam gekämpft.
Aber ich würde mich hüten, ihm diese Zweifel an seiner Theorie mitzuteilen.

„Wie kommen wir jetzt zu der Familie deiner Frau?“, fragte ich stattdessen.

„Die Gegend hier kommt mir bekannt vor. Ich glaube, ich finde den Weg jetzt.“

Und tatsächlich, wenige Minuten später standen wir vor einem Haus, das Manu als das Richtige wiedererkannte. Er betätigte den Klopfer an der Tür.

Kurz darauf erschien eine junge Dienerin. „Ihr wünscht?“, fragte sie uns.

„Ich bin Imanuthep, der Mann von Naha. Und dies ist Botschafter Ameniu. Ist die Herrin des Hauses zu sprechen?“

„Tretet doch ein. Ich werde euch bei Shani melden.“

Wir betraten den Empfangsraum. Ich fühlte mich gleich an Manus Behausung erinnert, denn der Baustil war ganz derselbe. Nur war der Raum etwas anders ausgestattet und die Wände anders geschmückt.

Eine Frau, wohl Ende 30, kam uns entgegen. Ich vermutete, dass es Shani war, Nahas Mutter und die hiesige Hausherrin.

„Manu! Schön dich wieder mal zu Gesicht zu bekommen. Und wie ich sehe, hast du mir einen Gast mitgebracht. Willkommen in meinem Haus, Botschafter Ameniu.“

Ich verbeugte mich leicht.

„Aber was führt dich hierher, Manu? Ich hoffe doch, es gibt nichts zu Beklagen. Ich meine wegen meiner Tochter.“

„Aber nein!“, beeilte sich Manu zu versichern. Diese Frage hatte ihn ein wenig verlegen gemacht. Er dachte sich sicher, dass wenn man sich beklagen müsse, dann wohl über ihn.

„Ich bin geschäftlich hier, zusammen mit meinem Freund, dem Botschafter. Da ich hier eigentlich niemanden kenne außer dir, habe ich mich gefragt, ob wir nicht für die Dauer unseres Aufenthalts bei dir unterkommen können. Es sind auch maximal ein paar Tage.“

Das Gesicht der Witwe erhellte sich. Die Aussicht auf Gesellschaft, wenn auch nur für eine Weile, schien sie zu freuen.

„Nichts lieber als das, ihr könnt bleiben solange ihr wollt. Du kennst dich ja aus, Manu. Im ersten Stock sind die Gästezimmer. Davon haben wir seit dem Tod meines Mannes – möge Re über ihn wachen – genug.
Wenn ihr soweit seid, erwarte ich euch im Garten. Ihr seid sicher hungrig. Ich werde gleich etwas auftragen lassen.“

Dankend gingen wir nach oben. Shani erinnerte mich sehr an meine Großmutter. Immer um ihre Schützlinge besorgt, die in ihren Augen stets am Verhungern sein müssten.

Wir ließen sie deshalb auch nicht lange warten. Nachdem wir unser geringes Gepäck in den beiden – natürlich getrennten – Zimmern abgeladen hatten, machten wir uns auf den Weg in den Garten.

„Durch Korrelation des Signal-Intensitätsverlaufs mit ihrer Position, während Sie sich durch die Stadt bewegten, konnte ich den Ursprungsort des Signals eingrenzen. Immer vorausgesetzt, das Signal hat sich währenddessen nicht bewegt.“

Elisa blendete eine Karte ein, auf der das vermutliche Ursprungsgebiet des Signals markiert war. Ich stolperte und wäre fast die Treppe heruntergefallen, da ich die Stufen nicht mehr richtig sehen konnte.
Manu fing mich gerade noch rechtzeitig auf.

„Ameniu, was machst du nur für Sachen. Selbst beim Treppensteigen muss ich auf dich aufpassen.“

Elisa hatte die Karte sofort wieder ausgeblendet.
„Entschuldigen Sie, Dr. Marten. Diesen Parameter hatte ich nicht bedacht.“

Kein Wunder. Der Parameter menschliche Dummheit war Computern eben fremd.

Um das Signal würde ich mich morgen kümmern. Auch wenn ich am liebsten jetzt danach gesucht hätte, es ging nicht.
Wie wir am eigenen Leib erfahren hatten, sollte man die Straßen nachts meiden.

„Setzt euch doch. Es ist nicht gerade viel übrig, ich hoffe es reicht euch.“

Scherzte die Frau? Der Tisch war beladen mit allerlei Obst, gekochtem Gemüse und verschiedenem Fleisch. Es war zweifelhaft, ob wir das alles würden verdrücken können.
Ich hatte eher das Gefühl, die Vorratskammer Shanis warte nur auf einen Besuch wie unseren.

„Aber erzählt mir etwas. Ich bin eine alte Frau und komme nicht mehr viel herum. Wie war die Reise?“

Alt war sie sicher nicht. Aber ich dachte auch in Verhältnissen des 21. Jahrhunderts, mit einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 80 Jahren. Hier waren es nur 35.

Ich überließ Manu das Reden. Der erzählte dann auch seiner Schwiegermutter von der Reise. Wobei er sich im Wesentlichen auf den spannenden Teil beschränkte, den Überfall.

„Bei den Göttern“, „Nein, ist es möglich?“, „Du, verletzt?!“
So und ähnlich waren ihre Kommentare. Sie genoss es sichtlich, eine solch spannende Geschichte serviert zu bekommen. Ich genoss derweil die servierten Gerichte.

Noch größer als ihre Freude war nur die Sorge um ihren Schwiegersohn.
„Und jetzt bist du wieder gesund?“

„Ja, völlig gesund. Der mitreisende Priester war glücklicherweise heilkundig.“

Von dem erneuten Überfall erzählte Manu aber nichts. Es war wohl besser so, schließlich sollte Shani nicht unnötig beunruhigt werden.

Das Gespräch zwischen den beiden war verebbt und die Hausherrin wandte sich mir zu.

„Lieber Botschafter, jetzt musst du mir aber auch etwas von dir erzählen. Ich glaube du hast noch kein einziges Wort gesagt, seitdem ihr hier seid.“

Nun, das hatte irgendwann kommen müssen. Stummheit konnte ich nicht mehr vortäuschen, denn das passte mit meiner Eigenschaft als vermeintlicher Botschafter einfach nicht zusammen.

Ich fand es immer noch etwas verwirrend, dass die Ägypter keine förmliche Anrede besaßen. Förmlichkeit entstand durch die Nennung des Titels.

„Es tut mir leid Shani, dass ich bisher schweigsam war. Meine Sprachkenntnisse sind nicht so gut.“

„Oh, die scheinen hervorragend zu sein, mein lieber Ameniu. Nur hapert es an der Aussprache. Aber lass mich dir ein paar Tipps geben.
Oder noch besser, lass mich dir einige Sehenswürdigkeiten unserer schönen Stadt empfehlen.“

Zwar war ich nicht auf Sightseeing-Tour hier, ließ mich aber notgedrungen belehren.

„Allen voran wären da die drei großen Pyramiden der Pharaonen Cheops, Chephren und Mykerinos. Sie sind sehr beeindruckend aus der Nähe.
Wobei es dort in letzter Zeit spuken soll, wenn man nach dem Gerede der Leute geht. Aber darauf gebe ich nichts.“

Manu lachte leise in sich hinein. Sicher wünschte er sich, Naha würde ebenso denken.

Kapitel 13

Der nächste Morgen kam und ich wachte verschlafen in meinem Bett auf.
Es war recht spät geworden, bis uns die Dame aus ihrer Gesellschaft entlassen hatte.

Manu und ich schliefen selbstverständlich in getrennten Zimmern. Ein Gutenachtkuss war das höchste, was an Zärtlichkeiten drin war. Alles andere wäre zu gefährlich gewesen.

Das letzte was Manu wollte war, dass auch seine Schwiegermutter hinter sein kleines Geheimnis kam.
Ich fragte mich jedoch wie das weiter gehen sollte. Ich konnte doch nicht immer sein als Diener getarnter, geheimer Liebhaber sein. Oder?
Und seiner Frau konnte ich erst recht nicht mehr unter die Augen treten.

Egal, diese Fragen mussten warten. Erst würde ich mich um das Signal kümmern.

„Zeig mir nochmal die Karte, Elisa.“

Die virtuelle Landkarte, die mir gestern fast zum Verhängnis geworden wäre, erschien erneut. Die Stadt Memphis war als grober Umriss eingezeichnet.

Einige Kilometer entfernt war das vermutliche Ursprungsgebiet des Signals markiert.

Es handelte sich um die Umgebung der Pyramiden von Gizeh.
Sehr interessant. Vielleicht war in dem Gerücht über vermeintlichen Spuk doch etwas Wahrheit enthalten.

„Hat das Signal seine Position über Nacht verändert?“

„Das lässt sich nicht mit Bestimmtheit feststellen. Es ist aber keine signifikante Änderung der Signalstärke erfolgt, was auf einen stationären Aufenthalt des Signals hinweist.“

Also würde ich auf jeden Fall in diesem Gebiet mit der Suche beginnen.

Ich gähnte und streifte mir die inzwischen vertraute Bekleidung über.
Die Pyramiden lagen mehrere Kilometer entfernt. Ich würde einen Wagen benötigen, um dorthin zu gelangen.

Obwohl ich Manu nicht in die Sache mit hineinziehen wollte, blieb mir keine Wahl. Ich hätte ihm kaum verkaufen können, dass ich die Pyramiden gerne ohne ihn besichtigen würde.

Zunächst ging ich ins Bad, um mich ein wenig frisch zu machen. Die Hygienestandards entsprachen freilich nicht dem neuzeitlichen Niveau, aber es war besser als nichts. Sogar eine Art Zahnbürste hatte Manu mitgebracht. Anstatt Zahnpasta wurde eine Natronlösung verwendet.

Ich war fast fertig, als Manu hereinkam.

Er strahlte mich an. „Gegrüßt sei Re!“

Ich erwiderte diesen ägyptischen Morgengruß und setzte noch einen schnellen Kuss hinterher.

„Pass lieber auf, sonst kommt meine Schwiegermutter gleich durch die Tür.“
Das hielt ihn aber nicht davon ab, mir seinerseits einen weitaus innigeren Kuss zu gönnen. Unsere Zungen umkreisten einander. Hätte ich die Zähne noch nicht geputzt, wäre das danach nicht mehr nötig gewesen.

Viel zu schnell lösten wir uns wieder. Meinetwegen hätte ich noch Tage so ausharren können, geborgen in seinen Armen und den Rest der Welt ausblendend.
Auch mein kleiner Freund machte sich bemerkbar. In den Nächten auf dem Schiff war an Zärtlichkeiten nicht viel drin gewesen. Es wurde Zeit das nachzuholen.

Aber nicht jetzt, dachte ich mir. Ich musste dieses Signal aufspüren, bevor es zu spät war. Wer weiß schon, ob es nicht morgen erloschen sein würde.

„Wir müssen runter, Manu. Shani wartet sicher schon mit dem Frühstück.“

Und es wurde langsam Zeit, mein heutiges Ausflugsziel ins Spiel zu bringen.

„Ich würde mir heute gerne die Pyramiden ansehen, Manu.“

„Aber wolltest du nicht unbedingt deinen Matrosen suchen? “

„Ja, schon. Aber das können wir doch am Nachmittag machen, erst mal etwas entspannen.“

Puh, ich hoffte, ich würde aus dieser Kollegen-Such-Geschichte heil wieder herauskommen.



„Gute Fahrt! Aber seid rechtzeitig zum Essen wieder zurück“, rief Shani dem mit uns davonrollenden Wagen nach.
Manu verdrehte die Augen. „Es ist ganz gut, dass ich nicht hier wohne.“

Ich musste lachen. „Sei doch froh, eine so fürsorgliche Schwiegermutter zu haben. Da gibt es ganz andere…“

Wir fuhren in gemächlichem Tempo durch die Straßen. Ich war erleichtert, jetzt oben auf dem Wagen zu sitzen. Zum einen vor der Sonne geschützt, zum anderen vor Dieben. Hoffentlich.

Es dauerte nicht lange und wir passierten die Stadtmauer. Zunächst waren die Hütten und Felder um uns, dann nur noch staubige Wüste. Die Luft war sehr trocken heute.

Manu schaute zum Horizont.
„Hoffentlich kommt kein Sandsturm auf.“

Der Hoffnung schloss ich mich an. Wie sollte ich etwas finden, von dem ich nicht einmal wusste wie es aussah, wenn mir ein Sandsturm die Sicht nahm.

„Es ist nicht mehr weit“, hörte ich den Wagenlenker von vorne rufen.

In der Tat waren die Pyramiden seit einiger Zeit im Hintergrund erkennbar und legten immer mehr an Größe zu. Im Vordergrund, vielleicht 100 Meter entfernt, lag eine kleine Siedlung. Sie wurde wohl von Menschen genutzt, die bei den Pyramiden arbeiteten.
Vielleicht entrichteten sie einen religiösen Dienst, vielleicht auch nur handwerkliche Instandhaltungsarbeiten.

Wir waren noch nicht bei der Siedlung angelangt, als sich die Sicht dramatisch verschlechterte. Wind kam auf und Staub verschleierte die Sicht.

„Also doch, der Sandsturm ist da. Hier binde dir das Tuch um Mund und Nase.“

Dankbar nahm ich das Leinen und band es hinter meinem Kopf zusammen.

Die Sicht war mittlerweile bis auf wenige Meter gesunken. Wäre nicht unmittelbar neben uns ein Gebäude aufgetaucht, hätte ich unsere Einfahrt in die Siedlung gar nicht bemerkt.
Die Pyramiden waren im Sandgestöber erst recht nicht mehr auszumachen.

Manu wandte sich zu mir um.
„Am besten wir suchen Schutz im Keller eines der Häuser und warten bis der Sturm vorüber ist. So würden wir jedenfalls nichts von den Pyramiden haben.“

„Es wird das Beste sein“, stimmte ich zu.

Meine Augen juckten furchtbar. Ich rieb daran, aber es wurde eher schlimmer. Der Staub vertrug sich offenbar nicht mit den Kontaktlinsen.
Ich versuchte sie herauszuholen, was als Ungeübter gar nicht so leicht war. Einen Moment lang dachte ich, sie in den Fingern zu halten, was sich aber als Irrtum erwies.

„Ameniu, kommst du? Wir können in diesem Haus Unterschlupf finden. Der Hausherr ist so nett uns Einlass zu gewähren.“

Wir gingen also in das Haus. Der Besitzer führte uns in den Keller, wo auch seine Frau und Kinder bereits Zuflucht gesucht hatten. Die oberen Stockwerke waren kaum geschützt, da die Fenster keine Scheiben besaßen.

„Systemfehler #134 – Verbindung zu Visorlinsen abgebrochen.“

Verdammt! Das durfte nicht wahr sein. Was war ich auch für ein Idiot.
Bei meinem Versuch sie abzulegen, muss ich die Linsen verloren haben. Eine Chance, sie nach diesem Sturm wiederzufinden, gab es nicht.

Nun, dann würde ich mich in Gesprächen eben noch kürzer fassen müssen. Denn Elisa würde mir die Übersetzung jetzt vorlesen müssen, die ich dann nachzuplappern hatte.

„Keine Sorge, Ameniu. Das kommt hier öfters vor. Es wird sicher nicht länger als eine Stunde dauern.“

Manu hatte wohl meinen besorgten Gesichtsausdruck gesehen und ihn auf den Sandsturm zurückgeführt.
Er saß neben mir an die Wand gelehnt und lächelte mich an. Ich lächelte zurück.

Ich hatte wirklich unglaubliches Glück gehabt, auf Manu zu treffen. Wer weiß, wo ich ohne ihn gelandet wäre und ob ich noch leben würde.
Außerdem war er immer so fürsorglich und richtig süß. Allein schon wie er lächelte, es war traumhaft.

Phillip, bist du etwa verliebt?
Tja… ich denke, dem war so.

„Dr. Marten, die fremde Energiesignatur ist in dieser Gegend deutlich stärker. Ich kann ihre Position jetzt auf einen Meter genau bestimmen.
Sie bewegt sich exakt auf Sie zu.“

Säße ich nicht schon auf dem Boden, hätte ich garantiert weiche Knie bekommen. Das konnte einfach kein Zufall sein. Das Signal kam exakt auf uns zu.
Wer oder was auch immer es war, es musste meine Anwesenheit spüren. Wahrscheinlich konnte es die Energieabstrahlung des TTEKs ebenso orten wie ich seine.

Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Was sollte ich jetzt tun? Stand ich kurz davor in Kontakt mit einer außerirdischen Lebensform zu treten?

Oder was viel wichtiger war, würde sie mir friedlich gesonnen sein?
Ich musste auf jeden Fall verhindern, dass die Begegnung hier drinnen stattfand. Der Keller bot keine Fluchtwege. Außerdem wollte ich Manu und die anderen auf keinen Fall gefährden.

„Manu, ich muss kurz nach draußen. Egal was passiert, bleib hier.“

Ohne eine Antwort abzuwarten, hastete ich nach oben und hinaus in den Sandsturm.

„Wie weit ist das Signal noch entfernt?“

„Weniger als zehn Meter. Von Ihrer jetzigen Blickrichtung aus zehn Grad nach links.“

Die Sicht war miserabel. Ich starrte intensiv in die angegebene Richtung, sah aber nichts.

„Der Energiewert hat sich gerade…“

Noch bevor Elisa ihren Satz beenden konnte, gab es einen lauten Knall. Ein greller Lichtblitz durchzuckte die trübe Luft und traf mich in die Brust.
Ich schrie auf.

Es war als wäre ich von einem ICE erfasst worden. Ich wurde mehrere Meter zurück geschleudert. Alle Luft wurde aus meinen Lungen gepresst.
Ich hatte das Gefühl zu verbrennen.

Hart schlug ich auf dem Sand auf. Meine Rippen schmerzten höllisch.

„Medizinische Diagnose. Keine Brüche oder Quetschungen. Leichte Verbrennung. Injiziere Nanobots zur Hautregeneration.

Taktische Diagnose. Angriff durch eine Hochenergiewaffe. Strake kinetische und thermische Wirkung.“

Das hatte ich gemerkt. Zum Glück hatte mein Schutzhemd das meiste abgefangen. An der getroffenen Stelle war der Stoff schwarz geworden und steinhart. Offenbar war die Nanolegierung geschmolzen und somit unbrauchbar.
Es war unsicher, ob ich einen weiteren Treffer überleben würde.

Ich rollte mich herum und sondierte die Umgebung. Ein Haus stand nur wenige Meter entfernt. So schnell wie möglich kroch ich über den Boden dahinter.

„Wo ist der Feind jetzt?“

„Direkt hinter diesem Gebäude. Er nähert sich jetzt von rechts.“

Mist! Ich raffte mich hoch und begann nach links herum um das Gebäude zu gehen. Diese Taktik würde mein Widersacher sicher rasch durchschauen, aber mir fiel auf die Schnelle nichts anderes ein.

„Ameniu, wo bist du? Ist alles klar bei dir? Ich habe einen Schrei gehört.“

Auch das noch! Manu war herausgekommen. Wenn das Alien mit mir durch war, würde er als nächster an die Reihe kommen. Ich musste ihn beschützen.

Ich hechtete auf das gegenüberliegende Haus zu, vor dem sich die Silhouette Manus abzeichnete.

„Geh wieder runter! Zu gefährlich!“
Mehr bekam ich in der kurzen Zeit nicht zusammen. Manu sah mich nur verständnislos an.

„Achtung, hinter Ihnen!“

Schlagartig drehte ich mich herum und stellte mich somit vor Manu. Die Umrisse des Angreifers schälten sich aus den Staubschwaden heraus.

„Was willst du von uns?!“, schrie ich dem Schatten entgegen. Aber es war kein Schatten mehr, denn der Staub hatte sich etwas gelegt.

Mein Gott! Das war kein Alien. Es war ein Mensch.

Der Angreifer blieb wie angewurzelt stehen. Er starrte mich an und blinzelte, als wäre ich ein Gespenst. Ich starrte wohl ebenso zurück.

Plötzlich begann er zu zittern und zu stammeln. „Ich… das…“
Er stammelte auf Englisch! Irgendein undefinierbarer Akzent, aber es war definitiv Englisch.

Er fiel jetzt zu Boden, auf seine Knie und hielt sich die Hände vor das Gesicht. Der Fremde schluchzte.

Oh Mann, in was war ich hier nur hereingeraten?

Manu stand hinter mir und beäugte den Mann kritisch. Auch ich musterte ihn jetzt genauer. Da er das Gesicht in seinen Händen vergrub, sah ich nur sein schulterlanges blondes Haar.
Er musste etwa in meinem Alter sein.

Seine Kleidung bestand aus einem Ganzkörperanzug, der mich als Laie an einen Neoprenanzug für Schwimmer erinnerte. Doch sicher hatte es damit eine andere Bewandtnis. Nicht nur deshalb, da Wasser zum Schwimmen hier eher rar war.

Auf dem Rücken trug er einen flachen, rechteckigen Behälter, der fest an ihn geschnallt war. Und am rechten Armgelenk war eine Art Abschussvorrichtung befestigt. Wahrscheinlich die Waffe, mit der er mich fast umgebracht hatte.

Ich hatte nicht das Gefühl, dass er diese Absicht weiterhin hegte. Also ging ich auf ihn zu.

„Alles in Ordnung bei dir?“

Das klang nun wirklich absurd. Ich fragte einen Typ, der mich vor wenigen Sekunden noch durchlöchern wollte, ob bei ihm alles in Ordnung sei.

Er blickte auf. Sein Gesicht war schmutzig.

„Es tut mir leid“, begann er, „ich dachte du wärst ein Alien… Mist, ich hätte fast einen Menschen umgebracht. Ich hab noch nie jemanden getötet.“

Und deshalb schoss er sofort, weil er mich für ein Alien hielt? Entweder der Junge war einfach xenophob, oder es steckte mehr dahinter. Aber es gab jetzt wichtigere Fragen.

„Wer bist du?“, war eine davon.

Mein Gegenüber hatte sich wieder gefangen und stand sogar auf.

„Mein Name ist Keith. Ich bin Scout der Planetaren Allianz. Und wer bist du?“

„Ich bin Ameni… Dr. Phillip Marten vom ATR-Projekt.“

„Noch nie gehört, dieses ATR.“
Er sprach aus, was ich ebenso über ihn dachte.

„Moment Mal, woher kommst du?“, fragte ich. „Denn ich gehe doch stark davon aus, dass du nicht von hier bist.“

„Nein, natürlich nicht“, lachte er. „Ich bin aus dem Jahr 2321, genauso wie du.“

„Ähm, nein. Ich komme aus 2086.“

Er sog scharf die Luft ein. Hatte ich etwas Falsches gesagt?

„Aber das ist ja unglaublich. Weißt du wie groß die Wahrscheinlichkeit dafür ist, das wir inmitten von unzählbar vielen Parallelwelten ausgerechnet in derselben landen? So klein, dass ich eine Minute brächte um die ganzen Nullen nach dem Komma auszusprechen. Oder anders gesagt: Es ist unmöglich.
Ich dachte eigentlich, du wärst mir aus meiner Welt gefolgt.“

Aber dennoch war es passiert. „Was meinst du dazu, Elisa?“, fragte ich stumm.

„Die angesprochene Wahrscheinlichkeit liegt tatsächlich in einem derart niedrigen Bereich. Daraus schließe ich, dass es sich nicht um einen Zufall handelt.
Die uns bekannten Raumzeittheorien bieten aber keine Erklärung dafür. Ergo handelt es sich um einen noch unerforschten Aspekt.“

Lisa würde sich sicher brennend dafür interessieren.

„Und doch bin ich hier. Und du auch, Keith. Aber ich weiß noch immer nicht, was du hier eigentlich suchst?“

„Wie ich schon sagte, ich bin Scout. Aber davon weißt du natürlich nichts.
In unserer Welt haben Aliens, die sogenannten Kerlocks, die Erde überfallen. Wir befinden uns seit Jahren mit ihnen im Krieg. Obwohl wir den Kerlocks zahlenmäßig weit überlegen sind, stehen wir auf verlorenem Posten. Ihre Technik ist der unseren mehrere Jahrhunderte voraus. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie gewinnen und sämtliches Leben auf der Erde ausradieren.
Als Scout ist es meine Aufgabe fremde Paralleluniversen zu durchsuchen, in der Hoffnung eine höherentwickelte Spezies zu finden, die uns im Kampf gegen die Kerlocks helfen kann.“

Wow, das klang ungeheuer spannend und ungeheuer traurig. Die Erde vor der drohenden Vernichtung? Da hatten wir es wirklich gut. Abgesehen von der Klimaproblematik, die wir immer noch nicht völlig im Griff hatten.

„Da kann ich dir leider nicht helfen, Keith. Wir haben gerade erst die Zeitreise-Technik entwickelt. Genau genommen bin ich der erste Testkandidat.
Leider ist etwas schiefgegangen. Ich wollte eigentlich in eine viel spätere Zeit reisen, wurde aber hierher verschlagen. Ich glaube das lag an dir.“

„Mag sein. Aber an dir liegt es, dass ich hier nicht mehr weg kann.“

„An mir?“

„Ja. Du sendest ein Raumzeitsignal aus, das irgendwie mit meinem Peilsignal für die Rückholung interferiert. Ich dachte das wäre Absicht und wärst ein Kerlock, der mir aus meiner Zeit gefolgt ist. Denn das kommt öfters vor, dass die Kerlocks uns Scouts jagen.“

Aha, daher die Schießwütigkeit gegenüber vermeintlichen Aliens.

„Vermutlich meint er das Kommunikationssignal, welches ich zum Kontakt mit der Basis aufrechterhalte.“

Technisch gesehen war die Sache kompliziert.
Praktisch ganz einfach. Wegen ihm war ich hier und wegen mir konnte er nicht weg.

„Das tut mir leid, dass du wegen mir hier festsitzt“, sagte ich und legt ihm den Grund dar.

„Nein, mir tut es leid Phillip… Aber sag mal, wieso bist du überhaupt noch hier? Ich habe keine solche Verbindung zur Basis. Das Risiko, dass die Kerlocks mich dadurch aufspüren könnten, wäre zu groß. Ich blockiere deine Heimkehr doch nicht?“

„Das stimmt Keith, du blockierst mich nicht. Das Problem ist nur, dass unsere Technik noch nicht ausgefeilt genug ist, für einen Transfer über eine so große Zeitspanne. Ich bin hier gestrandet.“

Wieder einmal wurde mir die traurige Wahrheit über meinen Zustand bewusst.

Keith blickte zu Boden. Er hatte eine Träne in den Augen.
Es war wirklich ein sentimentaler Mensch.

„Das tut mir so leid, Phillip. Es ist meine Schuld, wenn du dein ganzes restliches Leben in dieser Einöde verbringen musst.“

„Ach, so schlimm ist es gar nicht. Ich habe sogar Freunde hier gefunden.“
Dabei zeigte ich auf Manu.

Der war inzwischen näher gekommen. „Das ist also dein Mannschaftskollege? Er ist ja sehr merkwürdig angezogen. Und so abgemagert.“

Da musste ich lachen und Keith, der Manu wohl auch verstehen konnte, ebenso.
Trotzdem war ich ihm eine Antwort schuldig. Und da er mal wieder eine annehmbare Vorlage geliefert hatte, ging ich darauf ein.

„Ja, genau. Das ist er. Und die Kleidung ist bei uns so üblich.“

Jedes Wort davon war gelogen und es tat mir innerlich weh, Manu, meinen süßen Schatz, so zu belügen. Aber ich hatte keine Wahl. Die Wahrheit wäre in diesem Fall das größere Übel.

„Also das mit dem abgemagert stimmt“, sagte Keith jetzt zu mir. „Ich hatte nichts zu Essen und habe mir nur ab und zu etwas aus den Häusern hier geklaut.“

Da hatte ich wirklich mehr Glück gehabt, auch wenn es zu Anfang gar nicht so aussah. Festgeschnallt auf dem Rücken eines Kamels mit direktem Wege in die Sklaverei war nicht der vielversprechendste Reisebeginn.

„Aber wieso kommt es überhaupt dazu, dass du in eine so weit zurückliegende Zeit reist? Ich dachte du suchst hochentwickelte Zivilisationen.“

„Das tue ich ja auch. Du glaubst gar nicht, zu welchen Zeiten ich schon Zivilisationen angetroffen habe. Du darfst dabei nicht von deiner Welt ausgehen, sondern immer von der Menge aller möglichen Paralleluniversen. Ich war schon in einem, in dem vor 8000 Jahren eine Zivilisation im Industriezeitalter auf der Erde blühte. Und in einem, in dem es nie Leben auf der Erde gegeben hat.“

Seine Augen strahlten während seiner Erzählung.

„Wow! Das hört sich unglaublich spannend an.“

„Das ist es auch. Aber ebenso gefährlich.
Außerdem tut es gut, nicht in meiner Heimatwelt das Chaos und die Vernichtung mitansehen zu müssen. Versteh mich nicht falsch. Ich vergessen dabei nie, wofür ich kämpfe. Aber es ist einfach schön, solche meist friedlichen und sicheren Welten zu sehen.“

Ich konnte ihn verstehen. Wenn meine Welt kurz vor der Vernichtung stünde, würde ich sicher auch wegwollen.

„Was wirst du jetzt tun?“, fragte ich.

„Ich kehre nach Hause zurück. Und dann geht es gleich weiter, die nächste Parallelwelt will ausgekundschaftet werden. Schließlich bin ich bereits im Verzug und gelte vielleicht schon als vermisst.“

Keith kam etwas näher und umarmte mich.

„Viel Glück!“, wünschte er mir. „Hier, ich habe noch etwas für dich.“

„Ich empfange eine Übertragung. Es handelt sich um wissenschaftliche Daten.“

„Das ist alles, was in meiner Datenbank über unsere Raumzeit-Technologie gespeichert ist. Es ist unvollständig, da die Gefahr sonst zu groß wäre, wenn es den Kerlocks in die Hände fällt. Aber vielleicht ist etwas dabei, was dir hilft, ebenfalls nach Hause zurückzukehren.“

„Vielen Dank, Keith.“
Ich war ehrlich gerührt. Er kannte mich ja kaum und hatte solch ein Vertrauen in mich. Außerdem sah er wirklich süß aus.
Trotz seinem schmutzigen Gesicht konnte man die weiche Haut darunter erahnen. Ich ertappte mich bei der Vorstellung sie sanft zu Küssen.

Hallo, Phillip?! Konzentration bitte. Außerdem hatte ich doch schon einen Freund.
Ich blickte mich kurz nach Manu um, der Keith immer noch misstrauisch beäugte. War er bereits eifersüchtig?

Ich wies Elisa an, die erhaltenen Daten an die Basis weiterzuleiten, zusammen mit einem kurzen Bericht der neusten Geschehnisse. Ich würde mich nachher persönlich bei Lisa melden.

„Und danach deaktiviere bitte das Kommunikationssignal, solange bis Keith weg ist“, ergänzte ich noch.

„Machs gut Phillip. Vielleicht sieht man sich ja mal wieder.“

Das glaubte ich zwar nicht, aber wünschen tat ich es umso mehr.
Keith trat ein paar Schritte zurück und schien auf etwas zu warten. Er wollte doch nicht etwa hier vor unseren Augen verschwinden. Dafür hätte selbst Manu keine Erklärung mehr gefunden.

„Ähm, Keith. Würde es dir etwas ausmachen vielleicht hinter die Häuser zu gehen. Ich würde meinen Freund hier ungern erschrecken.“

„Oh, natürlich. Mein Fehler.“
Er lächelte mich entschuldigend an und verschwand hinter einem Haus.

„Wo geht er hin?“, fragte Manu.

„Er kehrt nach Hause zurück. Im Gegensatz zu mir kann er das.“

Das Beste an dieser Antwort war, dass sie absolut der Wahrheit entsprach.

Manu kam zu mir und legte mir die Hand auf die Schulter.
„Hmm… Du scheinst nicht gerade glücklich darüber, Ameniu. Hast du auch Heimweh?“

Ich nickte.
Ja, sicher, das hatte ich. Doch die Situation war etwas komplizierter. Denn egal, ob ich zurückkehren könnte oder nicht, so oder so würde ich geliebte Personen zurücklassen müssen.

„Der Sturm hat sich wieder gelegt. Komm, lass uns jetzt die Pyramiden besichtigen.“
Freudig ging Manu voraus und zog mich an der Hand hinterher.

Ich legte meinen Arm um seine Schulter.



„Das ist fantastisch, Phillip. Absolut unglaublich. Dieses Material bringt uns auf einen Schlag um Jahrzehnte weiter.“

Lisa berieselte mich bereits seit einer Minute mit ihren Lobeshymnen auf Keiths Informationen, während ich an der alten Pyramidenmauer entlangging. Immerhin nur noch auditiv, denn mit den Kontaktlinsen hatte ich auch das optische Interface verloren.

„Ich habe bereits die neuen Gleichungen in den Computer gefüttert. Es sieht aus, als ob wir die Genauigkeit der Anlage nahezu verdreifachen können, ohne etwas umzubauen.“

Schnell überschlug ich das mit der Verdreifachung im Kopf. Das ergäbe immer noch eine Reichweite von unter 1500 Jahren. Gerade mal die Hälfte meiner zeitlichen Entfernung von daheim.

„Aber das ist noch nicht alles. Die Menschen aus Keiths Zeit können nicht nur Transfers zwischen einer anderen Zeit und der Basisstation durchführen, sondern auch direkt von einer Parallelwelt in eine andere springen.“

„Ja, das hat er mir erzählt. Aber wie soll uns das weiterhelfen? Ich möchte ja nicht in irgendeiner Parallelwelt landen, auf der womöglich kannibalische Affen die Erde beherrschen. Oder so ähnlich.“

Jetzt unterbrach auch Elisa ihren Redefluss, um herzlich zu lachen. Aber nur kurz.

„Nein, das geht auch gar nicht. Dafür müssten wir größere Umbauten vornehmen… Was ich aber eigentlich sagen wollte, ist folgendes.
Ich denke, dass ich das System mit Keiths Daten so optimieren kann, dass du in Etappen zurückreisen kannst. Wie du weißt reicht die Leistungsfähigkeit unserer Anlage nicht, um dich die 3500 Jahre auf einmal zurückzuholen. Aber wir könnten es Stückweise tun!“

„Wow!“

Ich war wirklich platt von Lisas Ausführungen. Würde ich wirklich wieder heimkehren können? Ja, wollte ich das überhaupt?

Ich sah mich um. Hinter mir ging Manu, eingehend das Steinmonument studierend.
Traurig schaute ich ihn an und seufzte.

Ich liebte ihn. Ja, dessen war ich mir jetzt sicher. Aber trotzdem konnte ich nicht hierbleiben. Ich gehörte einfach nicht hierher, in diese Zeit. Ich war hier fremd und das fühlte ich auch.

Außerdem war ich schließlich nicht auf Vergnügungsreise. Ich hatte eine Verpflichtung gegenüber meinem Arbeitgeber.

„Wann ist es soweit?“

„Das kann ich noch nicht genau sagen. Die neuen Parameter zu konfigurieren geht schnell. Ich werde aber vorher auf jeden Fall einen Dummy-Test machen, um sicher zu gehen, dass es wirklich funktioniert. Also vielleicht in einem Tag.“

Das war gut. Dann hatte ich genug Zeit meine Angelegenheiten hier zu Regeln. Und damit meine ich, mich von Manu zu verabschieden.
Mist, wie erkläre ich ihm das nur?

Erst einmal verabschiedete ich mich von Lisa und bat sie, den Kollegen schöne Grüße auszurichten.



Gedankenversunken saß ich neben Manu im Wagen. Von der Pracht der alten Bauwerke, die zu dieser Zeit noch wesentlich besser erhalten waren, hatte ich fast nichts mitbekommen. Zu Beschäftigt war ich mit mir selbst.

Manu streichelte mir über den Rücken.
„Was ist denn eigentlich los, Ameniu? Du bist schon die ganze Zeit über so nachdenklich.“

Es hatte keinen Zweck, ich musste es ihm ja irgendwann beichten.

„Ich… ich werde heimkehren Manu. Mein Kollege hat mir das ermöglicht.“
Eine Träne kullerte meine Wange hinunter.

Manus Gesichtsausdruck war undeutbar.

„Sei doch froh Ameniu. Wieso weinst du dann?“

„Weil ich dich liebe.“

Manu sah mich mit seinen haselnussbraunen Augen an und küsste mich zärtlich.

„Du Dummerchen. Ich liebe dich doch auch.
Und gerade deshalb will ich, dass du nach Hause gehst. Dort kannst du glücklicher sein als hier.“

Eben da war ich mir nicht so sicher.

„Und du, Manu? Was wird dann aus dir?“

„Ich kehre wieder zu meiner Frau zurück, wohl oder übel. Wahrscheinlich werden wir Kinder bekommen. Mit der Potenz wird es jedenfalls keine Probleme mehr geben, da muss ich nur an dich denken.“

Derart geschmeichelt kuschelte ich mich an ihn.



Der Abend war recht ruhig verlaufen. Shani hatte uns bei Tisch von weiteren Sehenswürdigkeiten der Stadt erzählt, die man als Besucher unbedingt einmal gesehen haben müsse.
Als ich ihr gestand, dass ich bereits am nächsten Tag abreisen würde, bedauerte sie dies sehr. Ihr Bedauern schien aufrichtig und erklärte sich schlicht aus ihrer relativen Einsamkeit. Besuch, und dazu noch ein so interessanter, weil von weit her, belebte ihren tristen Alltag.

Manu verhielt sich eigentlich ganz normal. Ich spürte dennoch seine Trauer über meine bevorstehende Abreise, auch wenn er es vor mir zu verbergen suchte.

Aus Angst vor Entdeckung war es am Abend zu keinem größeren Austausch von Zärtlichkeiten mehr gekommen, auch wenn wir beide das sehr begrüßt hätten.

Jetzt lag ich in meinem Bett und konnte nicht einschlafen. Ich wusste nicht, wie lange ich schon so dalag, hin und her gerissen zwischen Vorfreude und Abschiedstrauer.

Plötzlich hörte ich ein leises Knarren. Die Tür zu meinem Schlafzimmer ging auf und Manu streckte den Kopf herein.

„Schläfst du schon?“

„Nein“, hauchte ich in die Dunkelheit hinein.

„Ich kann auch nicht einschlafen, Ameniu. Ich muss dauernd daran denken, dass dies unsere letzte Nacht ist.“
Langsam kam er näher, sodass ich ihn im Mondlicht sehen konnte.

„Hast du keine Angst wegen deiner Schwiegermutter?“

„Ach, die Alte schläft doch längst tief und fest. Und wenn du nicht zu laut stöhnst, wird sie schon nichts merken.“

Manu grinste schelmisch, was im Mondschein noch süßer als gewöhnlich wirkte.

„Ich werde mich bemühen“, beruhigte ich ihn. „Aber wenn ich dich so sehe, kann ich für nichts garantieren.“

Er kam zu mir und kuschelte sich unter meiner Decke an mich. Küssend arbeitete er sich von meinem Mund zu tiefer gelegenen Körperteilen.



Schweigsam wurde das Frühstück eingenommen.
Keiner wusste so recht etwas zu sagen, denn der nahende Abschied hing wie ein Damoklesschwert über uns. Nur Shani gab ab und zu einige Ratschläge zum Besten, was bei einer solch langen Reise unter allen Umständen zu beachten sei.

Ansonsten hing jeder seinen eigenen Gedanken nach. Meine schwankten zwischen der baldigen Abreise und letzter Nacht umher.
Ich war mir nicht sicher, ob es eine so gute Idee von Manu gewesen war, mich in meinem Bett aufzusuchen. Nicht wegen Shani, die hatte tatsächlich wie ein Stein geschlafen und selbst unsere teilweise doch etwas lauteren Wohllaute nicht gehört.

Nein, es war wunderschön gewesen mit Manu – zu schön. Viel intensiver als damals im Badezimmer seines Hauses. Schließlich hatten wir hier ein kuscheliges Bett unter uns.
Aber solch eine Liebesnacht sollten nur Paare haben, die auch am nächsten Tag noch als solche gelten würden. Niemals aber voneinander scheidende Liebende, denn es machte den Abschied umso schwerer.

Zu packen hatte ich nichts und so stand ich nach dem Frühstück schnell vor der Haustür, Manu neben mir. Shani hatte sich bereits drinnen von mir verabschiedet, was ein Glück war. Oder vielleicht auch ein Unglück, denn so würde die Trennung zwischen Manu und mir nur noch herzzerreißender werden.

„Ach, Ameniu mein Schatz. Ich wünsche es dir ja, nach Hause zu kommen. Aber genau so sehr wünschte ich auch, du würdest hier bleiben. Bei mir.“

Tränen liefen seine Wange hinunter. Ich wischte sie fort.

„Weine nicht, Manu. Ich weiß doch… und ich würde ebenso gern hierbleiben. Aber es geht nicht. Jeder hat seinen Platz und seine Verpflichtung. Deiner ist hier, meine sind dort.“

Ich umarmte ihn fest. Jetzt liefen auch mir die Tränen.

„Bitte.. vergiss mich… nicht, ja?“, schluchzte Manu in meine Schulter.

„Niemals mein Schatz… Niemals.“
Mein Gott, war das Leben ungerecht. Völlig aufgelöst und mit zitternden Knien löste ich mich von ihm. Es hatte keinen Zweck, längerer Aufschub würde alles nur noch schwieriger machen.

Ich küsste ihn ein letztes Mal. Er erwiderte den Kuss, als gäbe es kein Morgen mehr. Und für unsere Beziehung gab es auch keinen.

Kurz bevor ich meinte zu ersticken, löste ich mich von ihm. Ich trat einen Schritt zurück.

„Mach‘s gut mein Schatz, und pass auf dich auf.“

„Warte, ich komme noch mit zum Hafen!“

„Nein, du bleibst hier… Das würde den Abschied doch nur schwieriger machen.“
Und es würde offenbaren, dass dort überhaupt kein Schiff auf mich wartete…

„Dann leb wohl, meine erste und wohl einzige Liebe. Leb wohl mein lieber Ameniu.“

Ich wandte mich um und ging die Straße entlang. Wegen dem vielen Wasser in meinen Augen sah ich aber fast nichts. Alle paar Meter blieb ich stehen und winkte nach dem Haus hin, wo Manu immer noch an der gleichen Stelle stand.
Er wirkte traurig zurück.

Hätte ich die Kontaktlinsen nicht bereits verloren, so wären sie spätestens an diesem Morgen davongeschwommen.



Mein Kopf war leer. Ich wanderte schon seit einer guten Viertelstunde durch die Wüste.

Dort hatte meine Reise begonnen und dort würde sie auch Enden. Nein, korrigierte ich mich, sie würde dort weitergehen. Denn bis ich zuhause war, standen immerhin noch zwei Zwischenstopps an.

Eigentlich hatte ich mich längst weit genug von der Stadt entfernt, um den Transfer unbeobachtet antreten zu können. Dennoch zögerte ich.

Gab es nicht vielleicht doch eine Alternative? Ich meine, wäre es nicht doch möglich, hier zu bleiben?

Ich würde mich mit der Zeit schon an alles gewöhnen und der Verzicht auf all die modernen Annehmlichkeiten würde mir immer weniger auffallen. Und schließlich hatte ich doch Manu, meine erste Liebe, die er auch noch erwiderte.

Aber hatte ich mich nicht schon entschieden, indem ich mich von ihm verabschiedet hatte? War nicht allein die Tatsache, dass ich hier im heißen Sand stand und nicht neben ihm, ein Beweis für meinen Entschluss?

„Das Leben ist einfach, doch seine Bestandteile sind kompliziert“, war einer der Lieblingssätze meines Professors in Quantenmechanik gewesen.

Ich hatte den Sinn davon nie wirklich nachvollziehen können. Aber auf die Liebe traf er sicherlich zu, sie erschien mir ein verdammt komplexer Bestandteil zu sein.

Elisa riss mich aus meinen Gedanken.

„Ich empfange eine starke fremde Energiesignatur. Ursprung ungefähr bei den Pyramiden.“

Was war das nun schon wieder?

„Korrektur. Die Energiequelle hat ihren Standort soeben sprunghaft geändert. Sie befindet sich jetzt noch 80 Meter von ihrer Position entfernt.“

Oh Shit! Der wache Verstand brauchte nur eins und eins zusammenzuzählen, um die Natur dieses starken Energiewerts zu ergründen.
Es konnte nur eins dieser Alienbiester sein, die Keith auf den Fersen waren. Jetzt dachte der Kerlock wahrscheinlich, ich wäre der blonde Flüchtling.

Das verkürzte die Entscheidung. Bleiben war jetzt unmöglich.

„Schnell, stelle Kontakt zur Basis her!“

Kaum zwei Sekunden später meldete sich Lisa.

„Lisa, ist alles bereit für den Zeitsprung?“

„Der Test heute Nacht lief gut, ich denke wir können es wagen.“

„Gut. Ich muss nämlich hier weg. Sofort. Eines dieser Aliens aus Keiths Welt ist hinter mir her!“

„Oh Gott, Phillip. Ich beeile mich!“
Hektische Rufe ertönten im Hintergrund.

Lisa klang sichtlich schockiert. Ich musste schmunzeln. Sie war immer so besorgt um mich.
Andererseits hatte sie auch allen Grund dazu. Ich konnte dem Kerlock rein gar nichts entgegensetzen. Ich war ja nicht einmal bewaffnet, im Gegensatz zu Keith.

Plötzlich hörte ich ein Zischen aus einiger Entfernung. Ich drehte mich erst gar nicht um, sondern begann in die entgegengesetzte Richtung zu rennen.

„Feindliches Objekt ist noch 26 Meter entfernt.“

Puh, Lisa, bitte beeile dich jetzt.

„Countdown läuft, Phillip. T minus fünf Sekunden.“

Plötzlich fiel mir ein, dass ich mein Reiseziel überhaupt nicht kannte.

„Wo geht es überhaupt hin?“

Lisa lachte.

„Hast du den Reiseplan nicht gelesen?

Nächste Station: Altes Rom.“





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Replay – Buch 2
Wie der Titel andeutet, handelt es sich hier um eine Fortsetzung. Der erste Teil ist ebenfalls auf dieser Seite veröffentlicht. Wer ihn noch nicht kennt – oder in den acht Jahren seit seiner Veröffentlichung verständlicherweise vergessen hat – sollte ihn zuerst lesen.
Auch wenn es etwas länger dauerte, hat mir das Schreiben dieser Fortsetzung wieder viel Spaß gemacht. Wie für das erste Buch gilt auch hier: Es gibt keinen dramatischen Cliffhanger. Die Story ist eine geschlossene Einheit, aber durchaus auf Fortsetzung ausgelegt. Ob und wann es eine geben wird – da halte ich mich lieber bedeckt null
Nun aber, getreu dem Motto besser spät als nie, wünsche ich viel Vergnügen beim Lesen!
Kapitel 1
Wasser, Wellen und Sturm um mich herum. Ein Gefühl des Erdrücktwerdens durch die Fluten war das erste, was meine betäubten Sinne erreichte.
Ich wusste, dass es nur ein Traum war. Doch das änderte nichts an der Bedrohlichkeit der Wassermassen, die von allen Seiten auf mich niederzugehen schienen. Verschwommen sah ich mich selbst auf dem Ozean treiben, langsam aber sicher herabsinkend in schwarze Tiefen.
Mein ganzer Körper schien mit Wasser gefüllt. Eine unendliche Schwere, die mich immer schneller Richtung Meeresgrund zog.
Es war sehr kalt und ich schien zu frieren. Wobei sich das nicht so genau sagen ließ, denn eigentlich spürte ich gar nichts mehr. Dass ich sanft auf dem Grund auftraf, notierte ich nur nebenbei.
Plötzlich fuhr ein Ruck durch den Boden. Ein gewaltiger Ruck, der die auf mir lastenden Wasserschichten gewaltsam hinwegspülte. Das Beben setzte sich fort. Es durchfuhr meinen Körper, so dass ich, prustend und würgend, die ganze in mir gesammelte Flüssigkeit wieder ausspie.

Das erste echte Gefühl, das meine immer noch benebelten Sinne erreichte, war Übelkeit. Nicht von jener Sorte, die durch die Zeitreise verursacht wird, sondern eine sehr viel handfestere.
Ich öffnete die Augen, um mich zu orientieren.
Doch noch bevor ich den vagen Eindruck von Blau als Teil des Himmels einordnen konnte, musste ich den Kopf nach rechts abwenden, um mich zu übergeben.
Das reichhaltige Frühstück bei Manus Schwiegermutter wurde mir nun zum Verhängnis.
Erschöpft ließ ich meinen Kopf zurückfallen auf – ja auf was eigentlich?
Es fühlte sich jedenfalls hart an.
Vorsorglich hatte ich die Augen wieder geschlossen und versuchte nun meine Lage einzuordnen. Die direkte Lage war klar: Ich lag auf dem Rücken. Über die allgemeine Lage konnte ich nicht einmal spekulieren.
Fest stand wohl, ich war am Leben. Und das war immerhin beruhigend.
Während sich die Übelkeit wieder auf ein erträgliches Maß reduzierte, fühlte ich in mich hinein. Vom Stechen und Ziehen, das ich nach meiner Ankunft in Ägypten verspürt hatte, war nichts zu bemerken.
Jedoch fühlten sich meine Glieder bleischwer an und mein Schädel dröhnte – von den unzähligen anderen Schmerzstellen gar nicht zu reden.
Doch ich sollte mich weniger beklagen und lieber herausfinden, wie es um mich herum aussah. Also öffnete ich die Augen zu einem neuen Versuch.
Und diesmal gelang es mir auch, mehr als einen flüchtigen Blick auf den Himmel zu erhaschen.
Ich richtete mich ein wenig auf und stützte mich auf die Ellenbogen.
Was zum Teufel?
Ich hätte ja alles Mögliche erwartet, aber das hier sicher nicht. Ich befand mich auf einem Schiff!
Vor Schreck ließ ich mich wieder in die Liegeposition zurückfallen. Wie konnte denn so etwas bitte zustande gekommen sein?
War ich etwa schon so lange bewusstlos, dass man mich gefunden hatte und aus irgendwelchen Gründen verschiffen wollte? Reichlich dämlich diese Idee.
Erst jetzt fiel mir auf, dass ich unter den Decken, in die ich gewickelt war, Feuchtigkeit spürte. War mein merkwürdiger Traum vielleicht doch nicht so realitätsfern wie ich dachte und ich bin im Wasser wiederaufgetaucht?
Oder bin ich etwa direkt an Board materialisiert?
Elisa, bist du da?
Keine Reaktion.
Natürlich war der Akku meines elektronischen Begleiters durch den Zeitsprung wieder erschöpft. Da er scheinbar noch nicht wiederaufgeladen war, konnte mein Erscheinen hier nicht allzulange zurückliegen.
Nun, wenn ich von Elisa nichts erfahren konnte, dann musste ich das eben selbst in die Hand nehmen.
Ich richtete mich also gänzlich auf und konzentrierte mich auf die nähere Umgebung. Drei Personen standen nicht weit von mir an der Reling und hielten Ausschau.
Als ich ihrem Blick folgte, bemerkte ich Land in einiger Entfernung, auf das wir wohl zusteuerten.
Bei den drei Gestalten handelte es sich um Männer, die in wetterfeste Kapuzenmäntel gehüllt waren. Ich schätzte sie auf Mitte zwanzig, etwas älter als ich vielleicht. Doch bei den rauen Lebensbedingungen früherer Zeiten war das schwer zu sagen.
Ansonsten gab es an Deck nicht viel zu sehen. Das Schiff war um die 25 Meter lang und besaß einen Mast mit Segel, durch das es angetrieben wurde. Meine Erfahrung mit Schiffen hielt sich in Grenzen. Daher erlaubte mir seine Bauweise leider keinen Rückschluss auf den Ort oder die Zeit, in der ich mich befand.
Einer der Männer hatte sich gerade umgedreht und war bei meinem Anblick dazu übergegangen, die anderen eilig auf mich aufmerksam zu machen.
Schon waren sie herbei und blickten im Halbkreis auf mich nieder.
Der erste richtete das Wort an mich, doch ich verstand nicht eine Silbe.
Es hatte aber wie eine Frage geklungen. Sicher so etwas wie „Wer bist du?“ – oder so.
Nur leider konnte ich ihm ebenso wenig antworten wie die wahre Bedeutung seiner Worte erraten. Doch obwohl ich mir sicher war, dass ich seine Sprache nicht beherrschte, kam sie mir irgendwie bekannt vor.
Wenn doch nur das TTEK wieder anspringen würde…
Dessen ungeachtet gab der Mann noch einige weitere Sätze von sich, bis ihm mein verständnisloses Gesicht die Hoffnungslosigkeit seines Versuchs klar machte.
Nun redeten alle wild aufeinander ein. Sie schienen sich wohl zu überlegen, was hier als nächstes zu tun sei.
Der zweite, der dem ersten gegenüber zu meiner linken Seite stand, brachte die anderen durch Handzeichen zum Schweigen.
Er kniete sich zu mir nieder und seine Kollegen folgten diesem Beispiel.
Dann begann auch er auf mich einzureden. Doch diesmal bediente er sich einer anderen Sprache, die mir deutlich bekannter vorkam, auch wenn sie in unserer Zeit nicht mehr gesprochen wurde. Er bediente sich des Lateinischen.
Mir fiel ein Stein vom Herzen. Zwar beherrschte ich Latein nicht fließend – wenn man so etwas von einer toten Sprache überhaupt sagen konnte – hatte mir aber im Zuge meiner Geschichtsstudien einiges aneignen müssen.
Und so verstand ich auch seine bereits zum zweiten Mal wiederholte Frage nach meinem Namen.
Ich überlegte kurz, wie ich hieß.
Also heißen wollte, wenn ich mich tatsächlich in der Zeit des römischen Reiches befand.
Nun es konnte nichts schaden, erst einmal bei der Wahrheit zu bleiben. Ein Unterfangen, dass ich noch früh genug würde aufgeben müssen.
Ich antwortete also: „Nomen mihi est Phillip.“ – Ich heiße Phillip.
Ein dreistimmiges „Ohh!“ und „Ahh!“ begleitete meinen ersten sprachlichen Versuch in dieser Zeit. Die beiden anderen Männer beglückwünschten ihren Kollegen zu seinem Erfolg.
Dann stellten sie sich ebenfalls vor. Derjenige zu meiner Linken hieß Alexios. Zu meiner Rechten hockte Thalis und an meinem Fußende saß Gregor.
Ein Grundstein zur Verständigung war also gelegt und eine unmittelbare Gefahr schien von den Dreien auch nicht auszugehen. Immerhin hatten sie mich in eine Decke gewickelt und nun sprachen wir miteinander.
Doch es kam wie es kommen musste und gleich nach diesem Anfangserfolg bombardierten sie mich mit Fragen auf Latein. Ich unternahm gar nicht erst den Versuch, eine davon zu verstehen.
Ich hob beide Hände und bedeutete ihnen langsam zu machen. Sie lachten, scheinbar über ihre eigene Ungeduld, und sprachen sich wieder untereinander ab, wobei sie in die andere Sprache zurückfielen.
Nun war ich aber ebenso neugierig und formulierte die Frage, welche Sprache sie da benutzten.
Griechisch, war ihre Antwort. Alexios nahm meine Frage als Anlass, mir ein wenig über sich und seine Gefährten zu erzählen, was mir natürlich sehr willkommen war.
Zum einen erfuhr ich so etwas über meine Lage und zum anderen musste ich nicht selbst unangenehme Fragen beantworten.
Ich verstand zwar nicht alles, aber doch genug. Sie waren Griechen und mit diesem Schiff auf dem Weg nach Rom.
Nicht schlecht! Da hatte ich vielleicht noch Glück im Unglück. Zu mindestens im Ort war die Abweichung nicht riesig.
Aber eigentlich hätte sie nur ein paar Meter betragen sollen.
Bevor die Drei nun auf die Idee kamen, sich eine Gegenfrage auszudenken, bat ich sie um Auskunft über das, was mich schon die ganze Zeit quälte. Nämlich, wie ich auf dieses Schiff gekommen sei.
Ich atmete keuchend aus, denn die Antwort war sehr, sehr beunruhigend.
Sie hatten mich auf dem Wasser treiben gesehen und Thalis, der ein guter Schwimmer war, hatte mich herausgeholt.
Ein Schauder lief mir den Rücken herunter bei der Vorstellung, welchen erbärmlichen Tod ich hätte finden können.
„Der Test lief gut“ – waren das nicht die Worte meiner Freundin und Chefin Lisa Bolzano gewesen? Nun, es hatte mal wieder nicht ganz so funktioniert wie es sollte. Und diesmal war ich nur knapp mit dem Leben davongekommen.
Hoffentlich würden sie das beim nächsten Mal besser hinbekommen! Doch bevor ich mich darum sorgen konnte, galt es erst einmal die aktuelle Situation zu bewältigen.
Meine Mitpassagiere hatten sich inzwischen auf eine weitere Frage an mich einigen können.
„Wie kommt es, dass ich dich aus dem Wasser fischen musste?“, fragte mein Retter Thalis.
Und schon waren wir an dem Punkt angelangt, an dem ich mit der Wahrheit einpacken konnte. Doch was sollte ich mir einfallen lassen?
Ich entschied mich für die naheliegende Variante.
„Ich war auch mit dem Schiff unterwegs, aber meines ist im Sturm gesunken.“
Die Drei warfen sich wissende Blicke zu.
„Ja, hier vor Rom kann das Wasser zuweilen tückisch sein.“, klärte mich Gregor auf, der mich bis dahin noch nicht angesprochen hatte. Vieleicht lag es daran, dass sein Latein nicht so flüssig war wie das der anderen.
„Und woher kam dein Schiff?“, hakte Thalis nach.
Da ich darauf nun wirklich keine Antwort wusste, machte ich einfach eine Geste, die „von weit weit her“ ausdrücken sollte.
Damit schienen sie sich fürs Erste zufrieden zu geben.
Da ich nun endlich Gewissheit haben wollte, beschloss ich einfach direkt zu fragen.
„Quis annus est?“ – Welches Jahr haben wir?
Alexios blickte mich etwas schräg an und krauste die Stirn, bevor er mir mitteilte, dass wir das Jahr 954 nach der Gründung Roms schrieben.
Na toll, und wann war die bitteschön? Ich hatte zwar einiges über die Antike gelernt, aber diese Jahreszahlen konnte ich mir noch nie gut merken.
Trotzdem war das eine gute Nachricht. Denn wenn die Zeitrechnung hier auf der Gründung Roms basierte, dann war ich zu mindestens irgendwann zur Zeit des römischen Reichs angelangt.
„Vielleicht hat das Wasser seinen Kopf leergespült?“, fragte Gregor interessiert.
Thalis nickte bedächtig. „Das ist eine interessante These, Bruder. Wenn er nicht mehr am Leben wäre, würde ich glatt nachsehen.“
Ich schreckte etwas zurück. Was sollte das denn heißen?
Thalis hatte mein Erstaunen bemerkte und setzte lachend hinzu, „keine Angst, ich habe nicht vor es zu tun.“
„Wir sind Ärzte musst du wissen. In Rom bezahlen die reichen Leute gut für unsere Dienste. Deshalb wollen wir dort die Praxis unseres Onkels übernehmen, der kürzlich verstorben ist.“
Aha, drei antike Quacksalber also, mit denen ich hier das Schiff teilte. Nun, solange sie keine Experimente an mir vornehmen wollten, sollte es mir recht sein.
„Ich werde dich besser nochmal untersuchen“, meinte Alexios. Er schien der Älteste zu sein und das Sagen zu haben.
Doch was hieß „nochmal“? Hatte er sich etwa schon einmal an mir zu schaffen gemacht?
Nur gut, dass die Spritzen noch nicht erfunden waren, oder? Hoffentlich nicht!
Aber ich hatte Glück und die Untersuchung gestaltete sich harmlos. Alexios sah sich lediglich meinen Kopf genauer an. Wahrscheinlich befürchtete er Beulen oder ähnliches nach meinem vermeintlichen Gedächtnisausfall.
„Ist das euer Schiff?“, fragte ich.
Die drei lachten.
„Natürlich nicht, das könnten wir uns leider nicht leisten. Es ist ein Frachtschiff.
Und dafür, dass wir mitfahren dürfen, haben wir dem Kapitän eine kleine Entschädigung gezahlt.“
„Also du bist nicht zufällig ein Bürger Roms?“, fragte mich jetzt Alexios.
„Nein, leider nicht.“
„Schade.“ Die drei wechselten einige Blicke miteinander.
„Wir hatten es gehofft. So hätten wir wenigstens Jemanden, der sich dort auskennt und uns unterstützen kann.“
„Wir haben auch gehofft, dass du sehr wohlhabend bist“, setzte Gregor hinzu, „und uns für deine Rettung reich entlohnen würdest.“
Das war ja klar, irgendeinen Hintergedanken mussten sie ja dabei gehabt haben, mich aus den Fluten zu ziehen. Von wegen Hippokratischer Eid und so.
„Damit kann ich euch leider auch nicht dienen. Mein gesamter Besitz ist mit meinem Schiff untergegangen. Und in Rom kenne ich niemanden.“
Die Enttäuschung war ihnen ins Gesicht geschrieben. Wobei, eigentlich stieß nur Gregor einen demonstrativen Seufzer des Bedauerns aus.
„Was wolltest du denn überhaupt in Rom? Oder warst du auf der Rückreise?“, setzte Thalis nach.
„Nein, ich befand mich auf dem Hinweg. Handel und so, das übliche.“
Ich hoffte, dass ihr Interesse an derlei Themen damit erschöpft war.
Thalis grübelte eine Weile.
„Ich denke, du kannst trotzdem etwas für uns tun.
Wenn es stimmt, was du sagst und du in Rom niemanden kennst, dann wirst du sicher froh sein, ein Paar Freunde dort zu haben.“
Dabei zeigte er in die Runde.
„Du könntest uns dabei helfen, unsere Habseligkeiten vom Schiff in die Behausung meines Onkels zu transportieren.“
Ich überlegte kurz. Das konnte ich natürlich tun. Viel Zeit würde das sicher nicht in Anspruch nehmen und Thalis hatte ganz Recht, mit dem was er da sagte.
Also stimmte ich zu.
Die anderen nickten befriedigt, da sie doch noch eine Gegenleistung für ihren Rettungseinsatz erhielten. Auch wenn sie nicht so groß und vor allem nicht so golden ausfiel, wie sie es sich gewünscht hätten.
Ich stand auf. Zwar war ich noch etwas wackelig auf den Beinen, aber es ging. Wie lange war ich jetzt schon wach? Fünfzehn Minuten vielleicht?
„Wann habt ihr mich eigentlich gefunden?“
Alexios dachte einen Moment nach.
„Das muss wohl so fünf Stunden her sein.“
Was!? Ich sollte fünf ganze Stunden lang bewusstlos an Deck gelegen haben?
Aber das konnte doch gar nicht sein. Dann hätte ja der Akku des TTEK längst wieder aufgeladen sein müssen!
Andererseits, wieso sollte er mich anlügen?
Mir wurde ganz anders. War die verdammte Elektronik etwa durch das Wasser beschädigt worden?
Ich versuchte mich zu erinnern, ob das Gerät wasserdicht konstruiert war, aber es gelang mir nicht.
Erst mal tief durchatmen. Nur keine Panik.
Es gab bestimmt eine plausible Erklärung. Eine, die nichts mit Kurzschlüssen zu tun hatte.
Unruhig grübelnd ging ich zwischen Bug und Heck umher. Dass die drei Freunde sich dabei beunruhigte Blicke zuwarfen, interessierte mich nicht. Sollten sie doch glauben, ich wäre da oben nicht ganz sauber. In meiner Lage war es so wie so besser unterschätzt zu werden, als anders herum.
Also gut. Mal angenommen die Elektronik war unversehrt geblieben. Dann gäbe es nur einen Grund, wieso das Gerät nicht funktionierte. Nämlich, dass es keinen Strom hatte.
Doch der Akku hätte ja längst… aber natürlich, das musste es sein!
Wie hätte denn der normale Ablauf meines kleinen Ausflugs durch Raum und Zeit aussehen sollen?
Genau, Hinreisen, ein paar Stunden Aufenthalt wenn‘s hochkam, und dann nichts wie zurück.
Und zwar zurück zur Basis, wo das TTEK ausführlich gewartet werden würde.
Doch was hatte ich getan, wenn auch unfreiwillig? Mehrere Wochen Aufenthalt und dann auch noch einen zweiten Zeitsprung, der den Akku erneut entladen hatte.
Kein Wunder, dass der so etwas nicht mitmachte. Dafür war er nicht konstruiert.
Aber das hätte Lisa doch gewusst? Sie hätte mich nicht auf eine zweite Reise ohne Wiederkehr geschickt, oder?
Andererseits hatten wir gar keine Wahl gehabt. Immerhin war dieses außerirdische Monster aus einer Parallelwelt hinter mir her gewesen – so unwirklich mir das im Rückblick auch schien.
An Monster hatte ich nie geglaubt. Naja vielleicht mit fünf Jahren.
Und an UFOs erst recht nicht.
Dass ich beidem einmal begegnen würde, und dazu noch in einer Person – falls man den Kerlock so nennen konnte – hätte ich nie zu träumen gewagt. Bei dem Gedanken daran wurde es mir auch jetzt noch ganz mulmig.
Doch ich schweifte wieder ab.
Abrupt blieb ich stehen. Ich befand mich gerade am Bug und konnte auf das nahende Festland blicken.
Ob das nicht nur das kurzfristige Ziel dieser Schiffsreise, sondern auch mein Grab werden sollte?
Denn dass ich verloren wäre, ohne Hilfe in dieser fremden Stadt und Zeit, erschien mir unausweichlich.
Die Situation wäre noch schlimmer als Ägypten. Eigentlich war es gar kein legitimer Vergleich, denn in Manus Land erging es mir ja – den Anfangstag mal ausgenommen – wirklich gut!
Und vor allem hatte ich jederzeit die Hilfe meiner digitalen gute Seele, Elisa, oder auch der Basis in Anspruch nehmen können.
Ich atmete tief ein und aus. Mehr Optimismus, Phillip!

Ich wusste nicht, wie lange ich schon an der Reling stehend vor mich hinsinniert hatte.
Irgendwann hatte mir Thalis vorsichtig auf die Schulter geklopft und gefragt, ob denn alles in Ordnung sei.
„Ja, alles in Ordnung, Thalis“, beruhigte ich ihn.
„Du siehst aber nicht so aus, wenn ich ehrlich bin.“
„Es ist nur… wegen meines Schiffes. Was ich alles verloren habe“, entgegnete ich und sprach damit wenigstens im zweiten Satz die Wahrheit.
Thalis nickte verständnisvoll.
Dann fragte er mich etwas, was ich zunächst nicht verstand. Ich bat ihn, es zu wiederholen, was er auch tat. Oft fand ich die Aussprache etwas ungewohnt, aber ich gewöhnte mich langsam daran.
„Waren deine Frau und Kinder darauf?“, war seine Frage.
„Ähm, nein. Ich habe weder das eine, noch das andere.“
Er nickte, doch meine Antwort schien ihn etwas verwirrt zu haben.
Plötzlich fiel mir auf, dass ich mich noch gar nicht bei ihm bedankt hatte. Immerhin hatte er mir das Leben gerettet.
Ob ich ihn einfach mal umarmen sollte?
Zum ersten Mal musterte ich ihn ganz bewusst. Er hatte kurzes und wuscheliges, schwarzes Haar und ebenso dunkle Augen. Außerdem schien er sich gründlich zu rasieren.
Aber nein, das war hier sicher nicht üblich unter Fremden. Lebensretter hin oder her.
„Ich möchte dir noch danken, Thalis. Dafür, dass du mich vor dem sicheren Tod gerettet hast.“
Er schaute etwas verlegen zu Boden, was ziemlich süß mitanzusehen war.
„Keine Ursache“, murmelte er.
Ein komischer Bursche.
„Komm doch mit zu den Anderen“, meinte er jetzt, „wir spielen das Dreiecksspiel.“
Sie spielten was?
Ach verdammter Mist!
Elisa hätte es sicher gewusst.
Mein Blick trübte sich wieder und schweifte in die Ferne ab.
Thalis merkte das sehr wohl und legte mir die Hand auf die Schulter.
„Komm schon, Phillip. Das wird dich wieder aufmuntern. Wir haben auch was zu trinken da.“
Ich seufzte. Er hatte ja Recht. Und einen guten Schluck konnte ich wirklich brauchen – solang es kein Salzwasser war.
Außerdem sollte ich endlich mit der Schwarzseherei aufhören, solange noch nichts feststand. Vielleicht brauchte der Akku einfach nur etwas länger für den Wiederaufladeprozess…
Auch wenn ich das ungute Gefühl, das mir in den Gliedern saß, nicht ganz verdrängen konnte, folgte ich Thalis zu den anderen.

Beim Dreiecksspiel war der Name Programm.
Das Spielfeld bestand aus einem auf dem Boden liegenden Tuch, auf das ein Dreieck gezeichnet war. Es war durch horizontale Striche in zehn Bereiche unterteilt.
Der trigonometrischen Natur zufolge, war der die Spitze einschließende Bereich der Kleinste, wobei die Größe nach unten hin zunahm. Die Bereiche waren von der Spitze her absteigend mit den römischen Ziffern X bis I, also 10 bis 1, markiert.
Nachdem ich Thalis gestanden hatte, das Spiel nicht zu kennen, war er zwar überrascht, erklärte mir den Ablauf aber bereitwillig.
Das Ziel war es, in drei Metern Entfernung von der Spielfläche stehend, diese mit einer geworfenen Nuss zu treffen. Dabei richtete sich die Punktzahl für den Wurf nach dem zahlenmäßigen Wert des Spielfelds, auf dem die Nuss zum Stehen kam.
Was sich recht einfach anhörte, war es in der Praxis nicht ganz. Das Schwanken des Schiffs machte es teils schwierig, überhaupt das Tuch zu treffen.
Alexios und Gregor zeigten allerdings erhebliches Geschick dabei, ihre Würfe der Neigung des Kahns anzupassen und trotz aller Widrigkeiten gute Treffer zu landen.
Am Anfang schlug ich mich weniger gut, doch dauerte es nicht lange, bis ich den Dreh raus hatte.
Ebenso schien es Thalis zu gehen, der sogar Anfangs eine spöttische Bemerkung Gregors über sich ergehen lassen musste.
Ob denn seine Arme beim Schwimmen eingegangen wären, hatte dieser gewitzelt.
Aber auch mir erschien es merkwürdig, wo er doch während der langen Reise schon einige dieser Spielabende hinter sich gebracht haben musste.
Ob er vielleicht absichtlich… aber nein, Phillip. Du bildest dir wieder etwas ein!
Als wir einige dutzend Spielrunden hinter uns hatten, trat ein anderes, diesmal allgemeines Phänomen zu Tage. Die Würfe wurden ungenauer und schließlich war es sogar eine Seltenheit und Anlass zu lautem Jubel, wenn einer von uns überhaupt noch einen Punkt erzielte.
Was war geschehen? Die Trefferrate hatte in dem Maße abgenommen, wie der Alkoholpegel, gespeist durch stetige Zufuhr aus dem Bauch des Schiffes, zunahm.
Irgendein Wein, von dem unter Deck ein schier unerschöpflicher Vorrat zu lagern schien, wurde seit Beginn des Spiels tüchtig ausgeschenkt und ebenso tüchtig getrunken.
Dass ich nicht viel davon vertrug, war mir schnell klar gewesen. Der Reiseproviant, den die drei netterweise mit mir teilten, hatte nur einen kurzen Aufschub bewirkt.
Überhaupt hätte ich mir das vorher denken können, wo ich doch auch zuhause nur anlässlich gelegentlicher Betriebsfeiern etwas trank.
Diese Abstinenz gehörte zu meinem Trainingsprogramm. Früher, zu Zeiten meines Studiums, hatte das noch ganz anders ausgesehen. Aber von meiner damaligen Trinkfestigkeit war nichts mehr übrig geblieben.
Lautes Gelächter erscholl neben mir, als Thalis seinen Wurf derart versemmelte, dass die Nuss über Bord ging.
„Vielleicht solltest du hinterher springen und Sie retten?“, scherzte Gregor.
„Ich denke“, setzte er mit schwerer Zunge fort, stockte dann aber.
„Du denkst, aha. Das ist ja mal etwas Neues!“, setzte Alexios von allgemeiner Heiterkeit begleitet nach.
„Ja, ich denke. Und zwar denke ich, dass wir jetzt schlafen sollten.“
Alexios nickte. „Da hast du ausnahmsweise mal Recht, Bruder. Wir werden morgen Vormittag im Hafen einlaufen und da wollen wir doch alle nüchtern sein.“
Zustimmendes, wenn auch unwilliges Brummen zeugte von allseitigem Einverständnis. Der Spieleabend war beendet, der Tag ausgeklungen.
Nun wankte ich zur Reling und stützte mich darauf ab. Wie viel Uhr wir wohl gerade hatten?
Ein kleiner, alkoholverschleierter Anflug von Wehmut überkam mich. Elisa hätte es mir sagen können.
Die Armbanduhr war noch nicht erfunden, so viel konnte ich an den Handgelenken meiner Mitreisenden ablesen. Überhaupt war das bei den Römern mit den Stunden etwas anders, aber an die Details konnte ich mich nicht mehr erinnern.
Ich schreckte ein wenig zusammen, als Thalis hinter mir das Wort ergriff. Ich hatte ihn nicht kommen hören.
„Fall nicht ins Wasser. Jetzt könnte ich dich nicht mehr retten.“
War das jetzt Smalltalk, das Geschwätz eines Betrunkenen, oder ersthafte Sorge? Egal, heute würde ich die Welt nicht mehr ergründen – und morgen auch nicht.
„Ja, gehen wir schlafen. Aber wo überhaupt?“
„An Deck natürlich. Unten ist alles voll mit der Ladung. Da drüben sind einige Matratzen.“
Mit diesen Worten trat er neben mich und pinkelte hinunter ins Meer.
Aha, so machte man das hier also. Wie auch sonst?
Ich dachte nicht lange nach und tat es ihm gleich.
Kurz darauf gingen wir zu der Stelle, auf die er eben gezeigt hatte. Tatsächlich lag neben einigen Fässern ein Stapel Matratzen, von dem sich die anderen bereits bedient hatten. Wir nahmen ebenfalls je eine und legten uns dazu. Sogar ein Kissen gab es für jeden.
„Gute Nacht allerseits“, wünschte Alexios. „Morgen sind wir an Land!“
Ich wünschte ebenfalls eine erholsame Nacht und rückte mich auf meinem Lager zurecht.
Die Matratze schien mit Stroh gefüllt zu sein.
Unter normalen Umständen wäre es mir schwergefallen, darauf ein Auge zu zutun. Aber der Alkohol wirkte und die bereits in Ägypten antrainierte Enthaltsamkeit, was angenehme Betten anging, tat ihr Übriges, so dass ich im Nu einschlief.
Kapitel 2
„Puteoli! Puteoli! Alles aufstehen, Hafen voraus!“
Die dröhnende Stimme des Kapitäns weckte uns.
Verschlafen richtete ich mich auf und musterte die Lager neben mir. Gregor rieb sich gerade den Schlaf aus den Augen und Thalis rührte sich noch nicht. Nur Alexios war nicht zu sehen.
Als ich mich mit meinen müden Augen umsah, entdeckte ich ihn am Bug stehend, wie er sich mit dem Kapitän unterhielt. Diesen hatte ich bisher kaum zu Gesicht bekommen. Er schien sich nicht viel um seine Gäste zu scheren.
„Verdammter Wein“, murmelte Thalis neben mir.
Da hatte er Recht, mein Schädel brummte auch. Doch es hatte keinen Zweck, ich musste aufstehen. Zudem interessierte mich brennend, was vor uns lag.
Als ich neben Alexios an den Bug trat, sah ich es.
Ein beeindruckendes Hafenbecken breitete sich vor meinen Augen aus.
Das imposanteste daran war eine Art steinerner Steg, den wir gerade passierten. Er führte vom Ufer mehrere hundert Meter ins Meer hinaus und war dabei über zehn Meter breit.
Durch Rundbögen waren die massiven Pfeiler miteinander verbunden, die den Weg trugen. Ähnlich mancher modernen Brücke.
Aber damit nicht genug. Der Steg wurde auch durch Säulen, Statuen und Triumphbögen verziert, sowie durch Spaziergänger bevölkert.
Aber wozu das alles? Schiffsanlegestellen sah ich dort keine. Doch irgendeinen Zweck neben Landschaftsverschönerung musste es wohl haben.
Ich fragte Alexios danach.
„Es ist eine Mole. Zum Schutz vor den Wellen, wegen der gefährlichen Südwinde.“
Aha, das war es also. So etwas gab es sicher auch bei uns, nur ohne die ganze Verzierung. Diese Pracht wäre zu meiner Zeit sicher unbezahlbar und würde als dekadent empfunden.
Aber hier galten eben noch andere Maßstäbe.
Je tiefer wir in den Hafen einfuhren, desto besser konnte ich die Ausmaße der ganzen Stadt erfassen. Doch irgendwie kam mir das, was ich dort sah, merkwürdig vor.
Sicher, es war eine recht große Ansammlung an Schiffen, Hafengebäuden und weiter hinten auch Wohnhäusern. Sogar ein Amphitheater war zu erkennen.
Aber wie eine Großstadt sah es doch nicht aus. Kurzum, Rom hatte ich mir anders vorgestellt.
Doch das musste nicht viel heißen. Ich wusste ja immer noch nicht in welcher Zeit ich mich befand – ja nicht einmal, in welcher ich mich bei korrekt verlaufenem Zeitsprung hätte befinden sollen.
Schließlich hatte bei meiner überstürzten Flucht alles verdammt schnell gehen müssen.
Ich seufzte. Elisa hätte es gewusst.
Wieder einmal überwältigte mich ein Anflug von Hoffnungslosigkeit. Was sollte ich nur tun?
Bilder traten mir vor Augen. Von Lisa Bolzano. Glückliche Stunden, die ich zusammen mit meiner Chefin und zugleich besten Freundin verbracht hatte. Von meinen Kollegen am CERN. Und von meiner Familie, die sich sicher riesige Sorgen machte.
Ob ich sie jemals wiedersehen würde?
Seit meiner Ankunft war schon rund ein Tag ohne das geringste Funktionszeichen des TTEKs vergangen. Wie lange konnte ich noch hoffen?
„Sieh nur, Phillip!“
Thalis hatte sich wohl aufgerafft, denn er stand nun neben uns. Schnell blinzelte ich mir die Feuchtigkeit aus den Augen.
Wohl nicht schnell genug, denn Thalis hatte es bemerkt.
„Ist alles in Ordnung mit dir?“
„Ja, klar. Das ist nur der Fahrtwind.“
Keine Ahnung, ob er mir das glaubte. Er gab sich jedenfalls damit zufrieden.
„Sieh nur wie schön und prächtig hier alles ist. Wie wird es da erst in Rom sein!“
Hatte ich das jetzt richtig verstanden?
„Das hier ist nicht Rom?“
Thalis lachte. Alexios, der unser Gespräch von Links her mitgehört hatte, ebenfalls.
„Natürlich nicht“, klärte er mich auf.
„Das hier ist Puteoli. Eine der größten Hafenstädte im Reich. Bis nach Rom ist es noch ein ganzes Stück, aber wir müssen die Reise an Land fortsetzen.“
Das erklärte natürlich, wieso mein Rom-Bild nicht zu dieser Stadt passen wollte.
„Wie weit ist es denn von hier?“
„Um die 140 Meilen. Nur wenige Tagesreisen auf der Via Appia.“
Uff… Tagesreisen! Das erinnerte mich an meine letzte, wochenlange Schifffahrt auf dem Nil. Und daran, dass sich in den vergangenen tausend Jahren nicht viel hinsichtlich der Reisegeschwindigkeit getan hatte.
Doch der Straßenname Via Appia kam mir bekannt vor. Das war jenes Musterstück römischer Pflasterkunst, welches sich von Rom in teils kilometerlangen, schnurgeraden Abschnitten bis weit in den Süden des italienischen Stiefels zog.
„Schafft euer Gepäck zusammen und holt unsere Ladung herauf“, ordnete Alexios an.
„Und du hilf mit, Phillip. Wenn wir anlegen, sollte alles beisammen sein. Sonst dauert die Zollkontrolle nur unnötig lang.“
Thalis brummte unwirsch, machte sich dann aber an die Arbeit. Ich folgte ihm und packte ebenfalls an.
Körperliche Anstrengung war immer eine gute Ablenkung.

Gefühlte fünfzig Kisten später sah ich das Ganze in einem etwas anderen Licht.
„Oh, Mann! Was ist denn da alles drin? Ich hoffe wir haben es bald.“
„Keine Sorge“, beruhigte mich Thalis, „diese hier dürfte die letzte sein. Und wegen dem Inhalt, nun es sind Kleidungsstücke, ein paar Andenken an Zuhause und natürlich unser medizinisches Arsenal.“
Dass ich nun wusste, was ich da schleppte, machte die Arbeit auch nicht leichter. Aber zum Glück war es ja geschafft.
Das Schiff hatte mittlerweile seinen Anlegeplatz erreicht und die Taue wurden festgemacht.
Ächzend setzte ich die letzte Kiste ab.
Gerade sprang der Kapitän an Land, wo er von einem kleinen Begrüßungskomitee bestehend aus drei Hafenmitarbeitern empfangen wurde.
Für die weniger gelenkigen unter uns wurde jetzt eine Planke aufgelegt.
Alexios winkte mich heran.
„Hör mal, Phillip, wir machen das folgendermaßen. Wenn die Zöllner fragen, geben wir dich als unseren Sklaven aus. Das mag zwar etwas unwürdig klingen, aber es vermeidet unnötige Fragen und Wartezeiten.“
„Sicher. Mach es so wie du es für das Beste hältst“, entgegnete ich.
Auch wenn es mir nur recht war, möglichst unbemerkt zu bleiben, beschlich mich doch ein leichtes Déjà-vu-Gefühl.
Eine schmerzliche Erinnerung an Manu blieb natürlich ebenso wenig aus. Wenn man bedachte, dass ich ihn vor wenigen Stunden zuletzt gesehen hatte… Und doch war er mittlerweile über ein Jahrtausend lang tot.
Ob er wohl noch ein schönes Leben gehabt hatte? Wobei man unterscheiden müsste, denn der Manu dieser Welt hatte mich niemals kennengelernt. Schließlich entspricht diese wieder der ursprünglichen Vergangenheit aus Sicht meiner Heimatzeit.
Ob er wohl ein glücklicheres Leben hatte, ohne mich kennengelernt zu haben?
Doch ich kam nicht dazu, mir weiter den Kopf über die verwirrenden Zusammenhänge zu zerbrechen, denn abermaliges Kistenschleppen war angesagt. Diesmal vom Schiff auf einen Wagen.
Während Thalis, Gregor und ich anfingen das Gepäck zu befördern, unterhielt sich Alexios mit einem der Männer vom Hafen. Wahrscheinlich der Zollbeamte, von dem er gesprochen hatte.
Gerade kam ich an ihnen vorbei und lauschte, um den Inhalt des Gesprächs zu erfahren, als der Beamte seinerseits aufmerksam wurde.
„Stopp! Nicht so schnell! Bevor diese Kisten verladen werden, muss sämtlicher Inhalt deklariert werden.“
Hilfesuchend sah ich zu Alexios. Er redete nun auf den eher kleinen, pausbäckigen Staatsrepräsentanten ein.
„Aber mein lieber Pontius, ist das denn wirklich nötig?
Wir haben wirklich viele Kisten – belanglose Dinge, nebenbei bemerkt, von lediglich persönlichem Wert – und möchten deine wertvolle Zeit nicht über Gebühr beanspruchen.“
Der kleine Mann blinzelte, hin- und hergerissen zwischen korrektem Dienstablauf und Alexios Schmeicheleien.
Dieser bemerkte sein Zögern und setzte sofort nach.
„Sieh mal, dort drüben, geschätzter Freund. Noch ein weiterer Frachter, der kurz vor dem Anlegen ist.“
Alexios Blick wanderte vom Frachtschiff demonstrativ zum Himmel und ein Ausdruck der Anteilnahme legte sich auf sein Gesicht.
Mit sanfter, verständnisvoller Stimme setzte er seinen Monolog fort.
„Wie spät es schon ist. Wenn du dieses Schiff auch noch abfertigen musst, kommst du nicht vor Sonnenuntergang nach Hause. Es wäre mir wirklich peinlich, dir so etwas zuzumuten.“
Der Zöllner erschien erleichtert, konnte sein Verstand dieses Problem doch leicht lösen.
„Mach dir nur keine Sorgen, für das Schiff da drüben ist mein Kollege zuständig. Wenn wir also gleich anfangen, sind wir vor Einbruch der Dunkelheit durch.“
Das war nicht die Reaktion, die Alexios sich gewünscht hatte. Er verzog kurz das Gesicht, bevor er einen weiteren Ansatz unternahm.
„Verehrter Pontius, wie lange ist es nun her, dass ich zuletzt hier ankam, um meinen Onkel zu besuchen?
Schon über ein Jahr, wenn ich mich recht entsinne. Und zu meiner Verwunderung muss ich nun sehen, dass ein Mann wie du, ja solch ein Mann sage ich, noch nicht zum Hafendirektor ernannt worden ist.
Mir höchst schleierhaft, muss ich sagen.“
Eine kurze Zuckung durchlief seine Mimik und es erschien fast, als hätte ihm der Heilige Geist persönlich eine Idee eingegeben.
Hätte ich es nicht besser gewusst, würde ich mich in einer Theatervorstellung wähnen. Denn ein guter Schauspieler war Alexios ohne Zweifel.
Nur dass er nicht auf Unterhaltung des Publikums abzielte, sondern auf eine Umgehung der Frachtkontrolle.
„Ich habe eine Idee, teurer Pontius. Wenn ich in Rom ankomme, werde ich meinem Onkel von deinen hervorragenden Verdiensten erzählen. Als angesehener Arzt kennt er so manche Persönlichkeit.“
Das war hoch gepokert, wo sein Onkel doch längst das Zeitliche gesegnet hatte. Wieso nur wollte er unbedingt die Gepäckinspektion vermeiden?
Der Beamte fuhr sich über den fast haarlosen Schädel.
„Aber Alexios, ich habe doch von der Beerdigung deines Onkels gehört?“
Also zu hoch gepokert. Hoffentlich würde das ein gutes Ende nehmen.
Alexios gab sich überrascht, während er fieberhaft nach einem Ausweg suchte. Die anderen standen mittlerweile hinter mir und folgten gespannt dem Gespräch.
„Er hat es wieder verbockt“, flüsterte Gregor Thalis zu.
Da er unter Zugzwang stand, setzte Alexios ein verbindliches Lächeln auf und begann.
„Nun, gnädigster Pontius, es verhält sich –“
Plötzlich unterbrach ihn ein durchdringendes Geräusch.
„Piep! Piep! Piep!“
Ein dreimaliges, deutlich hörbares Piepen.
Eigentlich war es zu regelmäßig, als dass ein natürlicher Ursprung in Frage käme.
Aber es kam nicht aus dem Mikrolautsprecher in meinem Ohr, denn die anderen hatten es auch wahrgenommen.
Ich hielt immer noch die Kiste in den Händen, doch der wahre Ursprung konnte eigentlich nur das TTEK sein. Ob es ein gutes Zeichen war, wusste ich zwar noch nicht, aber immerhin war es ein Zeichen!
„Elisa?“, hauchte ich stumm.
Hoffentlich reagierte sie wieder!
Doch sie blieb mir die Antwort schuldig. Nur der Zollbeamte blickte kritisch in meine Richtung.
„Was war das für ein Geräusch?“
Seine Mine verfestigte sich und er schien einen Entschluss gefasst zu haben.
„Toter oder lebendiger Onkel – ganz egal. In diesen Kisten aber, da ist etwas lebendig. Ihr führt doch keine illegalen Tiere ein?“
„Natürlich nicht“, entgegnete Alexios etwas verwirrt.
„Nun denn, alle Kisten öffnen! Vor dem Verladen muss sämtlicher Inhalt deklariert werden.“
Der Grieche gab sich geschlagen. Er gab uns ein Zeichen, der Aufforderung des Beamten nachzukommen.
Ich stellte die Kiste ab, die ich so wie so schon viel zu lange in den Händen hielt und hob den Deckel hoch.
Eine Ansammlung verschiedener Fläschchen kam zum Vorschein.
„Aha!“, rief Pontius aus, „was haben wir denn hier?“
„Lediglich unser bescheidener Vorrat an medizinischen Tinkturen. Sicher keine Tiere.“, erklärte Alexios resignierend.
„Medizin, also. Aha, zollpflichtig! Alles zollpflichtig!“
Mit geschäftiger Mine zog er eine Liste hervor, auf der verschiedene Güter und die zugeordneten Einfuhrzölle zu erkennen waren.
„Gibt es noch mehr davon?“
Alexios rollte mit den Augen.
„Ein wenig.“
Wir setzten den Transport der Kisten wieder fort, wobei auf halbem Wege der Deckel abgehoben wurde und sich der Inhalt einer gründlichen Musterung durch die Augen des kleinen Mannes unterziehen musste.
In dem in verschiedenen Tonlagen geäußerten „Mhmm“ und „Hmmm“, das wohl „ich habe es ja gleich gewusst“ ausdrücken sollte, äußerte sich sein Behagen.
Letztendlich stellte sich Alexios Mengenangabe von „ein wenig“ als „fast alle Kisten“ heraus. Woraufhin ihm der Zöller einen Betrag nannte, der den Griechen scheinbar auf der Stelle um einige Jahre altern ließ.
„Hast du das noch einmal nachgerechnet?“, fragte Alexios sicherheitshalber und mit der vagen Hoffnung, es könnte sich vielleicht um ein Irrtum handeln.
„Aber sicher. Es hat alles seine Richtigkeit.“
Gregor und Thalis, die gerade die letzte Kiste im Wagen verstaut hatten, warfen sich beunruhigte Blicke zu.
„Mein guter Pontius“, begann Alexios mit zögerlicher Stimme und fügte etwas fester hinzu, „gehen wir doch ein Stück. Ich muss noch etwas mit dir bereden.“
Während sie sich am Kai entlang entfernten, traten meine beiden anderen Reisegefährten neben mich.
„Gregor, was macht er da bloß?“
„Keine Ahnung, Thalis. Woher soll ich das wissen? Vielleicht will er ihn loswerden, indem er ihn zu den Fischen schickt.“
„Ich hoffe es nicht. Hier gibt es an die dutzend Wachposten.“
Tatsächlich war die Umgebung gut bewacht. An jedem Hafengebäude und Anlegeplatz stand ein Wachmann. Aber ich glaubte kaum, dass Alexios etwas in dieser Art vorhatte.
Einen Plan jedoch schien er zu haben. Aus der Entfernung erkannte ich nur wie er dem Beamten vertraulich zuredete.
Kapitel 3
Dr. Lisa Bolzano saß alleine in ihrem Büro und vergrub das Gesicht in den Händen. Es erschien ihr ungerecht, auf dem bequemen, maßgefertigten Ledersessel Platz nehmen zu dürfen, während ihr Kollege und Freund irgendwo – oder auch nirgendwo – in einer vergangenen Welt verschollen war.
Sie schreckte hoch, als es an der Tür klopfte.
„Herein!“
Entschuldigend betrat Dr. Torres, Leiter des Zentrallabors, den Raum. Schnell richtete Lisa sich auf. Sie blickte ihm erwartungsvoll entgegen.
Wenn er schon persönlich kam… ob es Nachricht von Phillip gab?
„Ich bringe nur die neuen Messergebnisse.“
Er wedelte wie zur Rechtfertigung mit einem Blatt elektronischen Papiers.
Sie ließ sich in den Sessel zurücksinken und atmete geräuschvoll aus.
„Es tut mir leid, Lisa. Sie haben sicher auf eine andere Nachricht gehofft. Er wird sich noch melden, davon bin ich überzeugt. Bedenken Sie, dass erst 24 Stunden vergangen sind. In Ägypten hatten wir erst nach 35 Stunden Kontakt.“
Er legte das Blatt auf den Schreibtisch.
Dass die Messergebnisse nur einen Vorwand darstellten, ihr einen Besuch abzustatten, war Lisa klar. Sie hätte die Tabelle jederzeit an ihrem Computerterminal abrufen können.
Im günstigen Fall wollte Torres ihr also ein wenig Trost spenden. Im ungünstigen Fall war er vom Aufsichtsrat geschickt worden, um ihren Gemütszustand zu testen.
„Schlafen Sie lieber ein wenig, Lisa. Auch wenn es ihnen schwerfällt. Sie können jetzt nichts tun.“
Sie nickte ihm dankbar zu, bevor er das Zimmer verließ. Nein, er war aus eigenem Antrieb hier, sonst hätte er zu mindestens gefragt, wie es ihr ginge.
Kurz überflog sie das Schriftstück auf ihrem Schreibtisch, nichts Neues natürlich. Es wanderte in den Papierkorb.
Die Einrichtung des Büros setzte sich aus einer Mischung von moderner Kühle und persönlicher Wärme zusammen.
Während zwei graue Stahlschränke und ein überdimensionierter Kalender an der linken Wand eine sterile Atmosphäre erzeugten, bemühte sich die gegenüberliegende Seite, das Gegenteil zu vermitteln. Dort befanden sich ein großes, in die Mauer eingelassenes Aquarium, sowie einige Gemälde.
Lisas Blick schweifte von dem größten Exemplar, das sie von zuhause mitgebracht hatte – es war der Blick auf Florenz von Oswald Achenbach – zu den Fotografien auf ihrem Schreibtisch. Keine mit Kunstanspruch, sondern private.
Die eine zeigte sie zusammen mit ihrer Familie. Die andere Phillip und sie auf einer Team-Exkursion nach Lübeck, dem eigentlich geplanten Zeitreise-Ziel.
Sie seufzte. Natürlich hatte Torres Recht, wenn er sagte, dass es in Ägypten noch länger gedauert hätte.
Das war damals jedoch zu erwarten gewesen, nachdem der Zeitsprung mit ein paar tausend Jahren Abweichung alles andere als glatt lief. Es war nur dem unermüdlichen Einsatz des ganzen Teams zu verdanken, dass man letztendlich eine Verbindung hatte herstellen können.
Doch diesmal war die Lage anders. Auch wenn sie noch nicht ganz verstanden wie es genau funktionierte – immerhin hatten sie mit Daten aus der fernen Zukunft gearbeitet – so war doch kein Störsignal wie bei letzten Mal oder irgendetwas anderes ungewöhnliches aufgetreten.
Es sah so aus, als wäre alles in Ordnung – und doch meldete sich Phillip nicht.
Die Situation war also keineswegs mit Ägypten zu vergleichen. Am meisten aber ärgerte es sie, dass sie rein gar nichts tun konnte. Nur Abwarten und Tee trinken wie man so schön sagte.
Trotzdem hätte es nur moderaten Grund zur Sorge gegeben, wenn nicht Dr. Carrol heute Morgen eine sehr beunruhigende Entdeckung gemacht hätte.
Ein wenig zerknirscht, wie ein Kleinkind das etwas Dummes angestellt hatte, war er an sie herangetreten.
Es wäre möglich, dass er den Grund für die Verzögerung wüsste, hatte er gesagt.
„Spannen Sie mich nicht auf die Folter, Rick.“
„Ich habe gerade eine Simulation durchgeführt, die die Einflüsse mehrerer Transfers in Folge auf den Körper und die Elektronik abschätzt. Dabei habe ich zum ersten Mal auch die neuen Daten von Keith verwenden können.“
„Ja, und? Besteht die Gefahr gesundheitlicher Schäden?“, hatte sie alarmiert gefragt.
„Nein, nein. Das ist es nicht. Aber der Akku des TTEKs könnte darunter leiden. Ich meine, es wäre möglich, dass er seine volle Kapazität nicht mehr erreichen kann.“
„Von wie viel Prozent Leistungsabfall reden wir hier?“
„Bis zu 80 Prozent.“
Das hatte gesessen. Lisa war seitdem noch unruhiger geworden und malte sich immer schrecklichere Szenarien aus.
Sie drehte sich im Sessel um die eigene Achse. Wäre sie gläubig, hätte sie jetzt gebetet. Dafür, dass Dr. Carrol Unrecht hatte.
****
Das Holpern und Schaukeln mit dem sich der vollbeladene Wagen über die Pflastersteine bewegte, erinnerte mich ein wenig an meinen unfreiwilligen Kamelritt in Ägypten. Zum Glück war ich jetzt in besserer körperlicher Verfassung und musste nicht mit Übelkeit kämpfen.
Bequem war die Fahrt allerdings nicht. Es hatte sich nämlich herausgestellt, dass die vordere Sitzbank des von zwei Pferden gezogen Wagens nicht mehr als drei Leute fasste. Einer musste also nach hinten ausweichen und mit der Ladefläche vorlieb nehmen.
Dieses Los traf als ungeplanten Gast natürlich mich und so hockte ich auf einer der Kisten, deren exorbitante Zollkosten Alexios doch irgendwie hatte abwenden können. Denn nachdem er mit dem Beamten im Schlepptau von der kleinen Uferpromenade zurück war, hatten wir uns direkt in Bewegung gesetzt.
Zunächst hatte ich gehofft, er würde uns gleich erklären wie er dieses vermeintliche Wunder zustande gebracht hatte. Doch die letzten fünf Minuten, die wir uns nun schon durch die engen Straßen Puteolis schlängelten, hatte Alexios kein Wort darüber verloren.
Auch die anderen beiden hatten offenbar erwartet, eingeweiht zu werden und warfen sich missmutige Blicke zu, als Alexios Erklärung ausblieb.
Doch sie fragten ihn auch nicht. Scheinbar wollten sie ihm gegenüber nicht zugeben, dass sie nicht den blassesten Schimmer hatten wie er es geschafft hatte.
Ich war da etwas pragmatischer. Um meine Neugier zu befriedigen, fragte ich schließlich.
„Also Alexios. Jetzt erzähl uns doch mal wie du den Zöller überzeugt hast.“
Er schmunzelte. „Ich hatte gedacht, ihr fragt nie.“
„Wieso sollte ich auch fragen?“, warf Gregor ein, „Ich bin bereits im Bilde.“
„Umso besser. Dann kannst ja gleich du die Geschichte erzählen. Ich muss mich so wie so aufs Lenken konzentrieren.“
Damit hatte Gregor wohl nicht gerechnet.
„Ähm… ich denke ein Bericht aus erster Hand ist in diesem Fall verständlicher.“
Thalis konnte sich ein Lachen nicht verkneifen.
„Also gut. Aber eigentlich war es ganz simpel“, begann Alexios. „Ich habe ihm nur eine kleine medizinische Tinktur überlassen.“
„Was denn für eine Tinktur?“, fragte Gregor zweifelnd. Wobei er nicht zu merken schien, dass er damit zugab, doch nichts zu wissen.
Alexios hatte diesen Widerspruch auch bemerkt und warf ihm einen skeptischen Blick zu, ging aber nicht weiter darauf ein.
„Ganz einfach: Eine Salbeitinktur der Ausdauer.“
„Eine was?“
„Na ein kleines Potenzmittelchen.“
Jetzt hatte es jeder verstanden und ein allgemeines Kichern ging um.
„Da hast du aber Glück gehabt“, gab Thalis zu bedenken. „Wenn Pontius Stehkraft noch auf der Höhe gewesen wäre, hättest du wohl schlechte Karten gehabt.“
„War sie aber nicht. Und das habe ich als guter Arzt gleich bemerkt.“
Ob und wie man jemandem ansehen konnte wie es um seine Manneskraft bestellt war, wusste ich zwar nicht, aber Alexios hatte den richtigen Riecher gehabt.
„Hättest du ihn denn bezahlen können, wenn er nicht darauf eingegangen wäre?“, fragte ich.
Alexios Miene wurde wieder ernst.
„Nein, das hätte ich nicht. Er hat ein Viertel mehr Denari verlangt, als wir besitzen.“
Also hatten wir wirklich Glück gehabt. Was dann wohl passiert wäre? Vielleicht hätten wir die Differenz im Frondienst als Hafenarbeiter ableisten müssen. Ich fragte lieber nicht.
Stattdessen beobachtete ich neugierig unsere Umgebung. Dabei sah ich nur das, was vor uns lag, denn die den Wagen abdeckende Plane versperrte die Sicht in andere Richtungen.
Es war viel los. Fahrzeuge kamen uns entgegen und jede Menge Fußgänger. Die mussten sich an den Seiten entlangdrückten, denn es wurde ziemlich Eng auf dem Weg, vor allem wenn sich zwei Wagen aneinander vorbei schoben.
Die Straße schien sich noch eine Weile fortzusetzen. Ab und zu wurde sie durchstoßen von kleinen Nebenpfaden, die aber nur für Fußgänger geeignet waren.
An den Seiten fanden sich dicht an dicht Bauten der verschiedensten Höhe. Von einem bis zu vier Stockwerken war alles dabei.
Die Bauweise erschien mir sehr fortschrittlich, da die verwendeten Steine mit Beton zusammengehalten wurden. Diese Steine waren aber, sowohl in Anordnung als auch in Form, weit weniger regelmäßig als bei modernen Häusern.
Die Schlechte Sicht aus dem Laderaum heraus wurde von einem anderen Umstand mehr als Wett gemacht. Ich konnte mich hier ungestört zurückziehen und das TTEK einer kleinen Inspektion unterziehen.
Denn ich wusste immer noch nicht, was dieses Piepen vorhin zu bedeuten hatte.
Ich ließ mich also auf einer der hinteren Kisten nieder.
„Elisa?“, fragte ich lautlos.
Keine Antwort. Normalerweise reichte es die Worte lediglich zu formen, ohne sie tatsächlich auszusprechen. Das TTEK konnte die Vibrationen durch einen implantierten Stimmbandsensor erfassen.
Doch um sicherzugehen frage ich noch einmal laut: „Elisa?“
Zuerst passierte gar nichts. Dann ertönte ein leises Knacken.
Darauf etwa ein Dutzend ebenso leise Piepstöne.
Na toll. Was sollte ich jetzt davon halten. Hatte Elisa ihren elektronischen Verstand verloren?
Schon wieder begann das Piepsen. Einzelne aneinandergereihte Töne von der immer gleichen Höhe, aber verschiedener Länge.
Gerade als ich das bedachte, fiel mir auch ein, um was es sich da handelte. Das musste Morsecode sein!
Sie war also doch nicht verrückt! Eine gewisse Erleichterung überkam mich.
Neben der Frage, wieso Elisa versuchte mit mir in Morsecode zu kommunizieren, stellte sich jedoch das Problem, dass ich keinen blassen Schimmer vom Morsealphabet hatte.
„Kannst du mich denn verstehen?“, fragte ich sie.
Ein einzelner Piepton teilte mir mit, dass sie es wohl konnte.
„Das ist gut, aber ich verstehe dich nicht. Ich weiß, dass es sich um Morsezeichen handelt, aber ich kenne das Morsealphabet nicht.“
Ein kurzer Blick nach vorne bestätigte mir, dass ich leise genug redete und die anderen von unserem etwas einseitigen Dialog nichts mitbekamen.
Elisa piepte nicht mehr.
Kurz schmunzelte ich in mich hinein, denn die Erinnerung an eine ähnliche Situation trat mir vor Augen. Mit Manu hatte ich ebenfalls nicht reden können, da ich vorgegeben hatte stumm zu sein. Er hatte mich dann alles Mögliche gefragt, auf dass ich nur mit Kopfnicken oder -schütteln antworten musste.
Und genau das würde auch mit Elisa funktionieren. Nur dass diesmal ich der Fragende war.
„Also gut. Ich stelle dir jetzt einige Fragen. Du antwortest mit einem Piep für Ja, und mit zwei Pieps für Nein.“
Piep.
Zunächst die wichtigste Frage. Auch wenn ich mir die Antwort bereits denken konnte.
„Ist die Raumzeitpeilung abgeschlossen?“
Piep. Piep.
„Also läuft sie gerade?“, fragte ich hoffnungsvoll.
Piep. Piep.
Mist. Das hatte ich befürchtet, wo sie doch nicht einmal normal mit mir kommunizieren konnte. Doch ohne die Bestimmung meines genauen Aufenthaltsorts in Raum und Zeit war eine Kontaktaufnahme mit der Basis und damit meine Weiterreise unmöglich.
„Gibt es irgendwelche Schäden an der Elektronik?“
Zweimaliges Piepsen.
Immerhin ein kleiner Lichtblick.
„Hat der Akku nicht genug Strom?“
Piep.
Aha, die Lage war also so wie ich es befürchtet hatte. Der Akku war schlicht nicht für zwei Zeitsprünge hintereinander, mit denen jeweils eine vollständige Entladung einherging, konstruiert.
Blieb nur noch herauszufinden, wieso dieses Gepiepse nötig war.
„Ist mein Ohrlautsprecher defekt?“
Piep. Piep.
„Reicht der Strom dafür etwa nicht?“, versuchte ich es ungläubig.
Piep.
Scheiße. Ich hätte nicht gedacht, dass es so schlecht stand.
„Wird sich das noch bessern? Also lädt der Akku sich noch weiter auf?“
Erst kam keine Antwort, dann ein sehr leises Piepen. Das war wohl ihre Variante von „vielleicht“.
Nach dem ersten Lebenszeichen des TTEK hatte ich wieder etwas Hoffnung geschöpft.
„Eventuell würde sich ja doch noch alles zum Guten wenden?“, hatte ich gedacht. Falsch gedacht.
Ernüchtert lehnte ich mich zurück.
Dass das keine gute Idee war, merkte ich zu spät. Es rumpelte und als ich mich erschrocken umdrehte, traf eine herabfallende Kiste hart mein Gesicht.

Irgendetwas tat höllisch weh. Ob es meine Nase, die Augen, der Mund oder alles zugleich war, konnte ich nicht klar unterscheiden.
Mühsam richtete ich mich aus der Bewusstlosigkeit auf und stütze mich auf die Ellenbogen.
Ich lag auf der Ladefläche des dahinschaukelnden Wagens. Neben mir saß Thalis auf einer Kiste und lächelte spöttisch.
„Kann man dich nicht mal eine Minute alleine lassen?“
Es war mir schon etwas peinlich in diese dumme Lage geraten zu sein. Ich hätte besser auf die verdammten Kisten aufpassen sollen.
Aber kam es darauf jetzt noch an, wo eine Rückkehr ausgeschlossen schien? Wäre es nicht vielleicht besser gewesen, in der Kiste hätten sich anstatt Kräutern und Tinkturen zentnerschwere Bleibarren befunden?
Thalis hatte zwar unmöglich erraten können, welche Gedanken mir durch den Kopf gingen, aber er bemerkte meine traurige Mine.
„Das wird schon wieder, wir sind schließlich Ärzte. Es ist übrigens nichts gebrochen.“
Das hätte mir noch gefehlt. Ohne Strom für Elisas Nanobots wäre ich neben wochenlangen Schmerzen auch noch mit einer schiefen Nase bestraft worden. Wobei das letztendlich auch egal gewesen wäre. Es gab ja niemanden mehr, für den ich hätte gut aussehen müssen.
„Wo sind wir gerade?“
„Die Stadt haben wir eben hinter uns gelassen. Jetzt sind es noch etwa 30 Meilen bis zur Via Appia. Von dort sind es nur noch 120 weitere Meilen bis nach Rom.“
Ich bedankte mich bei ihm für die Auskunft, die ich gar nicht so ausführlich verlangt hatte. Das Wörtchen „nur“ kam mir allerdings etwas deplatziert vor. Immerhin hatte Alexios die zu erwartende Reisedauer auf mehrere Tage taxiert.
Ich ignorierte den stechenden Schmerz in meinem Gesicht und ließ mich wieder zurücksinken. Dabei merkte ich, dass sich irgendetwas Weiches unter meinem Kopf befand. Es war eine Wolldecke.
„Die habe ich dir unter den Kopf geschoben, damit du nicht so hart liegst.“
Ich dankte ihm erneut.
Thalis schien wirklich ein netter Kerl zu sein. Alexios eigentlich auch. Nur Gregor fand ich etwas… missmutig?
Während Thalis von oben auf mich herabblickte, nutzte ich die Gelegenheit, ihn etwas genauer zu mustern.
Dass er dunkle Augen hatte, war mir bereits am Vorabend aufgefallen. Die genaue Farbe hatte ich in der Dämmerung aber nicht mehr ausmachen können. Jetzt sah ich, dass es ein sehr dunkles Braun war.
„Was schaust du mich so an?“, fagte er.
Ups, da hatte ich wohl etwas zu genau hingesehen. Doch ich beschloss, mir eine schlagfertige Antwort zu überlegen. Dass das einen Moment Zeit in Anspruch nahm, war nicht weiter schlimm, da ich die Ausrede hatte, erst übersetzen zu müssen.
„Ich dachte, da wäre etwas.“
Offensichtlich war mir nichts eingefallen, denn dieser Satz war echt oberdämlich. Thalis runzelte die Stirn und ich schaute weg. Hoffentlich verbuchte er es als sprachliches Problem.
Beim nächsten Mal würde ich mir das mit dem vermeintlich schlagfertigen schenken. Vor allem, wo eigentlich nichts dabei war, Jemanden anzuschauen.
Ich versuchte es mit einem neuen Konversationsansatz.
„Wenn ich ehrlich bin, habe ich ziemlichen Hunger. Machen wir mittags eine Rast?“
„Nein, wir fahren durch bis abends. Entlang der Via Appia gibt es zahlreiche Unterkünfte. Da werden wir dann die Nacht verbringen. Aber für mittags haben wir Proviant dabei. Möchtest du etwas?“
Ich nickte dankbar und setzte mich auf, vermied es aber tunlichst mit dem Rücken die Kisten zu berühren.
Thalis lachte, als er mich so sah.
„Du kannst dich ruhig anlehnen, ich habe die oberen Kisten festgebunden.“
Erleichtert lehnte ich mich zurück und nahm ein Stück Brot, sowie ein Stück Schinken entgegen. Auch Thalis hatte sich etwas abgeschnitten.
So saßen wir auf der Ladefläche, aßen und plauderten, während der Wagen über die Landstraße holperte. Fast idyllisch.
Aber eben nur fast.
Thalis war nicht nur ein netter, sondern, einmal aufgetaut, ein sehr redseliger Bursche. Nur unterbrochen von gelegentlich dazwischengeschobenen Stücken Brot mit Schinken, hatte er mir sein Leben in Patrae, ihrer Heimatstadt, geschildert.
Früh war er bei seinem Vater in die Lehre gegangen, der wiederrum die Medizinertradition seines Vaters fortsetzte. Leider nicht so erfolgreich wie dieser. So kam es, dass die Familie mehr schlecht als recht lebte.
Alexios hatte dieselbe Laufbahn ergriffen. Gregor jedoch, enttäuscht von den Misserfolgen des trunksüchtigen Vaters, ergriff den Beruf des Chirurgen, der eigenständig neben dem des Arztes zu existieren schien.
Nach dem frühen Tod des Vaters nahm ihr Onkel Periklis die Brüder Alexios und Thalis unter seine Fittiche. Er war ein deutlich begabterer Arzt als ihr Vater und brachte den Beiden all das bei, was ihr alter Herr versäumt hatte.
Sie würden hervorragende Ärzte werden, ganz nach dem Großvater, hatte er zu sagen gepflegt.
Als ihr Onkel später nach Rom auswanderte, übernahmen sie seine Praxis in Patrae. Doch sie hatten kein Glück damit. Die Leute erinnerten sich noch zu gut an ihren unnützen Vater und nach dem Motto „der Apfel fällt nicht weit vom Stamm“ mied man sie.
Als sie gut zwei Jahre später Nachricht von Periklis Tod erhielten, waren sie zwar betrübt, sahen aber auch ihre Chance für einen Neuanfang. Der Onkel hatte eine Frau, aber keine Kinder. Thalis und Alexios waren demnach die einzigen Familienmitglieder, welche die Praxis in Rom fortführen könnten.
Gregor, der ihr Schicksal teilte, schloss sich ihnen an.
So hatten sie ihre Habseligkeiten gepackt, eine Passage auf dem nächsten Schiff gebucht und saßen nun hier auf dem Wagen.
Thalis wollte noch zu einer weiteren Erzählung ansetzten, doch Gregor hatte ihn, etwas unwirsch wie mir schien, zu sich nach vorne gerufen.
Was sie dort, zwar leise aber doch nachdrücklich, miteinander besprachen wusste ich nicht, denn sie taten es auf Griechisch. Es kam mir aber so vor, als wäre es Gregor nicht recht, dass Thalis mir ihre Familiengeschichte erörterte.
Was dieser Gregor bloß hatte? Vielleicht war er einfach ein Eigenbrötler. Mir konnte es egal sein, ich hatte erstere Probleme.
Dennoch hatte es gut getan, derart ungezwungen zu plaudern. So zu tun, als wäre alles in Ordnung und ich nur ein Bewohner dieser Welt wie jeder andere.
Freilich, diese Selbsttäuschung konnte nur von kurzer Dauer sein. Ich seufzte und trat ebenfalls nach vorne, hinter die Sitzbank, auf der auch Thalis wieder platzgenommen hatte. Er sah zu Boden.
Alexios hielt die Zügel ruhig in den Händen. Er hatte sich nicht um den Disput der zwei anderen gekümmert, oder zu mindestens so getan, als interessiere es ihn nicht.
Als er mein Herankommen bemerkte, drehte er sich um.
„Wir sind gleich da. Siehst du das große Haus dort drüben, da können wir für die Nacht unterkommen.“
Ich betrachtete das Gebäude, das keine 100 Meter von uns entfernt am Straßenrand lag. Doch mein Blick wurde abgelenkt, auf die Straße selbst.
Ich hatte gar nicht gemerkt, dass wir bereits in die Via Appia eingebogen waren. Sozusagen von der Landstraße auf die antike Autobahn. Der Weg war hier breiter, besser befestigt und noch voller. Weniger Fußgänger, dafür umso mehr Wagen.
Es gab einen kurzen Ruck. Wir waren vor der dreistöckigen Herberge zum Stehen gekommen.
Gregor sprang als erster herab.
„Mann habe ich einen Hunger.“
Er steuerte auf den Eingang zu, doch Alexios hielt ihn zurück.
„Erst bringst du mal den Wagen in den Hof und passt auf, dass er sicher verstaut wird. Und dass die Pferde zu essen und zu trinken bekommen.“
„Ich bin doch nicht dein Sklave, Bruder. Phillip kann doch gehen, wozu haben wir ihn denn!“
Da ich nicht schon wieder Auslöser eines Streits sein wolle, bot ich an, mitzukommen – auch wenn ich nicht die geringste Lust hatte diesem Grobian, der mich anscheinend eher als Sklaven betrachtete, zu helfen.
Alexios begrüßte das, Gregor brummte irgendetwas Unverständliches.
Wir machten uns also auf den Weg. Während Gregor die Zügel nahm und die Pferde mitsamt dem Wagen Richtung Hinterhof führte, ging ich nebenher. Dort angekommen erwarteten uns ein Gebäude, augenscheinlich ein Stall, sowie eine Art Parkplatz für Wagen, der bereits ziemlich voll war.
„Dort hinten ist noch ein Stellplatz frei“, bedeutete ich Gregor.
„Das sehe ich selbst.“
Ob er immer so unausstehlich war? Vielleicht wollte mir Thalis gerade etwas über ihn erzählen, bevor er uns unterbrochen hatte. Ich beschloss bei Gelegenheit zu fragen.
Als wir uns dem Stellplatz näherten, bemerkte ich einige Soldaten, die über die Anlage patrouillierten. Sie sollten sicher dafür sorgen, dass abgestellte Wagen auch am nächsten Morgen noch auf ihre Besitzer warteten.
Gregor ließ die Pferde halten. Er hantierte an dem Geschirr herum, mit dem sie am Wagen eingespannt waren.
„Steh doch nicht da wie eine Ladung alter Fische, nimm die andere Seite!“
Ich bemühte mich, seiner Aufforderung nachzukommen. Schließlich wollte ich seiner schlechten Laune – von der ich noch nicht wusste, ob sie im Allgemeinen, oder nur in Bezug auf mich zu Tage trat – nicht noch Vorschub leisten.
Doch auf der anderen Seite angekommen, stand ich vor dem Gewirr aus Seilen und Stangen genauso ratlos wie der sprichwörtliche Ochs vorm Berg.
Was nun? Elisa hätte mir sofort sagen können, wo ich Hand anlegen musste. Wären die Visorlinsen nicht durch meine eigene Dummheit in einem Sandsturm verlorengegangen, hätte sie es mir sogar bildlich dargestellt.
Doch so blieb mir nichts anderes übrig, als meine Unwissenheit zuzugeben.
Ich räusperte mich.
„Was genau soll ich denn machen?“, versuchte ich es diplomatisch.
„Na die Gäule von dem verdammten Wagen ab!“
Na gut, es half nichts.
„Ich kenne mich mit diesem Geschirr nicht aus, du musst mir schon genauer sagen, was ich tun soll.“
Ich versuchte, so entschuldigend wie möglich zu klingen.
„Willst du mich verarschen? Das ist doch ein Gespann wie jedes andere.“
Er kam rüber und blieb neben mir stehen. Er zögerte einen Moment. Dann noch einen.
„Also das geht so.“ Er packte meine Hand, etwas grob, und legte sie auf eine Stelle des Geschirrs.
„Als erstes da anfassen und den Knoten lösen.“
Er klärte mir tatsächlich die Prozedur. Unhöflich, in etwas ruppigen Worten, aber ausführlich und genau. Als ich einen kleinen Fehler machte, wies er mich geduldig darauf hin.
„Gut. Jetzt kannst du die Pferde in den Stall bringen. Ich kümmere mich um den Wagen.“
Während ich die beiden bräunlichen Pferde Richtung Stall führte, rief mir Gregor noch hinterher, ich solle mich beeilen, denn er habe verdammt noch mal Hunger.
Ich wurde ganz und gar nicht schlau aus dem Burschen. Gerne hätte ich ihm mal meine Meinung gesagt. Doch das verbat sich von selbst, war ich doch auf die Gastfreundschaft der drei Brüder so dringend angewiesen.
Als ich mit den Tieren am Zügel den Stall betrat, eilte mir ein Junge von vielleicht vierzehn Jahren entgegen.
„Ich mache das für dich, Herr.“
Froh, mich aus dem unbekannten Terrain zurückziehen zu können, übergab ich dem Stalljungen die Zügel.
Ob es hier üblich war, ein Trinkgeld zu geben? Selbst wenn, ich hätte keines gehabt.
Aber ich konnte mich wenigstens bei dem armen Jungen bedanken. Die Arbeit im Stall war bestimmt nicht leicht, und dann noch als Kind.
„Nichts zu danken, der Herr. Ist ja mein Job.“
Alexios und Thalis warteten noch an derselben Stelle vor dem Gasthaus, wo wir sie zurückgelassen hatten. Gregor war bereits zu ihnen getreten.
„Nun aber rein mit uns“, bestimmte Alexios. „Ein Krug Met wird jedem guttun!“
Es war wirklich ein schöner Abend, dachte ich bei mir. Die Sonne stand am Horizont und verbreitete einen rötlichen Schimmer, den die Wolken widerspiegelten. Die Bäume rauschten leicht vom Wind, ein Vögelchen piepte.
Nein!, unterbrach ich mich hier, das war kein Vögelchen, sondern Elisa. Sie hatte gepiept und zwar doppelt.
Wie angewurzelt blieb ich stehen.
„Was ist denn nun schon wieder?“, beschwerte sich Gregor.
Eigentlich eine gute Frage. Ich wusste es auch nicht genau. Aber Elisas Mitteilung konnte nur eines bedeuten. Ihr sensibles Umgebungsmikrofon hatte aus dem Inneren der Herberge etwas aufgefangen, das es ratsam erscheinen ließ, sie nicht zu betreten.
„Ähm, wir sollten da jetzt nicht rein gehen.“
Verwundert sahen sie mich an.
„Wieso nicht?“, fragte Alexios.
Wie sollte ich das jetzt erklären? Wenn Elisa mir nur hätte sagen können, was genau dort drinnen im Argen lag.
„Ich habe ein ungutes Gefühl dabei.“, sagte ich.
Gregor lachte spöttisch.
„Ein ungutes Gefühl hat der Herr. Ja das gibt natürlich den Ausschlag. Ich glaube wir müssen umkehren. Zurück nach Griechenland.“
Auch Alexios konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
„Hattest du auch ein ungutes Gefühl, bevor du auf dein gesunkenes Schiff gestiegen bist?“, setzte Gregor nach.
„Ja“, bestätigte ich mit allem möglichen Ernst, „ein sehr schlechtes, um genau zu sein.“
Thalis runzelte die Stirn.
„Wenn das so ist, sollten wir auf dein Gefühl hören. Es ist bestimmt eine Vorahnung. Ich jedenfalls werde nicht dort hinein gehen.“
Alexios schien unschlüssig. Er war wohl etwas überrascht von Thalis Entschluss. Ehrlich gesagt, war ich das auch.
Gregor hingegen wollte von derlei Bedenken nichts wissen und wandte sich zur Tür.
„Meinetwegen könnt ihr hier draußen verhungern. Ich gehe jetzt rein.“
Doch er kam nicht weit. Gerade als er die Tür öffnen wollte, ertönte ein lautes Gepolter und sie wurde von innen aufgestoßen. Gregor prallte zurück.
„Verpisst euch, ihr Schweinehunde!“
Der erboste Wirt erschien und setzte zwei augenscheinlich stark alkoholisierte Streithähne vor die Tür.
„Verzeihung, die Herren. Tretet nur ein!“, wandte er sich an seine neuen Gäste, in der Hoffnung sie durch die kleine Showeinlage nicht vergrault zu haben.
Alexios nickte mir respektvoll zu.
„Deine Ahnungen sind nicht zu unterschätzen.“
So betraten wir gemeinsam die Herberge, gefolgt von einem leicht humpelnden Gregor.
Kapitel 4
Ich schlief ziemlich schlecht. Mehrmals schlug ich die Augen auf, geweckt von beunruhigenden Träumen, an die ich mich nicht erinnern konnte.
Das kam nicht unerwartet. Meistens, wenn ich zu viel Alkohol getrunken hatte, schlief ich schlecht. Und genau das war gestern – schon zum zweiten Mal auf dieser Reise – passiert.
Der Wirt hatte schnell gemerkt, dass wir nicht nur auf ein Feierabendbier aus waren.
Als Übernachtungsgäste servierte er uns allen einen Krug, aufs Haus. Wohlweislich mit dem Hintergedanken, dass einer keiner war und dem ersten noch so mache folgen würden. Genau so war es denn auch.
Obwohl ich mir nach dem Gelage auf dem Schiff vorgenommen hatte, mich beim nächsten Mal zurückzuhalten, wurde ich doch überredet.
„Bier ist ja ganz nett. Aber das einzig wahre Getränk bleibt doch der Wein.“, hatte Gregor eingeworfen.
Thalis antwortete mit gerunzelter Stirn. „Mag sein, Gregor, doch haben wir nun einmal mit dem Bier begonnen. Nicht freiwillig zwar, sondern auf Einladung unseres liebenswürdigen Herrn Wirts, aber einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul.
Und so ohne weiteres auf Wein umzusteigen, das geht nicht.“
„Aber Thalis, wieso soll das nicht gehen?“, fragt Gregor unwirsch. „Ich trinke, worauf ich Lust habe. Und jetzt will ich einen Wein. Am besten einen griechischen.“
Alexios beobachtete die kleine Diskussion aufmerksam und mit einem Lächeln auf den Lippen.
„Ich denke liebe Brüder, ihr könnt beide Recht behalten. Wir bestellen einfach eine Runde Met als Zwischengang!“
Natürlich wurde auch für mich mitbestellt. Da ich dieses mir fremde Getränk gerne probieren wollte, hatte ich auch nichts einzuwenden. Ich wusste nicht viel darüber. Nur dass es sehr beliebt war im römischen Reich und irgendwie aus Honig hergestellt wurde.
Kaum serviert, nahmen die drei Brüder schon einen kräftigen Schluck. Ich nippte erst mal vorsichtig. Es schmeckte gut! Etwas süß vielleicht.
„Ich habe da neulich einen Witz gehört, den ich euch nicht vorenthalten möchte.“, begann Thalis.
„Also. Geht ein Athener Student zum Arzt.
‚Herr Doktor, wenn ich morgens aufwache, ist mir immer so schwindlig. Nach einer halben Stunde ist dann alles wieder in Ordnung.‘
Der Arzt antwortet: ‚Dann warten Sie doch einfach eine halbe Stunde, bevor Sie aufwachen!‘“
Alle lachten. Ich mehr aus Höflichkeit, denn so witzig fand ich es nicht.
„Ich dachte eure Studenten seien so schlau?“, kommentierte ich.
„Weißt du Phillip, das was alle Welt denken soll, ist das eine. Aber die Wirklichkeit sieht etwas anders aus.“
Aha, hätte ich mir denken können.
Gerade fiel mir auch ein römischer Witz ein. Leider würde der erst in einigen Jahrhunderten Sinn ergeben.
Im Geschichtsunterricht fragt der Lehrer die Klasse: Was hatten die alten Römer uns voraus?
Ein Schüler antwortet: Sie brauchten kein Latein lernen!
Inzwischen hatte ich den richtigen Zeitpunkt verpasst, „Nein“ zu weiteren Getränken zu sagen. Der nächste randvolle Becher, diesmal mit Wein, stand bereits vor mir.
Seufzend drehte ich mich wieder auf die andere Seite. Das Bett war weder bequem, noch sonderlich sauber. Doch es war immerhin ein Fortschritt, im Vergleich zu den Bodenlagern, auf die ich in Ägypten so häufig angewiesen war.
Ich starrte in die Dunkelheit des Schlafsaals hinein. Es war gar nicht so einfach, mehr als vage Umrisse zu erkennen, denn die Beleuchtung war miserabel. Lediglich eine kleine Fackel an der Treppe – wir befanden uns im ersten Stock – spendet etwas Licht.
Mein Blick schweifte über die Schemen der ruhenden Körper. An die fünfzehn Schlafplätze mussten es wohl sein, davon acht zurzeit belegt.
Wer lag da eigentlich links neben mir? Nachdem ich gestern wie betäubt auf das nächstbeste Bett gefallen war, hatte ich von der Platzverteilung keine Notiz genommen.
Ich schob mich etwas auf dem Lager vor, um das Gesicht besser erkennen zu können.
Es war Thalis.
Doch etwas war merkwürdig. Seine Mundwinkel schienen nach oben gezogen zu sein, als ob er lächelte. Ich rückte noch ein Stück näher heran, für einen klareren Blick.
Ja, es war eindeutig. Er lächelte im Schlaf.
Urplötzlich riss Thalis Augen und Mund weit auf.
„Ha!“
Erschrocken fuhr ich zurück. Beinahe wäre ich auf der anderen Seite heruntergefallen.
So ein Idiot!
Thalis hingegen fand das ganze sehr amüsant und konnte sich vor Lachen gar nicht mehr einkriegen. Ich hoffte nur, dass er nicht noch die anderen damit weckte.
„Du hättest dich mal sehen müssen, Phillip! Dein Gesicht – als wäre ich gerade von den Toten auferstanden“, flüsterte er.
„Ich fand das nicht lustig. Du hast mich ordentlich erschreckt.“
„Klar! Das war ja auch der Sinn dahinter.“
Mit einem verärgerten und zugleich müden Brummen drehte ich mich auf die ihm abgewandte Seite. Was hatte er sich nur dabei gedacht?
Und was wohl die eigentliche Frage sein sollte, wieso – oder über wen und was – ärgerte ich mich überhaupt?
Derart aufgewühlt bemerkte ich, wie sich die üblichen sorgenvollen Gedankengänge wieder in meinen Gehirnwindungen einnisteten. Die Fragen über meine Zukunft, die unmittelbare, und jene in die ich zurückwollte. Und die Vergangenheit gab es ja auch noch…
Doch wie immer bei solchen Fragen drehten sich die Gedanken nur im Kreis, und eine Antwort gab es erst recht nicht. Wenn ich morgen also nicht völlig erschöpft aufwachen wollte, musste ich wenigstens versuchen etwas zu schlafen.

Morgenstund‘ hat Gold im Mund. So sagte man doch?
Bei mir war es wohl eher der Mundgeruch, den ich zwar nicht selbst wahrnahm, dessen Vorhandensein ich aber als gesichert annahm. Schließlich hatte ich mir seit geraumer Zeit nicht mehr die Zähne geputzt.
Immer noch müde setzte ich mich im Bett auf. Schon komisch, auf welche Gedanken ich da kam. Dabei waren Ästhetik-Fragen zurzeit mein geringstes Problem.
Überrascht fiel mir auf, dass ich der letzte Gast im Schlafraum war. Auch die drei Brüder waren schon fort.
Sie werden doch nicht ohne mich weitergefahren sein?
Mein Puls beschleunigte sich und ich wurde etwas wacher. Im Nu war ich auf den Beinen, zog mich an und eilte nach unten.
Doch mein Anflug von Panik war unbegründet. Sie saßen alle drei in der Wirtsstube an einem Fensterplatz und nahmen das Frühstück zu sich.
„Ah, Phillip, du Langschläfer! Da bist du ja.“
Alexios begrüßte mich freundlich. Fast meinte ich so etwas wie Erleichterung wahrzunehmen. Gregor hingegen setzte sein spöttisches Lächeln auf.
„Wir haben gerade darüber diskutiert, wann der beste Zeitpunkt sei, dich zu wecken. Das hat sich ja nun erübrigt.“
Thalis nickte.
„Zum Glück. Die Diskussion hat sich nämlich etwas aufgeheizt, nachdem Gregor den Standpunkt vertrat, lang zu schlafen sei ein Krankheitsbild.“
„Eine Behauptung zu der ich immer noch stehe.“
„Erinnerst du dich noch an Alina? Sie war doch auch…“
Ich hörte nicht mehr zu. Sollten sie sich doch in pseudo-medizinischen Fachsimpeleien ergehen, ich würde in Ruhe frühstücken.
Knapp zwanzig Minuten später saßen wir bereits wieder auf dem Wagen und bewegten uns holpernd Richtung Rom. Die Hufe der Pferde erzeugten dabei ein stetiges Klacken auf den Pflastersteinen, das mir schon nach kurzer Zeit Kopfschmerzen verursachte.
Komisch, gestern war mir das nicht so unangenehm aufgefallen. Vielleicht lag es auch daran, dass ich diesmal vorne auf der Kutschbank platzgenommen hatte.
Thalis hatte darauf bestanden, heute hinten im Wagen zu fahren. Er wolle nicht dafür verantwortlich sein, falls mich in meiner Unachtsamkeit wieder eine Kiste trifft, meinte er halb spaßhaft, halb im Ernst.
Also saß ich neben Alexios und Gregor, der die Zügel übernommen hatte, und betrachtete die Landschaft und entgegenkommende Fahrzeuge.
Fußgänger sah man hier keine. Vermutlich war die nächste Ortschaft noch weit.
Während sich Wälder, Wiese und Feld abwechselten, wurden mir die Lider immer schwerer. Es war so wie befürchtet, ich hatte zu viel Alkohol und zu wenig Schlaf gehabt.
Trotz, oder vielleicht auch wegen des monotonen Geklappers, döste ich irgendwann ein.
Die Sonne stand schon fast im Zenit, als ich wieder erwachte. Irgendein Knacksen hatte mich aus dem traumlosen Schlaf gerissen.
Mein Hals fühlte sich steif an, als ich den Kopf hob. Dabei fiel mir auch auf wo, oder besser worauf, dieser bis eben geruht hatte. Auf Gregors Schulter.
Schnell richtete ich mich gänzlich auf und murmelte eine Entschuldigung. Trotz der kleinen Peinlichkeit fühlte ich mich schon viel besser als am Morgen.
Gregor grinste.
„Ich glaube ich behalte Recht mit meiner These über zu langes Schlafen“, spöttelte er.
Bevor ich mir eine schlagkräftige Erwiderung zurechtlegen konnte, schreckte ich zusammen. Es hatte schon wieder geknackst. Direkt rechts neben mir. Ich riss den Kopf herum.
Doch da war nichts.
Als sich das Knacken zu einer Stimme ausweitete, begriff ich, dass es einen ganz anderen Ursprung hatte.
„Dr. Marten, können Sie mich hören?“
„Elisa!“
Vor lauter Freude hatte ich laut gesprochen. Die anderen sahen mich verwundert an, doch das war mir in diesem Moment egal.
„Sag schon, wie geht es dir?“
Diesmal begnügte ich mich damit, die Worte lediglich zu formen, ohne sie laut auszusprechen. Dann fiel mir ein, dass die Frage nach dem Befinden sinnlos war, wurde sie an einen Computer gestellt.
„Ich meine, wie ist der Status? Du hast offenbar wieder mehr Energie?“
„Die Energie ist nicht das Problem, der Akku ist zu 73% aufgeladen. Aus mir unbekannten Gründen stehen allerdings nur 21 Volt Betriebsspannung zur Verfügung, im Vergleich zum Normalwert von 95 Volt.“
„Aber die Situation hat sich doch gebessert?“
„Ja. Wie Sie hören, reicht die Spannung nun für den Betrieb des Mikrolautsprecher-Implantats in Ihrem Ohr.“
Das war mir schon klar. Wüsste ich es nicht besser, hätte ich das als Sarkasmus gewertet.
„Und sonst?“
„Weiterhin außer Betrieb sind: Das Spektrometer, der Umgebungsscan, das Raumzeit-Peilmodul, das Raumzeit-Funkmodul, das …“
„Schon gut“, unterbrach ich sie, „alles andere funktioniert also noch nicht. Wird sich das mit der Spannung noch weiter bessern?“
„Wenn ich aufgrund der bisherigen Entwicklung eine Hochrechnung anstelle, komme ich zu dem Ergebnis, dass in drei Tagen ein Maximum von circa 50 Volt erreicht wird.“
Die nächste Frage war, mal wieder, die entscheidende.
„Und reichen 50 Volt für die Raumzeitpeilung?“
„Nein. Das Modul benötigt mindestens 70 Volt.“
Damit war es heraus. Das Urteil über mich war gesprochen.
Die anfängliche Ungewissheit auf dem Schiff, die Ängste und Zweifel während der Wagenfahrt und das nächtliche Gedankenkarussell in der Herberge – all das war unter dem Eindruck eines kleinen Hoffnungsschimmers geschehen. Dem Glauben, dass sich eben doch noch alles zum Guten wenden könnte.
Das war nun vorbei. Wenn kein Wunder geschah, und ich war nicht so dumm auch nur im Entferntesten davon auszugehen, dann war ich hier gefangen. Für immer, bis in den Tod und darüber hinaus.
Merkwürdigerweise wurde ich ganz ruhig bei diesen Gedanken, jetzt wo ich die Gewissheit hatte. Ich zitterte nur ein wenig.
Alexios beobachtete mich von der anderen Seite der Kutschbank her scharf.
„Alles in Ordnung mit dir, Phillip? Du wirkst so…“
Im fiel wohl kein Wort zur Beschreibung meines Zustands ein, deshalb ließ er den Satz unvollendet. Mir fiel übrigens auch keins ein.
Dennoch antwortete ich stoisch, dass es mir gut ginge und alles in Ordnung sei.
Während der Wagen weiter über die Pflastersteine klapperte, zog eine ganze Welt an Sinneseindrücken und Erinnerungen aus meinem bisherigen, mir jetzt so fernen, Leben an mir vorüber.
Ein Erinnerungsfragment, ein besonders schönes, trat mir vor die Sinne. Wir befanden uns am Ufer des Genfer Sees und genossen die angenehm warme Frühlingsluft. Es war einer dieser Betriebsausflüge, zu denen auch die Familien der Mitarbeiter herzlich eingeladen waren.
So war es nicht verwunderlich, dass sich zu meiner Linken Lisas Mutter mit meinen Eltern über die Fische im See unterhielt, während ihre Tochter zu meiner Rechten mit einem Kollegen über Photonenverschränkung debattierte.
Ich selbst lag auf einem Handtuch im Gras, den Gesprächen und den Geräuschen des Wassers lauschend. Von weiter oben zog der Geruch von Gebratenem herunter, es wurde gegrillt. Ich hatte vom Steak und den Würstchen bestellt.
So ließ es sich aushalten. Doch die schöne Erinnerung verblasste und anstelle weichen Grases spürte ich nur noch das harte Holz der Kutschbank in meinem Rücken.
Noch eine ganze Weile starrte ich vor mich hin und hing meinen Gedanken nach.
Kapitel 5
„Alle Wege führen nach Rom“, sagt man.
Und obwohl unser Weg ganz sicher nach Rom führte – die Meilensteine an der Straßenseite ließen keine Zweifel an der schrumpfenden Entfernung zur Hauptstadt – kam mir der Weg doch unerträglich lang vor.
Die ganze mehrwöchige Schiffsreise auf dem Nil schien mir schneller vergangen zu sein, als die vier Tage, die wir nun bereits unterwegs waren.
Vielleicht lag es an der Begleitung? Die drei Brüder waren ja ganz nett, aber kein Vergleich zu Manu. Kein Wunder, hatte ich mit ihm doch schon ganz anderes erlebt…
Vielleicht lag es auch nur daran, dass eine solche Fahrt nicht viele Möglichkeiten zur Zerstreuung bot und ich die meiste Zeit mit mir selbst und den grüblerischen Gedanken beschäftigt war.
Nur ab und zu bot sich Gelegenheit zu einer kleinen Abwechslung. So zum Beispiel, wenn ich mit Thalis oder Gregor, denen die Langeweile auch zu schaffen machte, hinten Platz nahm. Dann würfelten wir etwas oder es wurde eine kleine Anekdote aus ihrem bisherigen Leben erzählt.
Gregor behauptete dabei regelmäßig ich würde die Würfel beeinflussen, wenn ich gewann. Und wenn er verlor, dann lag das am Wagen, durch den gerade in dem Moment, als die Würfel auf dem Boden auftrafen, ein Ruck gefahren wäre. Oder auch an mir, weil ich die Würfel mit dem bösen Blick verwunschen hätte.
Trotzdem, das war immer noch besser als nichts zu tun.
Überhaupt würfelten die Römer für ihr Leben gern, so hatte mir Thalis versichert. Sie selber waren da eher zurückhaltend und um Geld spielten sie nie. Sicher um sich von ihrem Vater abzusetzen, der neben der Alkohol- auch die Glücksspiel-Passion gehabt hatte.
Zu meiner Bemerkung, wieso uns denn ständig Fuhrwerke überholten und wir so langsam fuhren, hatte Alexios bloß gemeint, wir müssten die Pferde schonen, da wir uns keinen Ersatz leisten können.
Aber ich hatte weder Grund noch das Recht mich zu beklagen. Ich hätte auch tot sein können oder als Zwangsarbeiter in einer Hafenbaracke die Latrinen säubern müssen. Wobei ich nicht sicher war, welches Los das schlimmere gewesen wäre.
Inzwischen hatte ich dank Elisas Wissensdatenbank auch herausbekommen, dass das 954. Jahr nach Gründung Roms, in dem ich mich befand, nach moderner Zeitrechnung dem Jahr 201 n. Chr. entsprach. Elisa hatte mich auch darüber informiert, dass der regierende Kaiser dieser Zeit Septimius Severus war. Auch wenn mir diese Infos letztlich nicht viel nützten.
Endlich dann, am Abend des vierten Tages nach unserer Abreise aus Puteoli waren wir am Ziel.
Noch ehe die Stadttore in Sicht kamen, zeugte ein anderes Phänomen von ihrer Nähe. Am Wegesrand mehrten sich die Gräber, Familiengruften und Mausoleen. Je näher wir der Stadt kamen, desto prunkvoller wurde Sie.
„Wieso komme ich mir vor wie auf einem Friedhof?“, fragte ich in die Runde.
Alexios, der die Zügel hielt, blickte zu mir herüber.
„Weil es einer ist. Innerhalb der Stadt ist das Einrichten von Begräbnissen verboten, wegen der Hygiene.
Und wer Geld und Einfluss hat, lässt sich natürlich dort bestatten, wo die meisten Leute sehen können, wie reich und mächtig seine Familie ist.“
Das klang logisch. Selbst zu dieser späten Stunde, die Sonne stand schon fast am Horizont, herrschte hier regsamer Betrieb.
Soeben erweiterte sich die Straße und mündete in einem riesigen Platz, auf dem dutzende Fuhrwerke auf etwas zu warten schienen.
„Was ist denn hier los?“
„Es ist gut, dass wir abends angekommen sind. Sonst hätten wir auch hier warten müssen. Tagsüber ist die Innenstadt nämlich für Fuhrwerke gesperrt.“
Sehr merkwürdig. Bei uns gab es auch einige Städte mit solchen Verboten, allerdings galt die Sperrung für den Lastenverkehr dort nachts.
Ruhig schlafen konnten die Bewohner hier wohl kaum. Hoffentlich lag unsere Unterkunft nicht gerade an einer Hauptstraße.
Mit schaudern erinnerte ich mich an einen Kurztrip nach Istanbul. Die Stadt selbst war wunderschön. Doch ich hatte in einem Motel genächtigt, dessen Fenster nicht einmal das Summen einer Fliege verschluckten. Geschweige denn den Lärm der unzähligen LKWs, die nachts durch die Straße donnerten.
„Das kann ja dauern, bis wir da durch kommen“, murrte Gregor.
Er hatte Recht. Jeder Wagen auf dem Parkplatz befand sich im Aufbruch und es bildete sich bereits eine ansehnliche Schlange vor dem Stadttor. Anscheinend war die Sperrzeit gerade zu Ende.
„Wir sind vier Tage unterwegs gewesen. Da werden wir auch noch eins, zwei weitere Stunden durchhalten.“, beruhigte Thalis.
Da musste ich ihm zustimmen. Was mir umso leichter fiel, da hier keine Langeweile aufkam. Ich beobachtete die anderen Fahrzeuge und ihre Ladung, die Leute und das Stadttor.
Ich kannte die Stelle sogar. Ich war bereits einmal hier gewesen. Zweitausend Jahre später natürlich, während einer Städtereise nach Rom. Zusammen mit einem Studienfreund hatte ich zwei Wochen die italienische und ehemalige antike Metropole besichtigt.
Klassiker wie der Vatikan und die Sixtinische Kapelle, die zur aktuellen Zeit freilich noch nicht errichtet waren, hatten wir besucht, ebenso wie einige Sehenswürdigkeiten abseits der üblichen Touristenrouten.
Das Tor vor dem wir uns nun in die Schlage einreihten, die Porta Appia, hatte ich aber etwas anders in Erinnerung. Größer und besser befestigt, aber mit nur einem Torbogen, durch den Fußgänger und Fahrzeuge passieren konnten, anstatt zwei.
Offenbar stand sein Aus- und Umbau irgendwann zwischen dem Jetzt und meiner Heimatzeit.
„Wart ihr eigentlich schon Mal in Rom?“, fragte ich die anderen.
„Also ich noch nicht.“, meinte Thalis, „Gregor auch nicht. Aber Alexios war schon öfters beim Onkel zu Besuch. Ich wäre auch gerne mitgefahren, aber einer muss ja das Geld verdienen.“
Dabei warf er einen scheinbar vorwurfsvollen Blick Richtung Alexios.
„Ich glaube du kannst dich nicht beklagen, Bruder. Immerhin kam ich oft mit mehr im Säckel heim als ich mitnahm. Unser Onkel konnte sehr spendabel sein.“
„Er hat uns einfach bemitleidet wie wir uns in der Provinz abrackern mussten, Alex.“
Gregor, der hinten Platz genommen hatte, reckte den Kopf nach vorne.
„Ja, ab heute wird sich alles ändern. Wir treten in die Fußstapfen von Onkel Peris und werden erfolgreiche Ärzte!“
Alexios sah das etwas realistischer.
„So schnell wird es nicht gehen, Bruder. Wir werden hart arbeiten müssen um uns zu beweisen. Die Idee in Rom reich zu werden hatte schon mancher vor uns, und ist damit gescheitert.“

Eine halbe Stunde später passierten wir endlich die Torbögen und wurden hineingesogen in ein Wirrwarr von Wagen, Menschen, Häusern und Läden.
Obwohl wir auf einer Hauptstraße unterwegs waren und der Betrieb daran keinen Zweifel ließ, war der Weg kaum sechs Meter breit. Die eigentliche Nutzfläche war noch geringer, da am Straßenrand Läden ihre Auslagen aufgebaut hatten und Krämer ihre Waren feilboten.
Die Häuser aber machten den größten Eindruck auf mich. Dicht an dicht standen Sie am Wegesrand, nur unterbrochen von gelegentlichen Seitenpfaden, die gerade so Platz für einen Wagen boten.
Dabei war es vor allem die Höhe, die mir den Atem raubte. Man musste den Hals recken, um das Ende der Betonmauer zu erspähen. Kaum ein Wohnbau war niedriger als sechs Stockwerke. Häuser die nicht direkt an der Straße lagen, sondern weiter innen im Block, überragten die Vorderen noch.
Es wunderte mich, dass die Römer solche Hochhäuser errichten konnten. Doch die Not machte bekanntlich erfinderisch und Platz schien in dieser Stadt wirklich Mangelware zu sein. Kein Wunder also, dass der Ausweg in höheren Gebäuden gesucht wurde. Ganz so wie es auch in modernen Städten der Fall war.
Thalis und Gregor staunten ebenfalls nicht schlecht.
„So was gab es bei uns daheim nicht.“
Alexios nickte gewichtig.
„Ja Freunde, das ist Rom. Ihr werdet es noch hassen lernen.“
Grimmig lächelnd, als wäre er im Besitz einer tieferen Wahrheit, oder einfach nur der größeren Erfahrung was die Stadt betraf, dirigierte er unsere müden Pferde die Straße entlang.
„Du könntest uns ruhig etwas erzählen!“, forderte ihn Thalis auf, „oder erfordert das Halten der Zügel bereits deine ganze Konzentration?“
Das war offenbar nicht der Fall, denn Alexios spielte sich nun auf den Fremdenführer hin aus.
„Also, die Gebäude zum Beispiel, die ihr hier seht. Das sind fast alles Mietshäuser. Hier wohnen die Armen, aber auch die Normalbürger.
Die Reichen residieren auf den Hügeln. Wahrscheinlich ist die Luft da oben besser, oder die Aussicht, oder es gibt ihnen einfach das Gefühl über den anderen zu stehen.
Wenn ihr jetzt euren Blick nach vorne richtet.
Die Brücke, über die wir gerade fahren, das ist die… ähm, eine Brücke eben.“
Seine Ansprache gerat ins Stocken. Die kleine Wissenslücke hatte ihn wohl aus dem Konzept gebracht. Ich nutzte die Gelegenheit, um selbst eine Frage zu stellen.
„Was sind das für Gestalten, die sich da unter der Brücke herumtreiben?“
„Das sind Bettler. Die Ärmsten der Armen. Sie schlafen unter den Brücken.“
Und da beschwerten sich die Leute in Deutschland über das soziale Gefälle. Hier gab es ein solches Gefälle noch nicht. Dafür eine Steilklippe.
Nach der Brücke gab Alexios an, dass es nun nicht mehr weit sei und bog rechts ab. Schade eigentlich, denn vor uns kam soeben der Circus Maximus in Sicht, eines der wenigen römischen Bauwerke, die auch bei uns fast jeder mit Namen kannte.
Dort wurden vor allem Wagenrennen abgehalten. Trotz der geringeren Geschwindigkeit lag die Unfall- und Todesquote der Wagenlenker deutlich über dem Formel 1-Durchschnitt.
Doch die Zeit für Vorstellungen über wilde Verfolgungsjagden war knapp. Vor uns kam bereits das nächste Monument in Sicht.
Im Gegensatz zum Circus Maximus, der in den nächsten 2000 Jahren zu reinem Staub zerfallen würde, war dieses Gebäude eines der besterhaltenen. Es handelte sich um das Kolosseum, in dem über siebzigtausend Zuschauer Platz fanden.
Dieses Meisterwerk römischer Baukunst war zugleich bestes Beispiel für Vergnügungssucht, Dekadenz und Grausamkeit. Über einhunderttausend Menschen sollen im Verlauf des Kaiserreichs hier ihren Tod gefunden haben. In Gladiatorenkämpfen, Kämpfen mit wilden Tieren und Exekutionen.
Auch wenn ich vorhatte, mich in das hiesige Leben zu integrieren – solchen Grausamkeiten beizuwohnen konnte ich mir nicht vorstellen, erst recht nicht zum Amüsement oder als Freizeitbeschäftigung.
Da waren mir unsere Fußballspiele deutlich sympathischer, trotz gelegentlichem Ärger mit Hooligans.
Wir passierten das Kolosseum und bogen erneut rechts ab. Als wir nach einer Weile wiederrum Abbogen, diesmal nach links, hatte ich bereits die Orientierung verloren.
Auch wenn ich nicht glaubte darauf zurückgreifen zu müssen, Elisa hatte sich den Weg ohne Zweifel gemerkt und könnte mich wieder hinaus führen.
Trotzdem ich die Visorlinsen verschludert hatte und sie somit nichts mehr „sehen“ konnte, besaß sie noch andere Möglichkeiten zur Wahrnehmung. Seitdem sich die Spannung wieder erholt hatte, waren auch ihre Umgebungssensoren wieder in Betrieb.
Die Straße, in die wir zuletzt eingebogen waren, stellte sich als enge, stark ansteigende Gasse heraus. Ich hoffte, dass uns kein Fahrzeug entgegenkommen würde, denn wir füllten die geringe Breite bereits völlig aus.
In der Gasse war es deutlich dunkler als zuvor. Nicht etwa, weil sich der Himmel bewölkt hätte. Nein es herrschte noch immer strahlender Sonnenschein. Doch so sehr ich meinen Kopf auch in den Nacken legte, von der Sonne schien kaum etwas durch das Gewirr von Balkonen hindurch.
Jede Mietswohnung schien einen zu besitzen. Dabei standen die Häuser so dicht, dass man vom Balkon aus die Hand ausstrecken und sie dem Nachbar gegenüber reichen konnte.
Die Pferde schnauften und hatten alle Mühe, den Karren den Hang hinauf zu befördern. Doch so abrupt der Anstieg begonnen hatte, so schnell ebnete sich der Weg wieder. Wir erreichten eine kleine Gabelung. Der Weg führte nach links bergab und nach rechts höher hinauf, während geradeaus Häuser standen.
„Das ist es. Wir sind da!“
Der Wagen kam auf der Kreuzung zum Stehen, als Alexios die Zügel anzog. Alle schauten sich gespannt um.
Die Häuserreihe vor uns befand sich direkt unterhalb eines Steilhangs, der wegen seines Gefälles nicht bebaut war.
Direkt vor unserer Nase lag ein vierstöckiges, ziemlich neu wirkendes Haus. Im Großen und Ganzen machte es den gleichen Eindruck wie eines der üblichen Mietshäuser.
Mit dem Unterschied, dass es nicht ganz so hoch war und zwei kleine Säulen den Eingang schmückten. Auch die anderen Häuser in der Reihe schlossen sich diesem Trend an.
Gleich neben dem Eingang bemerkte ich zwei gemeißelte Schilder.
Auf dem oberen stand: „Kaufmann Gaius Silius Frugi“
Und auf dem unteren hieß es: „Periklis aus Patrae, Arzt. Heilbehandlungen, -Bäder und -Kuren.“
Es gab kein Zweifel, dies war das Haus, in dem der Onkel meiner Reisegefährten gewohnt und praktiziert hatte.
„Es macht einen anständigen Eindruck.“, meinte Thalis.
„Für Rom jedenfalls. Zu Hause hatten wir es schöner. Und viel mehr Garten.“
„Sicher, Gregor. Aber versuch du Mal innerhalb der Stadtmauern einen großen Garten anzulegen.“
Unter derlei Smalltalk waren die Brüder abgestiegen und auf den Eingang zugeschritten. Ich folgte ihnen.
Alexios öffnete die Tür. Sie war unverschlossen und gab den Durchgang in ein schmales Treppenhaus frei. Zur Rechten befand sich eine weitere Tür, neben der wieder ein Schild auf den Arzt Periklis hinwies.
„Unser Onkel hat die beiden unteren Etagen gemietet. Hier im Erdgeschoss sind die Behandlungsräume, im ersten Stock die Privatwohnung. Die zwei restlichen Etagen gehören dem Kaufmann Frugi.“
„Ein passender Name für einen Kaufmann“, scherzte Thalis.
Da hatte er Recht, denn Frugi hieß so viel wie Geizhals.
Alexios rüttelte an der Tür.
„Abgeschlossen. Kommt, versuchen wir es oben. Irgendwo müssen sie ja sein.“
Mir war zwar noch nicht klar, wen er mit „sie“ eigentlich meinte, doch das würde ich sicher gleich erfahren.
Im ersten Stock angekommen, klopfte Alexios an die Wohnungstür. Hier war kein Schild angebracht.
Eine Weile lang tat sich gar nichts, dann waren Schritte zu hören und ein kleiner Sichtschlitz wurde geöffnet.
„Alexios!“, ließ sich aus der Wohnung vernehmen. Es war der Klang einer hörbar erfreuten Frauenstimme.
Sogleich wurde der Schlitz wieder geschlossen und man hörte, wie von innen ein Riegel zurückgeschoben wurde. Endlich öffnete sich die Tür und eine Frau mittleren Alters, vielleicht um die vierzig, kam zum Vorschein.
Alexios trat vor und umarmte Sie.
„Helena, mein Beileid.“
„Dank dir, Alex. Es ist nun schon drei Monate her, seitdem mein Mann gestorben ist und ich euch den Brief geschrieben habe.
Ich dachte schon, ihr kämt nicht mehr. Aber dann habe ich mir wieder vor Augen geführt wie lange so eine Seereise doch dauert und dass ihr bestimmt noch eintreffen würdet.
Und jetzt seid ihr hier!“
Der Reihe nach umarmte sie auch Gregor und Thalis.
„Ihr seid ganz schön groß geworden! Wie alt seid ihr jetzt eigentlich?“
Eine typisch fürsorgliche Tante eben. Obwohl sie mich doch ein wenig mehr an meine Oma erinnerte. Oder an Manus Schwiegermutter Naha.
Aber ihr plauderhafter Zug war mir nur Recht. So erfuhr ich nebenbei, dass Gregor 22, Thalis 23 und Alexios 25 Jahre alt waren.
Nach dem lebhaften Begrüßungszeremoniell richtete sich Helenas Aufmerksamkeit schließlich auf mich.
„Wen habt ihr denn da mitgebracht? Einen Sklaven aus der Heimat? Ich hatte doch extra geschrieben, dass das nicht nötig sei.“
„Nein nein, liebe Stieftante, das haben wir auch nicht.
Darf ich vorstellen, das ist Phillip. Wir haben ihn unterwegs aufgelesen. Auf hoher See, um genau zu sein.“
„Hallo.“
Mehr fiel mir dazu nicht ein. Aber sie würde sich sicher nicht scheuen zu fragen, wenn sie genaueres wissen mochte.
„Wirklich!? Das klingt ja hoch spannend. Ihr müsst mir die Geschichte gleich erzählen. Aber kommt doch zunächst herein und setzt euch! Die Reise war sicher anstrengend.“
Alexios wehrte ab.
„Das würden wir liebend gern tun, Helena. Aber unten steht unser Wagen in der Gabelung und blockiert so ziemlich alle Richtungen. Wir müssen ihn erst ausladen und wegfahren.“
Was das hieß, war klar. Kisten schleppen, und zwar treppauf.

Eine halbe Stunde später war die Ladefläche geräumt. Alle Kisten waren entweder in die Wohnung oder in die Praxisräume transportiert worden.
Ausgepackt war freilich noch nichts. Dazu hatte heute keiner mehr Lust.
„Der Wagen muss noch zurückgebracht werden“, meinte Alexios.
Thalis fuhr erschrocken zurück. „Nach Puteoli?!“
„Bist du verrückt?!“ Alexios schüttelte den Kopf. „Natürlich nicht nach Puteoli. Das wäre ja wirklich dumm.“
Thalis musterte die entsetzte Mine Alexios und brach in lautes Gelächter aus. Ich stimmte ein, denn es war offensichtlich, dass Alexios seinem Bruder auf den Leim gegangen war.
„Wenn ihr euch schon so prächtig amüsiert, dann könnt ihr den Karren auch zurückbringen. Das Mietbüro ist gleich hinter der Porta Capena, da wo vorhin die ganzen Wagen gewartet haben.“
Thalis zuckte mit den Schultern und wollte sich gerade den Pferden zuwenden, als er innehielt und die Stirn runzelte.
„Hmm, ich würde es jederzeit machen, Alex. Aber ich kann mich beim besten Willen nicht mehr an den richtigen Weg erinnern.“
Das machte nichts, da konnte ich helfen!
„Kein Problem, Thalis. Ich hab mir alles genau gemerkt.“
Alexios warf mir einen anerkennenden Blick zu, den ich eigentlich gar nicht verdiente.
„Dann wäre ja alles geklärt. Aber beeilt euch bitte, nach Einbruch der Dunkelheit wird es auf den Straßen gefährlich.“
Während er und Gregor ins Treppenhaus traten, schwang ich mich neben Thalis auf die Kutschbank.
„Also dann. Ich glaube, die erste Richtungsentscheidung schaffe ich noch. Hier hinab, nicht wahr?“
Ich nickte bestätigend. Thalis schnalzte mit der Zunge und die Pferde setzten sich in Bewegung.
Doch Elisa hatte einen Einwand.
„Ich rate von dem Passieren dieser Straße im Moment ab. Es kommt ein Fahrzeug entgegen.“
Ich reagierte sofort.
„Stopp, Thalis! Warte noch. Ich glaube, ich habe vor uns einen Wagen gehört. Und in der Gasse passen wir nicht aneinander vorbei.“
Thalis hielt wieder und lauschte. Tatsächlich ließ sich jetzt leises Hufklappern hören, das von Sekunde zu Sekunde anschwoll.
„Stimmt. Du hast Recht, Phillip.“
Kurze Zeit später war der Weg wieder frei und wir rollten den Hügel hinunter.
„Sag mal, Phillip, kommst du auch aus so einer Großstadt wie Rom?“
Ich überlegte kurz. Geboren und aufgewachsen war ich in Lübeck, was mit knapp zweihunderttausend Einwohnern deutlich kleiner als das hiesige Rom war. Immerhin wohnten hier über eine Million Menschen.
„Nein, eher nicht. Bei uns haben wir etwa ein Fünftel so viele Einwohner.“
„Hmm. Ich weiß nicht, ob es die richtige Entscheidung war. Ich meine, hier nach Rom zu ziehen.“
Ich blickte ihn von der Seite her an.
„Wie willst du das beurteilen, Thalis? Du bist doch gerade erst angekommen.“
„Das stimmt schon. Aber hier ist alles irgendwie extremer, als in Patrae. Alles ist… mehr. Mehr Menschen, mehr Dreck, mehr Lärm.“
„Und mehr Geld!“, fügte ich spaßhaft hinzu.
Thalis lachte.
„Ja, hoffentlich. Aber so sicher bin ich mir da nicht.
Hast du die ganzen Armen gesehen und die Bettler am Straßenrand? Die Handwerker, die gute Arbeit leisten und doch kaum über die Runden kommen?
Rom ist vor allem eine teure Stadt, insbesondere bei den Mieten, so viel weiß ich von Alex.
Für den Preis, den mein Onkel im Jahr als Miete zahlte, könnte man auf dem Land eine ganze Villa kaufen, samt Acker.
Und was bekommen wir hier dafür? Ein durchschnittliches Mietshaus, das immerhin nicht direkt in der Kloake steht, will heißen im Tal, das aber nicht einmal unser Eigentum ist.“
Ich nickte nachdenklich. So war es meistens in den Ballungsräumen.
Erst recht, wenn alles in die Großstadt drängte, angezogen von äußerlichem Prunk und glanzvollen Erzählungen. Auf der Suche nach einer antiken Version des American Dream. Ob vom Tellerwäscher oder vom Erntehelfer zum Millionär, das war ganz egal. Und Rom hatte Geld, viel Geld. Nur lag es eben nicht auf der Straße, nur darauf wartend vom Zugereisten aufgelesen zu werden, sondern ruhte still und sicher in den eisenbeschlagenen Truhen der Mächtigen.
Doch an dem Punkt, an dem der arme Tor seinen Irrtum erkannte, war es für die Umkehr zu spät, das Ersparte ausgegeben, die Abhängigkeit von irgendeinem Patron geschaffen. Und jener würde schon zu vermeiden wissen, dass sich an diesem für ihn profitablen Zustand etwas ändert.
Thalis knuffte mich in die Seite und setzte ein neckisches Grinsen auf.
„Hast du dazu keine Meinung, oder bist du einfach ein Konversationsmuffel?“
Ah, Mist. Vor lauter tiefschürfenden Überlegungen, hatte ich ganz vergessen Thalis zu antworten.
Aber von meinen eher düsteren Gedankengängen wollte ich ihm nicht erzählen. Lieber etwas aufmunterndes.
„Sicher, ich habe das alles gesehen. Auch schon in anderen Städten. Und Rom ist dabei nicht einmal das schlimmste Pflaster.
Aber du und deine Brüder, ihr habt einen guten Beruf. Gerade in einer Stadt wie dieser, die nicht nur die Armen, sondern auch die Reichen und Mächtigen anzieht, die es sich leisten können einen Arzt zu konsultieren.
Dein Onkel hat es schließlich auch geschafft und ihr seid sogar zu dritt. Ihr könntet also drei Mal so viel verdienen.“
„Hmm, auch wieder wahr. Wir haben so wie so keine andere Wahl, als es auf uns zukommen zu lassen.“
Ein wahres Wort.
„Die nächste bitte rechts abbiegen.“
Das erste Navigationsgerät in der Antike hatte gesprochen. Ich gab die Anweisung gleich weiter.
Nach einer Weile kam das Kolosseum wieder in Sicht und wir mussten uns links halten.
„Sag Mal, Phillip, was hast du jetzt eigentlich vor?“, fragte Thalis zögerlich. „Du sagtest ja bereits, dass du hier niemanden kennst. Und so ganz auf sich allein gestellt, in dieser Stadt, wollte ich nicht sein.“
Das war eine gute Frage, die mich eiskalt erwischte. Selbstverständlich war sie mir schon das eine oder andere Mal in den Sinn gekommen. Doch ich wollte nicht über die Zukunft nachdenken. Einfach weil ich für mich keine Zukunft sah.
Nun aber gab es kein Entrinnen mehr.
Also, was wollte ich tun? Auf mich allein gestellt hätte ich kaum eine Chance. Außer vielleicht als Dieb. Ja, mit Elisa als Komplizin, die praktisch durch Wände sehen konnte und immer wüsste, ob der Hausherr weg und der Goldschmuck da war.
Ich lachte im Stillen bei dem Gedanken. Nein, es musste einen anderen Weg geben.
Thalis blickte mich immer noch erwartungsvoll an und vernachlässigte dafür den Straßenverkehr mehr als gut sein konnte.
Das naheliegende wäre natürlich, bei den drei Brüdern zu bleiben. Vielleicht könnten Sie meine Hilfe auch weiterhin gebrauchen?
„Am liebsten würde ich bei euch bleiben, Thalis. Könntet ihr denn noch jemanden gebrauchen? Ich verlange auch kein Geld, mir reicht schon ein Dach über dem Kopf und eine Mahlzeit.“
Thalis zeigte sein breites Grinsen.
„‘Ein Dach über dem Kopf und eine Mahlzeit‘, du klingst ja schon fast wie einer unter der Brücke.“
Ich lächelte nur aus Höflichkeit. Unter anderen Umständen wäre das zwar lustig gewesen, aber da hier praktisch mein Überleben auf dem Spiel stand, war mir nicht nach Lachen zu mute.
Thalis war zwar ein Spaßvogel, aber andererseits auch einfühlsamer Menschenkenner.
„Mach dir mal keine Sorgen, Phillip. Du kannst bei uns bleiben, da bin ich mir sicher. Es gibt immer etwas zu tun. Gerade jetzt wo wir einen neuen Start wagen. Schließlich wurden nach dem Tod unseres Onkels alle Angestellten entlassen.“
Er sprach das mit ernster Stimme, so dass ich keinen Grund hatte, an seinen Worten zu zweifeln.
Ein Gefühl der Erleichterung überkam mich. Wenn das klappte, wäre ich doch nicht so allein wie ich es mir in schlimmer Voraussicht ausgemalt hatte.
Gerade stießen wir auf die Kreuzung, wo der Weg nach rechts hin auf den Circus Maximus zulief.
„Hier müssen wir wieder links.“
„Es ist doch eigentlich unsinnig“, begann Thalis in bester Laune, „dass du die Richtung angibst und ich fahre. Es ist ja nicht so, als müsstest du auf einer Karte nachsehen oder einen Winkel berechnen.
Also kannst du auch gleich selbst lenken.“
Damit übergab er mir Zügel und Peitsche.
Noch ein wenig perplex nahm ich sie entgegen, ohne genau zu wissen, was damit eigentlich anzustellen sei. Doch es würde so wie so nicht mehr viel zu lenken geben, da das Stadttor bereits in Sicht kam.
„Was hast du eigentlich genau gemacht, Phillip?“
„Wies meinst du das?“
„Na, welchen Beruf du ausgeübt hast?“
Während all der langen Stunden auf dem schaukelnden Wagen hatte ich genügend Zeit gehabt, mir eine plausible Hintergrundgeschichte auszudenken. Nur für den Fall, dass Jemand fragen würde. So wie jetzt.
Kurz nach dem Aufwachen an Bord des Schiffs wurde ich bereits mit der Frage, was ich denn in Rom gewollt habe, konfrontiert. Da ich mich spontan für die Version „Handel treiben“ entschied, blieb mir beim Festlegen meines Berufs nicht viel Spielraum.
Händler von Irgendetwas. Nach einiger Überlegung wählte ich den Gewürzhändler. Das passte mit meinem weit entfernten Heimatland zusammen, von dem ich übrigens noch keinen Schimmer hatte, wo es sich eigentlich befinden sollte.
„Ich war Gewürzhändler.“
„Gewürze. Aha. Was denn für welche?“
Puh, der wollte es aber genau wissen. Ich hatte sicher nichts gegen Smalltalk, aber mussten es lauter Fragen sein?
Und überhaupt, was gab es denn für Gewürze, die ich nach Rom hätte verschiffen können?
Ich reichte die Frage an Elisa weiter. Sollte sie doch ihre Datenbanken nach Gewürzen durchforsten.
„Es bieten sich zum Beispiel Pfeffer, Zimt, Kardamom und Safran an.“
Getreu wiederholte ich die Liste laut.
„Auch Heilkräuter?“
„Nein, wirklich nur Gewürze.“
Damit schien seine Neugier fürs Erste befriedigt. Es wäre auch keine Zeit für weitere Fragen gewesen, denn wir errichten gerade den Abstellplatz.
Kapitel 6
Als Thalis und ich die Treppe hinaufstiegen, drang bereits lautes Gelächter in den Flur.
Quelle der Erheiterung war eine kleine Zusammenkunft, bestehend aus den drei Brüdern, ihrer Stieftante und einem mir bisher unbekannten Mann.
Unser Eintreten in die Wohnung wurde bemerkt und die Plauderei verstummte.
„Ah, da seid ihr ja!“, rief uns Alexios erleichtert entgegen. „Und es wurde auch Zeit. Es ist schon fast dunkel draußen.“
„Die haben sich sicher verirrt“, spottete Gregor, „oder vielleicht einen Abstecher in den Puff gemacht?“ Dabei vollführte er eindeutige Bewegungen mit der Hüfte.
„Du meinst dort wo sie dich nicht mehr reinlassen, weil sie denken du wärst noch ein Kind, wenn sie deinen kleinen Schwanz sehen?“, entgegnete Thalis schlagfertig.
Allgemeines Gelächter ging um. Ich fand es etwas merkwürdig so in Gegenwart einer Dame zu reden, aber wie sagt man so schön – andere Zeiten andere Sitten. Oder waren es andere Länder? In meinem Fall traf beides zu.
Der mir noch unbekannte Mann kam nun auf uns zu. Er war eher kleinwüchsig, aber nicht schmächtig. Seine schwarzen Haare waren kurz und zeigten am Hinterkopf bereits eine Glatze. Er stelle sich vor.
„Gaius Silius Frugi, Kaufmann. Ich wohne eins höher. Freut mich.“
Ich schüttelte seine ausgestreckte Hand und stellte mich ebenfalls vor.
„Phillip, Gewürzhändler.“
„Gewürzhändler?“, wiederholte der Kaufmann sichtlich interessiert und schüttelte dabei Thalis die Hand. „Wie spannend! Wir sollten uns morgen Mal unterhalten. Vielleicht können wir ein Geschäft machen.“
Dem war gleich zuvorzukommen. Ich schüttelte bedauernd den Kopf.
„Tut mir leid Kaufmann Frugi, aber ich bin nicht mehr im Geschäft. Mein Schiff ist samt Ware gesunken. Nur ich bin gerade so mit dem Leben davongekommen.“
„Wir haben ihn aus dem Wasser gezogen“, kommentierte Gregor.
„Nein wirklich!?“, fragte Helena. „Ihr müsst mir die ganze Geschichte erzählen! Und überhaupt alles von eurer Reise. Seit Monaten warte ich nun schon auf euch und Niemanden zum Reden außer Frugi, der alle Tage Mal auf ein Schluck Wein herunterkommt.“
Sie tat einen Seitenblick auf den Kaufmann, der vieles oder auch nichts bedeuten konnte. Ob Frugi bei seinen Besuchen der Witwe wohl mehr Trost gespendet hatte, als ein Glas Wein vermag?
„Aber jetzt nehmt erst Mal Platz. Tut einen Bissen und dann erzählt!“, lud uns Helena ein.
Ich nutzte die Gelegenheit mich im Zimmer umzusehen. Von den Abmessungen her zu schließen war dies der größte Raum der Wohnung. Die Längsseite wies zwei Fenster auf, die bei Tage sicher reichlich Licht spendeten. Jetzt wo es dunkel war fanden sich die Läden geschlossen. Mehrere Öllampen erhellten den Raum.
Das Zimmer selbst war eher sparsam eingerichtet. Die Wand gegenüber den Fenstern war mit einer großen Landkarte verziert. Patrae, der Heimatort von Periklis und seinen Neffen, war besonders hervorgehoben. An der Schmalseite, neben der Eingangstür, standen einige Regale und Truhen.
Den größten Platz aber nahm der im antiken Rom und Griechenland typische Essbereich ein. Drei Liegen waren um einen Tisch gruppiert, auf dem die Abendmahlzeit serviert wurde. Man aß im Liegen, auf den linken Ellenbogen gestützt. Nicht gerade bequem, wenn man mich fragte.
Der Aufforderung der Gastgeberin nachkommend nahmen wir Platz. Es war Zeit. Bereits auf dem Rückweg zum Haus hatte mein Magen geknurrt. Auch Frugi war als Freund der Familie offensichtlich eingeladen.
Ich schätzte, dass die Liegen je drei Personen fassen konnten. Es konnten also bis zu neun Leute am Tisch speisen. Zum Glück waren wir nur zu sechst, sodass es nicht ganz so eng wurde. Kaufmann Frugi, der neben mir Platz nahm in allen Ehren, aber kuscheln wollte ich nicht mit ihm.
Das führte mich zu der Überlegung, mit welchem der drei Brüder ich am liebsten Kuscheln würde. Ob es der schnuckelige Thalis war, mit seinem wuscheligen Haar und den tiefen, dunklen Augen? Oder doch lieber der unwirsche, aber hübsche Gregor, mit dem schelmischen Grinsen? Oder am Ende gar Alexios, der Anführer, der durch seine sexy Gelassenheit bestach?
Noch ehe ich mich festlegen konnte wurde mein Gedankengang unterbrochen. Die Hausherrin und ein mir noch unbekanntes Mädchen kamen mit Schüsseln herein. Nachdem alles aufgetragen war, gesellte Helena sich zu uns. Das Mädchen, wohl eine Bedienstete, zog sich in die Küche zurück.
Die Gastgeberin hatte ein üppiges Mahl zubereitet. Als Vorspeise gab es Salat mit karamellisierten Champignons. Es folgte Schweinebraten als Hauptspeise und zum Abschluss eine Art Kuchen. Gegessen wurde mit Löffel und Fingern.
Frugi seufzte erleichtert als der erste Gang gebracht wurde. „Endlich Mal wieder etwas für den Gaumen! Ich dachte schon, Helena, du würdest für den Rest deines Lebens nur noch Getreidebrei essen.“
Helena schien etwas peinlich berührt von dem Kommentar des Kaufmanns. Ich hielt es für leicht nachvollziehbar, dass sie nach dem Tod ihres Mannes sparsam lebte. Ein Einkommen hatte sie vermutlich nicht. Was sie wohl gemacht hätte, wenn die Brüder nicht nach Rom gekommen wären?
„Frugi, du weist sehr wohl wie hart die letzten ungewissen Monate für mich waren. Und ich bin sehr froh die Neffen meines Mannes hier zu sehen.“, antwortete sie freundlich aber bestimmt.
Alexios nickte. „Wir sind auch sehr froh dich zu sehen. Und dass es dir den Umständen entsprechend gut geht. Aber sag, Helena, wie ist es denn eigentlich passiert… Periklis, dein Mann… unser Onkel?“
Helena schluckte einen Bissen herunter und starrte auf das geschlossene Fenster.
„Ähm, ich meine… ich wollte dir nicht zu nahe treten.“, ergänzte Alexios.
„Nein nein, mein lieber. Du hast alles Recht zu fragen.“ Helena räusperte sich. „Peris ist… war ein gefragter Arzt. Er empfing Patienten hier in seiner Praxis, aber ging auch häufiger auf Hausbesuche. Es war nicht weit von hier in einem Mietshaus in der Via Commodus. Er besuchte dort eine Patientin, die im fünften Stock wohnt. Leider… er stolperte und fiel aus dem Fenster.“
Gregor und Thalis zeigten betroffene Gesichter. Alexios runzelte zunächst die Stirn, setzte dann aber eine traurige Miene auf.
„Ja solche Missgeschicke passieren häufiger als einem lieb ist.“, warf Frugi ein. „Man kann gar nicht vorsichtig genug sein.“, fügte er mit einem Blick auf Alexios hinzu.
In diesem Moment kam die Bedienstete mit dem Hauptgang herein, was das unangenehme Gespräch unterbrach. Man aß schweigend weiter. Der Kaufmann unternahm noch ein Paar Versuche, das Gespräch wieder auf eine fröhlichere Bahn zu lenken. Doch eine richtige Konversation wollte nicht mehr aufkommen.
Nachdem der Kuchen verspeist war holte Frugi eine Flasche hervor. „Der beste Wein in meinem Lager. Zur Feier des Tages!“
Nach einigen Gläsern von dem durchaus genießbaren Tropfen stieg die Stimmung und das Gespräch belebte sich wieder. Auch eine zweite Flasche ließ nicht lange auf sich warten. Eigentlich wollte ich ja gar nichts trinken, aber so ist das mit dem Gruppenzwang.
Immerhin erfuhr ich, dass Kaufmann Frugi mit fast allem handelte „solange man es essen, trinken, oder sonst irgendwie verzehren kann“. Er war ein Großhändler, der Erzeugnisse aus weiter entfernten Regionen aufkaufte, und in Rom an Geschäfte und andere Großabnehmer weiterverkaufte.
„Mit einer entsprechender Marge versteht sich.“, zwinkerte Frugi. „Und manchmal beliefere ich auch den kaiserlichen Palast. Aber eigentlich eher ungern. Die sind meist knauserig und man kann ja nichts sagen.
Und du? Wo kommt man so herum als Gewürzhändler? Ich kaufe auch Gewürze, aber nicht in den Ursprungsländern. In Puteoli vor allem, was so per Schiff ankommt.“
Auch diesen Teil der Hintergrundgeschichte hatte ich mir zurecht gelegt.
„Hauptsächlich war ich von Arabien aus unterwegs. Dort habe ich Gewürze eingekauft und dann nach Alexandria und Milet verschifft. Aber der größte Markt ist hier in Rom, deshalb wollte ich diesmal hier verkaufen. Doch wie du ja weißt, hat das nicht ganz geklappt.“
Frugi lachte. „Ha, nicht ganz geklappt. So kann man es auch ausdrücken, wenn Schiff samt Ladung untergeht. Aber was hält dich hier? Wieso nimmst du nicht das nächste Schiff, das gen‘ Osten fährt?“
Tja, das war eine logische Frage. Auf die ich nicht vorbereitet war. Doch mittlerweile war ich fast schon routiniert im Erfinden solcher Details.
„Ich habe weder Frau noch Kinder und mein ganzes Vermögen war in die Schiffsladung investiert. Es gibt nichts zu dem ich zurückfahren könnte. Lieber ein armer Mann hier mit den Möglichkeiten Roms, als irgendwo in der Provinz.“
Der Kaufmann nickte. „Töricht das mit dem Schiff, Junge! Man setzt niemals alle Denari auf einen Würfel. Aber das mit Rom, eine kluge Entscheidung. Findige Köpfe können es hier weit bringen.
Also lass dir etwas von einem erfahrenen Händler gesagt sein. Hier in Rom zählt Stand und Familie wenig. Prestige und Stimmen werden gekauft – das Geld ist entscheidend!
Haha, und damals als ich angefangen habe mit zwei Karren Waren von Norditalien nach Rom zu transportieren…“
Die nächste gefühlte Stunde verging, indem Frugi mir ausführliche Anekdoten aus der Anfangszeit seiner Karriere erzählte, deren Witz, Moral, oder sonstige Pointe ich meist nicht verstand. Vielleicht lag das aber auch daran, dass mir die Wirkung des Weins zunehmend erschwerte, ihm in seinem Redefluss zu folgen.
Ich griff nach meinem Glas und stellte mit Bedauern fest, dass es leer war – und ärgerte mich sogleich, dass ich mich über das leere Glas geärgert hatte. Ich wollte doch gar nichts trinken.
Frugi war anderer Meinung. „Ahh, die Gläser sind leer, aber der Abend noch jung. Doch keine Sorge, ich habe noch einen ganz besonderen Tropfen mitgebracht!“
Hilfesuchend blickte ich auf und sah mich nach den Anderen um. Doch nur Helena war zu sehen, noch immer kichernd nach der letzten Bemerkung Frugis.
„Nanu wo sind sie den alle hin?“
„Die sind schon schlafen gegangen“, kicherte Helena mir entgegen.
Ich stand auf, wobei ich etwas schwankte. Ob vom Wein oder dem langen liegen war mir unklar.
„Na dann mache ich mich lieber auch ins Bett. Morgen wird sicher ein langer Tag.“
Noch bevor Frugi zu einem Überredungsversuch ansetzen konnte, ließ ich ihn und die weiterhin kichernde Helena zurück. Ich verließ den Hauptraum der Wohnung durch den einzigen anderen Gang, der nicht in die Küche führte. Dem Plopp nach zu vernehmen, das hinter mir erklang, brachte Frugi gerade den „ganz besonderen Tropfen“ für sich und Helena zum Ausschank.
Als ich die drei Brüder fand, lagen sie bereits in den Betten, die sich in einem Zimmer im hinteren Bereich der Wohnung fanden. Es war wohl extra für die Ankömmlinge hergerichtet worden. Außer den drei Betten in L-förmiger Anordnung befand sich ein kleiner Tisch in der Mitte des Raums und ein Schrank an der gegenüberliegenden Seite. Ich stand eine Weile im Türrahmen, während meine alkoholgetränkten Synapsen versuchten, eine Lösung für das Problem zu finden, dass es nur drei Betten gab aber vier Personen.
Thalis bemerkte mich als erster.
„Ah, da bist du ja. Ich hatte schon befürchtet, dass Frugi dich im Esszimmer in den Schlaf palavert hat.“
„Ja fast hätte er es geschafft“, antwortete ich lachend. „Ähm, gibt es noch ein Bett irgendwo für mich, oder soll ich mich einfach auf den Boden legen?“
Ich war durch das Schleppen der Kisten, das reichliche Essen, und den vielen Wein mittlerweile so müde, dass ich auch auf dem kargsten Lager würde einschlafen können.
Thalis winkte ab. „Ein weiteres Bett hab ich nicht gesehen. Aber du kannst dich mit zu mir legen, ist ja viel Platz.“
Alexios schien schon zu schlafen, doch Gregor blickte auf.
„So ein Quatsch, das ist doch viel zu eng für zwei. Schlaf auf dem Boden!“
„Schlaf du doch auf dem Boden, dann kann Phillip in deinem Bett schlafen!“, konterte Thalis. „Komm Phillip, und lösch die Lampe.“
Ich setzte mich in Bewegung und legte meine Kleidung ab. Nur die Hose behielt ich an, aus Anstandsgründen. Eine Maßnahme, die mein Bettnachbar nicht teilte, wie mir ein flüchtiger Seitenblick auf seine völlige Nacktheit unter dem einfachen Laken offenbarte. Doch ich war zu müde, um diesen erregenden Gedanken fortzuspinnen. Also löschte ich die Lampe und ließ mich auf das weiche Lager sinken.

Ich habe einmal gehört, dass man oft über das träumt, an was man zuletzt vor dem Einschlafen gedacht hat. Bisher hatte ich das weniger nachvollziehen können, aber in dieser Nacht stimmte es.
Thalis weiche Hände glitten sanft über meinen Oberkörper. Auf und ab.
Die Finger seiner linken Hand kreisten behutsam um meine harten Nippel, während sein rechte Hand langsam über meinen Bauchnabel wanderte.
Ich stöhnte leicht. Die Hand wanderte tiefer und tiefer. Sie umfasste meine harte Erektion, die noch von der Hose umschlossen war.
Ich wand mich unter einem Schauer von Wohlgefühl als seine Hand mein Glied massierte.
Dann wanderte die Hand weiter und streichelte meine Hoden. Schließlich liefen seine Finger unter meinen Hoden entlang und liebkosten meine Pobacken.
Währenddessen war auch die linke Hand tiefer gewandert und erreichte den Hosenbund. In einem Spannungsmoment hielt sie inne. Dann glitt sie unter dem Hosenbund hindurch und erfasste meinen Schaft voll und ganz. Ich stöhnte erneut auf.
In einem zarten aber bestimmten Rhythmus begann seine Hand meinen Schwanz zu bearbeiten. Hoch und runter. Ich wimmerte vor Erregung. Die andere Hand wanderte von meinem Po wieder empor und begann meine Hoden sanft zu massieren.
Bereits wenige Bewegungen später hielt mein Körper es nicht mehr aus. Ich kam unter stöhnen. Mein Schwanz ergoss seinen Samen in meine Hose und Thalis Hand.
Schließlich zogen sich seine Hände langsam zurück, wobei sie von unten nach oben über meinen Körper strichen.

Als ich erwachte, fiel bereits Tageslicht durch das Fenster des Schlafraums. Ich stützte mich auf den Ellenbogen und sah mich um. Alexios war nicht mehr zu sehen, aber Gregor lag noch schnarchend auf seinem Lager. Auch Thalis lag noch neben mir im Bett.
Auf einmal viel mir der intensive, alles andere als jugendfreie Traum wieder ein. Vorsichtig hob ich meinen Hosenbund an. Der klebrigen Natur des Stoffes nach zu urteilen, hatte sich der Traum in einem realen Ergebnis niedergeschlagen.
Aber war es überhaupt ein Traum gewesen?
Ich blickte nach rechts zu Thalis, der noch die Augen geschlossen hatte und dachte angestrengt nach.
Verdammter Wein!
Ich konnte einfach nicht mehr mit Gewissheit sagen, ob die Eskapade mit dem nackten Griechen Wirklichkeit war, oder ich nur geträumt hatte.
Erleichterung überkam mich. Ich musste doch nur Elisa fragen.
Obwohl ich mir immer vergegenwärtigte, dass sie nur ein Computer war, verlangte die Frage etwas Überwindung.
„Elisa, kam es heute Nacht zu sexuellen Handlungen zwischen meinem Bettnachbarn und mir?“
„Nein, Dr. Marten, solche Handlungen konnte ich nicht verzeichnen.“
Erleichtert atmete ich aus. Obwohl – eigentlich doch schade, dachte ich mit einem Seitenblick auf den noch friedlich schlummernden Thalis. Süß war er ja.
Ich schrak zusammen, denn in diesem Moment wurde die Tür aufgerissen. Helena stand im Rahmen.
„Auf geht’s, die Herren Doktoren!“, verkündete sie in fröhlichem Tonfall, „Eine Praxis betreibt sich nicht von allein!“
Mit einem Seufzer ließ ich mich auf das Bett zurücksinken. Da ich kein Doktor war, fühlte ich mich nicht angesprochen.
Moment Mal – das stimmte ja gar nicht. Ich war doch ein Doktor! Doktor der Physik.
Ich musste laut lachen. Auf welche Gedanken man kommt, wenn man noch nicht ganz wach ist.
„Das gilt auch für dich!“ Helena zeigt in meine Richtung. „Wer lange schläft kommt früh ins Grab!“
Nach dem Verkünden dieser fragwürdigen Weisheit verließ sie das Zimmer wieder, ließ aber die Tür offenstehen.
Nun gut, es half ja nichts. Zeit zum Aufstehen.
Einige Zeit später fanden wir uns im Esszimmer wieder, wo ein kleines Frühstück eingenommen wurde. Es gab Getreidebrei, sowie Brot und Honig. Die Brüder unterhielten sich rege und planten die nächsten Schritte.
„Wir brauchen ein neues Türschild, mit unseren Namen drauf“, brachte Gregor gerade an.
Alexios nickte bedächtig. „Sicher, aber noch wichtiger ist es, dass wir Hausbesuche machen. Wir müssen uns aufteilen und bei allen wohlhabenderen Kunden unseres Onkels vorstellig werden. Wenn niemand weiß, dass die Praxis weitergeführt wird, kommt auch keiner.“
„Richtig“, stimmte Thalis zu, „wir müssen die Kontakte wiederaufleben lassen. Hatte unser Onkel nicht auch Heilbehandlungen in der Trajanstherme angeboten? Da sollten wir auch vorsprechen, vielleicht können wir das fortsetzen.“
„Ja, das hat er. Jeden Dienstag und Samstag“, antwortete Helena.
Alexios wandte sich an mich. „Also, kommen wir zu deiner Rolle. Thalis sagte schon, dass du uns gerne weiterhin unterstützen würdest.“
Ich nickte. Sonst kannte ich hier Niemanden. Und auf mich allein gestellt wollte ich in dieser Stadt sicher nicht sein.
„Du hast nicht zufällig doch irgendeine Art von medizinischer Erfahrung?“, hakte Alexios nach.
Ich überlegte einen Moment. Eigentlich war es absurd. Meine medizinischen Kenntnisse, oder genauer gesagt das darüber in Elisas Datenbanken enthalte Wissen, war viel umfangreicher als das der Brüder. Aber damit durfte ich gar nicht anfangen. Eine solche Einmischung in diese Welt stand mir nicht zu.
Ich schüttelte den Kopf. „Nein, leider nicht.“
Und das war nicht einmal gelogen, denn tatsächliche medizinische Erfahrung hatte ich keine.
„Das dachte ich mir schon“, erwiderte Alexios, „aber das macht nichts. Du kannst bei uns zur Lehre gehen und wir bringen dir alles Nötige bei für eine Assistenzstelle.“
Ich nickte zustimmend. Zwar war ich mir nicht sicher, ob ich über den Gedanken meine restlichen Jahre als Assistenz-Quacksalber zu verbringen so glücklich war – doch vorerst war es die einzige Möglichkeit. Abgesehen davon unter der Brücke zu schlafen.
Unter derlei Gesprächen machten wir uns auf den Weg in den unteren Stock zu den eigentlichen Praxisräumen. Hier sah es noch wüst aus, standen doch alle Kisten, die wir gestern hineingeschleppt hatten, noch ungeöffnet im Raum. Helena hatte uns nach unten begleitet und verabschiedete sich dann für den Tag.
Alexios schloss die Tür hinter ihr und drehte sich zu uns um.
„Es gibt noch etwas, um das wir uns kümmern sollten.“, begann er in leisem Tonfall.
Die anderen beiden blickten ihn fragend an. Ich trat unwillkürlich einen Schritt näher, um ihn besser verstehen zu können.
„Diese Geschichte stinkt doch.“, fuhr er fort. „Die Sache mit dem Tod unseres Onkels. Gestolpert und aus dem Fenster gefallen? Wer glaubt den so etwas?“
„Ich habe schon weiße Mütter schwarze Kinder gebären sehen!“, warf Gregor ein.
Thalis kicherte, wurde aber sogleich wieder ernst. „Alex hat schon recht, es ist nicht gerade eine übliche Todesursache.“
Alexios nickte. „Es ist immerhin möglich, dass mehr an der Sache dran ist, als Helena weiß oder uns sagt.“
„Du meinst sie verschweigt uns etwas?“, fragte Thalis.
Ich dachte nach. Helena war sehr froh, dass die drei Brüder hier waren. Wären sie nicht gekommen, hätte sie sicher die Wohnung aufgeben müssen. Schon möglich, dass sie etwas zurückhielt.
Alexios zuckte mit den Schultern. „Vielleicht. Aber ich will keine vorschnellen Vermutungen aufstellen. Ich sage nur, dass wir in der Sache eigene Nachforschungen anstellen sollten.“
So ging die Diskussion noch eine Weile weiter, bis man sich schließlich auf einen konkreten Plan geeinigt hatte. Thalis und Alexios würden den Tag über bei alten Kunden des Onkels vorbeischauen und sich vorstellen. Falls es Gerüchte gab, würde man so sicher schnell davon hören. Gregor sollte in der Praxis bleiben und das Inventar auspacken. Darüber war er zwar nicht so glücklich, aber es schien ihm immer noch lieber zu sein, als die Besuche zu machen.
Und ich? Ich sollte das Mietshaus in der Via Commodus aufsuchen, aus dessen fünften Stock Periklis in den Tod stolperte. Ich sollte mir ein Bild von den Räumlichkeiten machen und mit der ehemaligen Patientin reden.
„Phillip ist dafür bestens geeignet. Er hat ein Gespür für so was. Seine Ahnungen haben sich immer bewahrheitet“, hatte Alexios argumentiert. „Und wie sollte er alleine die Kisten entpacken und die Tinkturen einsortieren, mit denen er sich nicht auskennt.“
Ob das der wahre Grund war, aus dem Alexios mich für diese Aufgabe nominierte? Vielleicht spielte auch die Überlegung eine Rolle, dass ich falls etwas schiefging noch das entbehrlichste Mitglied der Gruppe war.
Wie dem auch sei – ich schuldete den Brüdern viel. Also stimmte ich zu, mich darum zu kümmern.

Die Via Commodus war nur etwa zehn Fußminuten von der Praxis entfernt. Als ich dort eintraf, war es später Vormittag. Die Sonne stand bereits hoch genug, um die oberen Etagen der vielen Mietshäuser zu beleuchten. Die Straße selbst lag noch im Schatten.
Ich schritt die Gebäude entlang, wobei ich mich auf der linken Seite hielt. Das fünfte Haus von links sollte es sein. Das jedenfalls ließ sich aus Perikles Terminkalender für den Tag seines Todes entnehmen. Und die Angabe „5. Stock, links“. Auch der Name der Patientin war als „Iulia“ vermerkt.
Ich erreichte das genannte Haus und ließ meinen Blick nach oben schweifen. Dabei zählte ich die Stockwerke ab. Der fünfte Stock war der oberste in diesem Haus. Ein Fenster konnte ich nicht erkennen, aber es gab einen kleinen Balkon. Eine Wäscheleine war von ihm zum gegenüberliegenden Balkon gespannt. Die Häuser standen wie häufig in diesen römischen Gassen eng zusammen.
Eines stand fest. Ein Sturz aus dieser Höhe war sehr wahrscheinlich tödlich. Unwillkürlich blickte ich zu Boden und heilt nach Blutspuren Ausschau. Aber das war Unsinn, lag der fragliche Vorfall doch schon Monate zurück.
Seufzend drückte ich die knarrende Eingangstür auf. Also gut, auf in den fünften Stock.
Dort angekommen wandte ich mich nach links. Ich musterte die Wohnungstür. Sie wies einen Türklopfer auf und einen Riegel, den man aufschieben konnte, um nach außen zu sehen. Ein Namenschild gab es jedoch keines.
Ich holte tief Luft und betätigte den Türklopfer.
Zunächst passierte gar nichts. Ich lauschte angestrengt, konnte aber kein Geräusch aus der Wohnung vernehmen. Wohl niemand da.
Durchaus erleichterte drehte ich mich um und betrat die Treppe nach unten.
„Es sind Geräusche aus der Wohnung zu vernehmen. Es scheint Jemand anwesend zu sein.“
Ich seufzte und überlegte. Ob ich Elisas Info beherzigen und erneut klopfen sollte? Oder sollte ich einfach wieder nach unten gehen?
Die Entscheidung wurde mir abgenommen, denn plötzlich schob sich der Riegel an der Wohnungstür zur Seite. Eine krächzende Frauenstimme erklang.
„Wer da?“
Ich beeilte mich wieder die letzten paar Stufen hinaufzugehen.
„Ähm hallo Iulia! Ich bin Phillip von der Arztpraxis des Periklis. Ich komme, um…“
Die Frauenstimme unterbrach mich.
„Hier ist keine Iulia! Schon lange nicht mehr. Hier wohnt Cornelia.“
Ich stutzte.
„Was ist denn mit Iulia passiert?“, frage ich durch den Sichtschlitz hindurch.
„Na was soll schon mit ihr passiert sein, du begriffsstutziger Vogel! Sie ist ausgezogen. Vor zwei Monaten oder so.“
Der Riegel wurde vor meiner Nase zugeschoben. Noch bevor ich meine Gedanken sortieren konnte, hörte ich wie ein anderer Riegel sich bewegte. Die Tür öffnete sich. Im Rahmen stand eine leicht schmächtige Frau mittleren Alters.
Sie musterte mich von oben bis unten.
„Periklis, sagst du? Das ist doch der Typ, der Iulia immer besucht hat.“
Ich nickte. „Ja genau, ihr Arzt. Und in welcher Beziehung stehst du zu Iulia?“
Die Frau lachte. „In welcher Beziehung? Wie komisch du redest. Und überhaupt was ist das für ein unmöglicher Akzent?“
Sie musterte mich noch einmal. Diesmal von unten nach oben.
„Komm ruhig rein“, lud sie mich immer noch lachend ein.
„Ich kann dir zwar nichts anbieten. Bin nur eine arme Witwe die nichts hat. Aber es gibt ja noch andere Qualitäten.“
Sie zwinkerte mir zu und machte eine einladende Geste.
Ganz geheuer war mir die Sache nicht. Doch die Chance den vermeintlichen Tatort von innen zu sehen, durfte ich mir nicht entgehen lassen. Also folgte ich ihrer Einladung und betrat die Wohnung.
Als erstes fiel mir auf, dass die Wohnung deutlich kleiner war als die einzige andere römische Wohnung, die ich bisher kennengelernt hatte. Hier gab es nur einen langen Gang, der links in ein kleines Zimmer abzweigte und am Ende in einen größeren Raum mündete. Dorthin folgte ich auch der Bewohnerin.
Der Raum enthielt eine einfache Sitzgelegenheit und einen Tisch. Außerdem fand sich hier der Balkon, den ich bereits von der Straße aus gesehen hatte. Fenster gab es keine, auch nicht auf der anderen Seite.
„Ich habe vorher eins tiefer gewohnt, weist du. Aber hier oben gefällt es mir besser. Mehr Luft. Also bin ich hochgezogen, nachdem Iulia weg ist.“
„Ist die Luft wirklich besser hier oben?“ Ich setzte mich Richtung Balkon in Bewegung, als ob ich ihre Behauptung überprüfen wollte. Dabei sah ich mich um. Es gab keine Bodenschwelle zwischen Wohnung und Balkon. Auch sonst konnte ich nichts erkennen, über das man hätte stolpern können. Allerdings wusste ich ja nicht wie die Wohnung zu Zeiten der vorigen Bewohnerin ausgesehen hatte.
Das Geländer des Balkons ging mir bis etwas über die Hüften. Angenommen ich würde ein paar Schritte vor dem Geländer stolpern, so wäre ich definitiv auf das Geländer geprallt, aber nicht darüber gefallen. Ich wusste nicht wie groß Periklis gewesen war, aber vermutlich kürzer. Und falls man schon direkt am Geländer stand, konnte man ja nicht mehr stolpern. Aber gestolpert werden. Wobei, vielleicht konnte es passieren, wenn man quasi mit Anlauf darauf zustolperte?
In diesem Moment wurde ich von hinten angestupst. Ich griff mit der einen Hand an das Geländer und fuhr herum.
Cornelia war neben mich auf den Balkon getreten.
„Und es stimmt, oder? Mehr Luft und auch mehr Sonne!“
Ich atmete erleichtert aus. Für einen Moment hatte ich das Gefühl gehabt, ich sollte der nächste Gestolperte werden.
Ich nickte ihr zu. „Ja, du hast recht. Aber sag mal, stimmt es, was man hört? Ist Periklis wirklich hier ums Leben gekommen?“
„Ja, so ist es.“ Sie nickte gewichtig mit dem Kopf. „Ich war leider auf dem Markt. Als ich wiederkam war nur noch ein großer roter Fleck zu sehen. Aber meine Nachbarin hat mir hinterher alles erzählt. Er ist hier oben gestolpert und dann unten aufgeschlagen. Sein Kopf ist richtig explodiert. Die ganze Soße lief über die Straße.“
Sie schien aufrichtig zu bedauern, das makabere Schauspiel nicht mit eigenen Augen erlebt zu haben.
Cornelia schüttelte sich. „Und die Iulia hat das das alles miterlebt, das junge Ding. Kein Wunder, dass die ausgezogen ist.“
„Überhaupt, eine Schande ist das mit Periklis“, fuhr sie fort. „Und mit der Iulia. Ich habe ja ihre Schreie immer durch die Decke gehört, wer er zu Besuch war.“
„Was hatte sie denn, dass ihre Behandlung so schmerzhaft war?“, hakte ich ein.
Cornelia sah mich einen Moment lang mit undeutbarem Gesichtsausdruck an, dann brach sie in schallendes Gelächter aus.
„Welche Behandlung denn?! Jungchen, du hast aber auch keine Ahnung! Ordentlich durchgefickt hat er sie, das war die Behandlung!“
Unter fortgesetztem Gelächter zog sie mich am Arm zurück in die Wohnung.
Konnte das stimmen? War Perikils seiner Frau untreu gewesen und hatte sich hier mit der jungen Iulia vergnügt?
„Elisa, meinst du sie lügt?“
„Die Wahrscheinlichkeit, dass die letzte Aussage ihrer Gesprächspartnerin der Wahrheit entspricht, ermittle ich mit 57 Prozent.“
„57 Prozent? Das ist nicht gerade hilfreich, Elisa. Da hätte ich auch eine Münze werfen können!“
„Es konnten nicht alle für das Wahrscheinlichkeitsmodell benötigten Parameter erfasst werden, da der visuelle Input der Visorlinsen fehlt.“
Ich seufzte. Ob ich Cornelia glauben konnte?
Die Dame des Hauses starrte mich derweil intensiv an. Behaglich war mir das nicht. Aber ich hatte noch eine wichtige Frage an sie.
„Weißt du wo Iulia hingezogen ist?“
„Nein. Woher denn auch? Wir waren ja nicht mal befreundet. Aber genug jetzt mit dieser Iulia! Ich habe doch auch meine Qualitäten.“
Unter diesen Worten und einem schelmischen Lächeln begann Cornelia die oberen Knöpfe ihrer Bluse zu lockern.
Es war allerhöchste Zeit diesen Hausbesuch zu beenden.
„Liebe Cornelia, danke vielmals für deine Gastfreundschaft. Aber ich muss noch viele Kunden besuchen heute und kann nicht verweilen.“
Die letzten Worte rief ich ihr schon von der Türschwelle aus zu. Bevor sie antworten konnte, zog ich die Tür zu und eilte die Treppe nach unten.
Einen Stock tiefer hielt ich inne. Hier hatte Cornelia vorher gewohnt. Und gegenüber musste ihre Nachbarin wohnen, die Cornelia die Geschehnisse um Periklis Tod erzählt hatte. Ob ich dort auch klopfen sollte? Vielleicht wusste diese Dame ja um den neuen Wohnort Iulias?
Ich lauschte angestrengt nach oben. Cornelia hatte die Tür nicht wieder geöffnet und schien keine Anstalten zu machen mir nachzusetzen. Also gut, probiere ich es.
Ich klopfte an der Tür. Kurze Zeit später öffnete sich der Sichtschlitz und ein unwirsches „Ja bitte“ ertönte.
„Entschuldige die Störung. Ich bin auf der Suche nach Iulia, die früher einen Stock höher wohnte. Weißt du vielleicht wo sie hingezogen ist?“
Die Augen hinter dem Schlitz musterten mich. „Wer will das wissen?“
„Ich bin Phillip von der Arztpraxis des Periklis.“
„Periklis?“ Die Stimme sprach den Namen mit Verachtung aus. „Der hat schon genug Unheil für die arme Iulia angerichtet. Verschwinde!“
Der Riegel wurde wieder vorgeschoben. Schade, das hätte erfolgreicher verlaufen sollen.
Ich wollte mich gerade abwenden, da fiel mir etwas ein, dass Frugi letzten Abend gesagt hatte.
Ich rief durch die geschlossene Tür. „Es geht um Periklis Erbe. Er hat Iulia in seinem Nachlass berücksichtigt.“
Das Scharnier der Tür knarzte, als sie von innen geöffnet wurde.
„Bei Juno, das er gemacht?“
Frugi hatte recht. Geld regierte auch im alten Rom.

Es war kurz nach Mittag als ich mich auf den Rückweg zur Praxis machte. Die Informationen, die ich in der Via Commodus gesammelt hatte, gingen mir durch den Kopf. Ein klares Bild ergab sich noch nicht.
Cornelias Nachbarin hatte mir auch nicht sagen können wo Iulia hingezogen ist, aber sie kannte ihre Arbeitsstätte. Wenn ich wollte, könnte ich also dort nach ihr fragen.
Abgesehen davon hatte sie die Abläufe um den Tod Periklis bestätigt. Kein Wunder eigentlich, hatte Cornelia es doch von ihr gehört. Aber so wusste ich wenigstens, dass Cornelia in diesem Punkt die Wahrheit gesagt hatte.
Und in dem anderen Punkt, was die Beziehung anging? Die Nachbarin hatte davon nicht direkt etwas mitbekommen, Iulia sei da sehr diskret gewesen. Aber Cornelia habe es ihr erzählt und sie glaubte ihr. Wieso sei Iulia sonst umgezogen.
Mit diesen Gedanken beschäftigt achtete ich wenig auf die Straße, was mir nun zum Verhängnis wurde.
„Aus dem Weg!“
Eine starke Hand stieß mich beiseite. Ich verlor das Gleichgewicht und landete im Straßengraben.
„Macht Platz! Hier kommt die edle Clodia Magni.“
Von meiner Position im Straßengraben aus sah ich zwei Männer in leichter Rüstung. Einer der beiden hatte mich zur Seite gestoßen. Dahinter gingen vier weitere Männer, augenscheinlich Sklaven, die eine Sänfte auf ihren Schultern trugen. Darin saß eine Frau, vielleicht Anfang 30. Sie hatte schulterlanges, gepflegtes Haar und trug elegante Kleidung. Ihr Gesichtsausdruck war kalt und ihr Blick in die Ferne gerichtet. Als hübsch hätte ich sie nicht bezeichnet, aber ich war auch kein Experte auf diesem Gebiet.
Die Prozession war so schnell vorüber wie sie gekommen war. Ich rappelte mich hoch, klopfte mir den Staub von der Kleidung, und setzte meinen Weg fort. So also bewegten sich die reichsten Bürger Roms fort. Nun ja, irgendwo musste das mit der Dekadenz ja herkommen.
Nach kurzer Zeit hatte ich die Praxis erreicht. Ich trat ein. Gregor war mit dem Auspacken und Einräumen beschäftigt. Thalis und Alexios waren noch nicht zurück.
Mein Blick schweifte über die Kisten. Weit schien er ja nicht gekommen zu sein. Noch gut zwei Drittel der Kisten standen ungeöffnet und unbewegt inmitten des Raums. Ob er vielleicht extra langsam gemacht und auf meine zeitige Rückkehr spekuliert hatte, in der Hoffnung ich würde ihm einiges an Arbeit abnehmen? Bei Gregor konnte ich mir das sogar vorstellen.
Er schnaubte und stellte die Kiste ab, die er gerade vom Stapel gehoben hatte.
„Gut, dass du kommst, Phillip. Ich könnte deine Hilfe gebrauchen.“
Das hätte ich mir denken sollen. Besser wäre es, ich hätte noch einen Spaziergang durch die Stadt gemacht.
Er fuhr fort. „Ich räume grade die Heilkräuter ein. Aber ein Teil fehlt noch. In irgendeiner Kiste muss es ja sein, aber ich fürchte wir müssen sie alle durchsuchen.“
„Wäre es nicht logischer“, führte ich aus, „wenn wir eine Kiste nach der anderen öffnen und den jeweiligen Inhalt an seinen richtigen Platz entpacken?“
Gregor dachte eine Weile nach.
„Nein, wäre es nicht. Jetzt kommen erst die Heilkräuter dran.“
Ich seufzte. Logik würde hier nicht weiterhelfen.
„Also gut, dann schauen wir halt die Kisten durch.“
Ich hievte die nächste Kiste vom Stapel und inspizierte den Inhalt. Bücher und Manuskripte, aber keine Kräuter. Ich schob die Kiste beiseite.
Als ich wieder aufblickte hatte sich Gregor auf den Behandlungstisch gelegt, der noch längs der Wand abgestellt war. Er verschränkte die Arme hinter dem Kopf.
„Was soll das?“, frage ich leicht verärgert. „Soll ich deine Kräuter jetzt allein suchen oder was?“
Gregor schaute zu mir hinüber.
„Ich habe schon die ganzen Kisten da ausgeräumt.“ Er zeigte auf ein Paar leere Kisten, die er an der anderen Wand gestapelt hatte. „Ich hab eine Pause verdient. Mach du schon Mal weiter.“
Ich schnaubte. Was ein Idiot. Sollte ich mir das gefallen lassen?
Normalerweise nicht. Allerdings war ich eindeutig in der schwächeren Position. Mein Lebensunterhalt in dieser Stadt war aktuell von den Brüdern abhängig. Umgekehrt brauchten Sie mich nicht wirklich. Ironischerweise hatte ich mich in Ägypten als Manus Sklave freier gefühlt als hier. Und geliebter.
Ich seufzte innerlich und schluckte meinen Ärger hinunter. Also gut, klein beigeben war angesagt. Aber ein bisschen Schummeln würde ich doch.
„Ermittle die Kiste, in der sich die Kräuter befinden“, wies ich meine elektronische Begleiterin lautlos an.
„Bitte fahren Sie zum Durchführen der Analyse mit dem rechten Armteil über die Kisten.“
Gesagt, getan. Ich ging langsam im Kreis um den Kistenstapel, wobei ich meine rechte Hand ausgestreckt darüberfahren ließ. Gregor schaute mich von seiner Liege aus mit schrägem Blick an.
„Was machst du denn jetzt?“
„Ich vollführe einen arabischen Steppentanz zum Erspüren von Heilkräutern.“, antwortete ich mit allem ernst in der Stimme, den ich aufbringen konnte.
Gregor lachte. „Du spinnst echt.“
„Analyse abschlossen. Gehen Sie zwei Schritte im Kreis zurück und wenden Sie sich dem Stapel zu. Dann drei Kisten in horizontaler Richtung und zwei in vertikaler Richtung.“
Zielsicher räumte ich die im Weg befindlichen Kisten beiseite und hob die Gesuchte aus dem Stapel. Ich trug sie zur Behandlungsliege und setzte sie vor Gregors Füßen ab.
„Bitteschön, die Kiste mit den Kräutern.“
Gregor gab einen spöttischen Laut von sich.
„Um was wetten wir?“, setzte ich nach.
Gregor überprüfte seine Taschen und förderte drei Münzen zu Tage.
„Ich habe drei Denari bei mir. Wenn du gewinnst sind sie dir. Aber… du hast sicher keine drei eigenen Denari für deinen Wetteinsatz, oder?“
Ich schüttelte den Kopf.
„Dachte ich mir. Aber was bekomme ich dann, wenn du verlierst?“
Gregor wiegte den Kopf hin und her. Er musterte mich mit seinen graublauen Augen.
„Ich hab’s“, begann er. „Wenn du verlierst, dann bläst du mir einen.“
Ich riss die Augen auf. Hatte ich das jetzt richtig verstanden? Und wenn ja, wie meinte er das?
Was so etwas üblich hier? Konnte ich mir schwer vorstellen. War es eine billige Anmache? Oder wollte er mich doch nur veräppeln?
Mein Herz schlug mir auf einmal bis zum Hals.
Angenommen er meinte es ernst, wie sollte ich darauf reagieren?
Ich öffnete meinen Mund, um etwas zu entgegnen. Aber mir fiel nichts ein.
Ihm schon.
„Noch etwas weiter öffnen den Mund. Sonst passt er nicht rein.“
Jetzt reichte es aber!
„Idiot!“, schrie ich ihm entgegen. Quasi ohne mein Zutun bewegte sich meine Hand und verpasste Gregor eine Ohrfeige.
Ich drehte mich um und verließ schnellen Schrittes des Raum. Die Tür knallte ich hinter mir zu.
Noch bevor sie ins Schloss fiel hörte ich was Gregor mir nachrief.
„Tu doch nicht so unschuldig! Ich hab euch beobachtet gestern Abend!“
Ich setzte mich auf der Veranda des Hauses auf einen Stein. Hoffentlich kam er mir nicht hinterher.
Erst Mal tief durchatmen! Meine Hände zitterten noch etwas.
Ich musste nachdenken. Und Sinn in dieses Chaos bringen.
Wieso hatte ich überhaupt so heftig reagiert? Bei einer Wette, die man sicher gewann, war der eigene Einsatz doch egal – oder?
‚Ich hab euch beobachtet gestern Abend‘ – diese Worte drangen erst jetzt zu mir durch. Was hatte er damit gemeint?
Die Sache mit Thalis war schließlich nur ein Traum gewesen. Das hatte ich von Elisa doch ganz klar bestätigt bekommen.
Scheiße – ich schlug mir mit der flachen Hand auf die Stirn. Genau das war mein Denkfehler gewesen. Natürlich hatte Elisa keine ‚Erinnerung‘ an die fraglichen Geschehnisse. Ich hatte Sie doch noch in Ägypten selbst angewiesen meine sexuellen Erlebnisse aus den Aufzeichnungen auszusparen!
Also war es doch kein Traum gewesen!
Ich atmete schwer aus und blickte zu Boden. Meine Hände zitterten noch mehr als zuvor.
Wie sollte ich mich jetzt gegenüber Thalis verhalten? Heute Morgen hatte er sich jedenfalls nichts anmerken lassen. Oder mir war es nicht aufgefallen.
Und überhaupt, waren etwa gleich alle drei Brüder schwul oder bisexuell?
Jedenfalls setzte das Gregors Worte in ein anderes Licht. Direkt und vielleicht auch unverschämt waren sie immer noch, aber eben nicht mehr völlig aus dem Blauen gegriffen.
Ob ich mich bei ihm entschuldigen sollte? Ja… das war sicher besser. Egal war nun recht hatte, der Klügere gibt ja bekanntlich nach, nicht wahr?
Ich atmete noch einmal tief durch und stand auf. Bevor ich wieder hineingehen konnte, traten zwei Männer auf die Veranda. Es waren Alexios und Thalis.
Hätten sie nicht zwei Minuten später kommen können? Ich hätte es bevorzugt, mich zuerst mit Gregor aussprechen zu können, bevor alle wieder zusammentrafen.
Die Zwei sahen kaum auf und wären beinah mit mir zusammengestoßen.
„Ah Phillip“, schreckte Alexios auf, „du bist es. Ich hoffe du hattest mehr Erfolg gehabt als wir? Aber lass uns erst Mal reingehen.“
Die zwei Brüder schritten voran in Praxisräume. Ich folgte mit einem mulmigen Gefühl.
Doch das war unbegründet. Gregor warf mir zwar hin und wieder einen Seitenblick zu, tat aber sonst als wäre nichts geschehen. Währenddessen erzählten Thalis und Alex von ihren ersten Besuchen.
Ich hörte nur mit halbem Ohr zu, aber soweit ich mitbekam, hatten sie wenig Erfolg gehabt.
„Der hier“, Thalis zeigte gerade auf einen Namen in einer langen Liste, „hat mich sogar mit seinem Dolch fuchtelnd vom Grundstück gejagt.“
Alexios schüttelte den Kopf. „Ich muss zugeben, ich hatte mir das auch einfacher vorgestellt. Aber wir dürfen nicht verzagen, Brüder. Das waren nur ein paar Namen von einer sehr langen Patientenliste. Und die, die uns jetzt noch wegschicken, bei denen können wir in einigen Monaten erneut vorstellig werden. Dann sollte sich unser Können herumgesprochen haben!“
Er fuhr fort, die Stimme voll Theatralik.
„Bedenkt meine Brüder, wer sich hier alles als Mediziner ausgibt! Jeder Schuster, Weber, oder gar Fleischer kann sich ‚Arzt‘ nennen. Doch haben die den hippokratischen Eid geschworen? Haben sie den Dioskurides gelesen und kennen jedes bekannte Heilmittel? Haben sie Celsus studiert und Galen, der ja bis vor kurzem noch selbst in Rom wirkte? Nein, das haben sie nicht! – Aber wir haben es. Echte Kunst sticht hervor!“
„Ich hoffe es“, sagte Thalis trocken. Er klang dabei deutlich weniger überzeugt als Alexios. Vielleicht war er auch einfach kein so guter Schauspieler.
Gregor meldete sich zu Wort.
„Da habe ich eine gute Nachricht für euch. Während ihr unterwegs wart, ist Jemand vorbeigekommen und hat einen Termin für morgen vereinbart.“
„Echt?“, Alexios schaute erstaunt auf, „wer denn und für wann?“
„Sah aus wie eine reiche Dame. Claudia Magni oder so. Sie will am Nachmittag kommen.“
„Seht ihr“, strahlte Alexios, „es spricht sich also schnell herum!“
Gregor winkte ab. „Keinen falschen Optimismus, Bruder. Die Dame kam nur zufällig vorbei und hat mich durchs Fenster beim Einräumen gesehen. Und da sie früher hier Patientin war, kam sie herein um nachzusehen.“
Alexios seufzte. „Egal, eine Patientin ist schon mehr als keine.“
Dann wandte er sich mir zu.
„Und, hast du etwas herausfinden können?“, fragte er neugierig.
Auch die anderen schauten nun aufmerksam zu mir. Ich räusperte mich.
„Ja, habe ich. Aber ich weiß nicht so recht, was ich davon halten soll. Also, diese Iulia wohnt nicht mehr dort. Eine Nachbarin namens Cornelia hat die Wohnung übernommen. Sie hat mich auch die Wohnung besichtigen lassen. Auch mit einer weiteren Nachbarin habe ich gesprochen.“
„Ja, und?“, unterbrach mich Gregor, „Ist Peris wirklich dort umgekommen?“
Alexios machte eine unwirsche Geste Richtung Gregor. „Lass ihn ausreden, Gregor!“
„Sehr wahrscheinlich ja“, fuhr ich fort. „Allerdings bin ich mir bei der Ursache weit weniger sicher. Die Wohnung hat zwar keine Fenster, aber einen Balkon. Und der hat ein Geländer. Doch damit man dort drüber fällt, müsste man schon mit einiger Geschwindigkeit auf den Balkon rennen und dann im richtigen Moment stolpern.“
„Oder einfach nur betrunken sein.“, warf Thalis ein.
Alexios schüttelte den Kopf. „Onkel war kein großer Trinker, davon hielt er nicht viel… im Gegensatz zu unserem Vater. Schaut euch seine Terminbücher an, bis zum Schluss gut gefüllt.“
Ich zögerte einen Moment, bevor ich fortfuhr, da ich nicht wusste wie die Brüder auf den nächsten Teil meines Berichts reagieren würden.
„Es gibt da noch etwas. Cornelia hat behauptet, dass Periklis nicht wirklich Iulias Arzt war. Sie sei seine heimliche Geliebte gewesen.“
Ein Raunen ging durch die Runde. Gregor stieß einen Pfiff aus.
„Unmöglich!“, proklamierte Alexios.
„Sehr wohl möglich!“, konterte Gregor, „Was wissen wir denn schon? Unzählige Männer gönnen sich ein solches Hobby, wenn die Gelegenheit dazu da ist.“
Alexios schien nicht überzeugt. „Ich weiß noch wie ich ihn und Helena zuletzt gesehen habe, kurz bevor er nach Rom gezogen ist. Er hat sie geliebt.“
„Sicher, Alex. Aber das war vor über 2 Jahren“, antwortete Thalis. „Seitdem kann viel passiert sein.“
Alexios nickte zaghaft. „Ich glaube es zwar immer noch nicht, aber na gut. Sagen wir, es ist eine Möglichkeit, die wir nicht völlig abtun können.“
„Dann sollen wir auch die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass Helena davon wusste“, gab Thalis zu bedenken.
Gregor sprang auf. „Ha! Das ist es. Sie hat die beiden in Flagranti erwischt und ihn über das Geländer gestoßen!“
Konnte es so gewesen sein? Wenn sie aus Eifersucht gehandelt hätte, dann wäre doch eher Iulia über die Brüstung geflogen. Außerdem war sie wohl eher nicht stark genug, einen erwachsenen Mann gegen seinen Willen über das Geländer zu hieven, oder?
Ich malte mir die Szene aus. Periklis und Iulia treiben es wild im Schlafzimmer, als es an der Tür klopft. Iulia unterbricht ihr Schäferstündchen, um nachzusehen. Es ertönt die Stimme Helenas, welche nach dem Verbleib ihres Mannes fragt. In Panik springt Periklis auf und hastet aus dem Schlafzimmer. Er rennt auf den Balkon zu, um sich an der Außenwand neben der Balkontür zu verbergen. Dabei ist er verständlicherweise unachtsam. Er stolpert im falschen Moment und das Trägheitsgesetz befördert ihn über das Geländer.
Ja, so könnte es passiert sein. Ich teilte den Dreien meine Überlegungen mit.
Thalis nickte. „Wir müssen sie zur Rede stellen.“
Gregor stimmte zu.
Alexios aber hob die Hände. „Nicht so schnell, Brüder. Das sollten wir nicht tun.“
Alle schauten ihn fragend an.
„Ganz einfach“, fuhr er fort, „es gibt doch nur zwei Möglichkeiten. Entweder Sie hat die Wahrheit gesagt. Dann würden wir sie nur beleidigen mit dem Vorwurf, etwas mit dem Tod ihres Mannes zu tun zu haben.
Oder sie hat gelogen und weiß mehr als sie zugibt. Dann würden wir sie damit vor den Kopf stoßen und riskieren, bei ihr in Ungnade zu fallen. Vergesst nicht, der Mietvertrag läuft auf Helena. Und solange wir keine Einnahmen mit der Praxis erzielen, sind wir doppelt auf sie angewiesen.“
Die beiden anderen brummten zustimmend.
Thalis blickte mich an. „Konntest du denn in Erfahrung bringen, wo diese Iulia jetzt wohnt?“
Ich schüttelte den Kopf. „Leider nicht. Aber ich weiß wo sie vermutlich arbeitet.“
„Dann könntest du sie vielleicht dort abfangen und befragen?“, schlug er vor.
„Ja“, stimmte Gregor zu, „so wie es aussieht ist sie die einzige Augenzeugin.“
Da hatten sie durchaus recht. Ich war mir nur nicht sicher, ob es überhaupt sinnvoll wäre, die Angelegenheit weiter zu Verfolgen. Ich hatte schon zu viele Kriminalromane gelesen, um nicht zu wissen, dass denen die solche Vorfälle allzu gründlich untersuchten schon Mal etwas zustoßen konnte.
Alexios hielt auch nichts von dem Vorhaben, wenn auch aus anderen Gründen.
„Ich bin der Meinung, dass wir die Sache ruhen lassen sollten. Ich meine, was erwarten wir denn herauszufinden? Mal angenommen, es hätte sich so zugetragen wie Phillip vorhin vermutet hat? Wäre Helena dann etwa schuld am Tod unseres Onkels? Wohl eher er selbst, denn er ist ja Fremdgegangen nicht sie.“
Ich stimmte Alexios zu. Nachdem wir eine Weile darüber diskutiert hatten, beschlossen wir, die Nachforschungen erst einmal einzustellen.
Anschließend schlug Alexios vor, nach oben zu gehen, um einen kleinen Happen zu Mittag zu essen. Das fand allgemeine Zustimmung.
Als die anderen aus dem Raum gingen, hielt mich Gregor am Arm zurück.
Er förderte drei Münzen zu Tage und drückte sie mir in die Hand.
„Hier, deine drei Denari. Die Kräuter waren wirklich in der Kiste. Bei Gelegenheit musst du mir aber verraten wie du das gemacht hast.“
Er stapfte an mir vorbei und folgte den Anderen nach oben.
Ich blieb verdutzt zurück. Das war wohl so etwas wie eine Entschuldigung gewesen. Eigentlich mehr als ich von ihm erwartet hätte. Aber gut, damit schien die Sache zwischen uns erst einmal geklärt.
Nur das mit Thalis stand noch aus. Ich seufzte. Ich würde versuchen, ihn heute Abend allein zu erwischen.
Die Münzen lagen noch in meiner Hand. Ich steckte sie mir in die Hosentasche. So hatte ich also meine ersten drei römischen Denari verdient. Ich musste kurz lachen. Nur noch einen kleinen Schritt von hier bis zum römischen Millionär.
Doch der Anflug von Spaß verging schnell wieder und machte Wehmut Platz. Ich musste an meine Familie und Freunde denken, die ich nie mehr wiedersehen würde. Und so angenehm wie zuhause würde das Leben im Rom dieser Zeit nicht werden.
Knapp zwei Monate würde der Akku des TTEK noch genügend Strom für Elisas Prozessor liefern. Das hatte sie mir heute Morgen offenbart. Mir graute schon davor. Nicht dass ich fürchtete, ohne sie nicht zurechtzukommen. Aber irgendwie hatte ich Angst vor der Einsamkeit. Angst davor, dass meine letzte handfeste Beziehung zu meiner Welt verloren ging. Auch wenn es nur eine VI auf einem Siliziumchip war.
„Kommst du, Phillip?“, rief mir Thalis von oben zu.
Ich unterbrach meine Grübelei und schloss zu den Brüdern auf.
Das Mittagessen verbrachten wir mehr oder weniger schweigend. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Es gab Brot, Oliven, und Schinken. Mittags aß man hier eher eine leichte Zwischenmahlzeit. Die Hauptmahlzeit wurde abends eingenommen.
Später teilte man sich wieder auf. Thalis und Alexios fuhren mit ihren Besuchen fort, während Gregor und ich uns wieder den Kisten widmeten.
Das Aus-, Um- und Einräumen ging deutlich schneller voran als gedacht. Vor allem da Gregor tatsächlich mithalf und sich nicht nur auf der Liege niederließ.
So verging der restliche Tag im Flug.
Als wir uns wieder in der Wohnung zum Abendessen einfanden, waren alle erschöpft.
Thalis und Alexios berichteten knapp von ihren Erlebnissen. Thalis war sehr glücklich darüber, immerhin einen ehemaligen Patienten dazu gebracht zu haben, einen Termin bei ihnen zu vereinbaren. Gleich morgen um 10 Uhr.
Passend konnten Gregor und ich dazu berichten, dass die Praxis komplett eingerichtet und bereit war, morgen offiziell wieder zu öffnen.
„Neueröffnung! Darauf sollten wir anstoßen“, meinte Helena.
Doch alle winkten einstimmig ab. Ich glaube, dass ihnen ihr Vater als mahnendes Beispiel in Erinnerung war. Gut so, wer weiß was Thalis sonst nachts wieder mit mir gemacht hätte. Wobei, vielleicht gab es ja mittlerweile auch ein eigenes Bett für mich.
Ich fragte Helena danach.
„Ja natürlich Phillip. Entschuldige, aber ich war gestern nur auf drei Ankömmlinge vorbereitet. Ich habe aber noch ein weiteres Bett besorgt. Nur könnte es etwas eng im Schlafraum werden.“
„Danke dir Helena“, antwortete ich. „Ich kann auch einfach unten in der Praxis schlafen. Da ist Platz genug.“
Alexios schüttelte den Kopf. „Das wird nicht nötig sein. Du kannst in dem kleinen Arbeitszimmer gegenüber dem Schlafraum nächtigen. Das brachen wir erst Mal nicht.
Damit war auch das geklärt.
Nach dem Essen wünschte ich eine gute Nacht und machte mich auf den Weg nach hinten.
Thalis eilte mir hinterher. Er murmelte etwas davon, mir beim Aufstellen des Betts helfen zu wollen.
Ich spürte seinen Blick in meinem Nacken während wir hintereinander den Flur entlang gingen.
Ich holte tief Luft, als ich das Zimmer betrat. Das war die Gelegenheit, auf die ich gewartet hatte, um Thalis auf letzte Nacht anzusprechen. Doch eigentlich wusste ich noch gar nicht, was ich überhaupt sagen wollte.
Das war auch egal, denn Thalis kam mir zuvor.
„Phillip, wegen gestern Nacht. Du hast gar nichts gesagt. Ähm, erinnerst du dich überhaupt noch daran?“
Ich schaute ihn an. Sein Blick war unsicher, aber hielt meinem Stand.
Vielleicht war es besser so, wenn ich tat als könnte ich mich an nichts erinnern? Aber wollte ich das? Eigentlich war die körperliche Nähe doch sehr angenehm gewesen. Beruhigend bekannt in dieser mir weitgehend fremden Welt.
Thalis blickte nun zu Boden.
„Ich habe schon ein schlechtes Gefühl deswegen. Es tut mir leid, ich hätte die Situation nicht so ausnutzen sollen.“
Nein, beschloss ich, deswegen brauchte er kein schlechtes Gefühl zu haben.
„Ist okay Thalis. Um ehrlich zu sein, habe ich es genossen.“
Ich grinste ihn an. Er blickte auf und lachte erleichtert.
„Das freut mich. Trotzdem, du warst ja total betrunken. Es war unfair von mir. Aber… du hast jederzeit Gelegenheit für eine Revanche.“
Er trat etwas näher und legte eine Hand auf meine Schulter.
Seine Hand fühlte sich warm und angenehm an. Dennoch… mir war jetzt nicht danach, mich gleich in das nächste Abenteuer zu stürzen. Ich musste erst Mal meine Gedanken und Gefühle sortieren.
Ich nahm seine Hand und schob sie sanft zurück.
„Ein andermal, Thalis. Ich bin müde heute.“
Er trat zurück und blickte mich beinahe beleidigt an.
„Ich weiß schon was los ist. Ich habe die Blicke gesehen, die Gregor und du euch die ganze Zeit zugeworfen habt.“
Anklagend fuhr er fort. „Mit ihm vergnügst du dich doch während wir weg sind!“
Bevor ich etwas erwidern konnte, hatte sich Thalis umgedreht und den Raum verlassen.
Ich rollte mit den Augen. Wenn ich eines gelernt hatte, dann dass zwischenmenschliche Beziehungen viel komplizierter wurden, wenn sexuelle Anziehung im Spiel war.
Kapitel 7
Ich stand auf der Veranda und blickte hinunter auf meine zitternden Hände. Sie waren mit Blut verschmiert. Auch meine Kleidung wies rote Spuren auf.
Eigentlich war ich Nichtraucher. Aber in diesem Moment hätte ich es mir anders überlegt, Gelegenheit vorausgesetzt.
Was chirurgische Eingriffe anging, hielten sich meine persönlichen Erfahrungen in engen Grenzen. Ich erinnerte mich noch an das eine Mal, als ich in einer Wartungsluke im ATR-Gebäude von der Leiter gefallen war. Resultat waren geprellte Rippen und ein gebrochenes Bein. Letzteres war unter lokaler Betäubung gerichtet worden. Anschließend musste ich zum Ausheilen des Bruchs und der Prellungen drei Tage weitgehend flachliegen, während Nanobots die Geweberegeneration vorantrieben.
Insgesamt keine angenehme Erfahrung – doch was sich an diesem Tag in der Praxis der drei Brüder abspielte, war freilich etwas ganz, ganz Anderes.
Der 10 Uhr-Termin war herangerückt und zwei Personen hatten sich eingefunden. Zum einen der Mann, der den Termin vereinbart hatte und gestützt von ihm sein Vater, der eigentliche Patient. Der Mann erläuterte, dass sein Vater vor einigen Tagen gestürzt sei und sich das Bein verletzt habe. Es sei aber nicht besser geworden, eher schlimmer, deshalb suchten sie ärztlichen Rat.
Der ältere Mann wurde auf die Behandlungsliege verfrachtet. Alexios und Gregor untersuchten das Bein. Ich warf nur einen flüchtigen Blick darauf. Schnell schaute ich wieder weg und schluckte die aufkeimende Übelkeit hinunter. Nein, dachte ich, Arzthelfer wäre eindeutig der falsche Beruf für mich.
Und doch war ich hier in diesem Raum, leider.
Gregor und Alexios warfen sich einen undeutbaren Blick zu. Dann wandte sich Gregor dem Patienten zu.
„Es sieht nicht gut aus. Ich fürchte wir müssen zur Amputation schreiten.“
Das blasse Gesicht des Mannes wurde noch eine Nuance fahler. Meines auch.
„Thalis, Phillip, ihr müsst mir assistieren“, fuhr Gregor fort, während er diverse diabolisch anmutende Schneidinstrumente aus einer Schublade hervorholte. „Ihr werden den Patienten festhalten müssen.“
Die darauffolgenden Minuten würde ich sehr gerne wieder vergessen. Doch vermutlich würden sie mich noch in so manchem Alptraum verfolgen.
Zwar hatte Alexios dem Patienten etwas verabreicht, was angeblich den Schmerz lindern sollte, doch den Schreien nach zu urteilen half es nicht viel. Und dann war da noch das ganze Blut. Und die Sägegeräusche.
Ich klammerte mich am Geländer der Veranda fest und entleerte meinen restlichen Mageninhalt über die Brüstung.
Vielleicht sollte ich den Kaufmann Frugi fragen, ob er nicht einen Job für mich hätte?
Die Tür ging und Thalis trat neben mich. Er grinste angesichts meines Zustands. Ihm schien das Ganze kaum etwas ausgemacht zu haben.
„Du wirst dich schon noch daran gewöhnen. Und so häufig kommt das jetzt auch nicht vor.“

Der Termin am Nachmittag verlief zu meinem Glück deutlich ruhiger und unblutiger.
„Da ist sie!“, rief Gregor, der am Fenster Ausschau gehalten hatte. „Sieht nicht so aus, als bräuchte die meine Dienste. Ich bin dann mal weg. Die reiche Tussi könnt ihr allein betütteln.“
Er verließ seinen Aussichtsposten und verschwand nach oben in die Wohnung. Ich schmunzelte. Damit einem schreienden Mann ein Bein abzusägen hatte er kein Problem. Aber mit einer hochnäsigen Aristokratin wollte er sich nicht herumschlagen.
Schritte waren im Flur zu hören und kurze Zeit später betrat besagte Dame die Praxisräume. Dicht hinter folgten zwei Männer.
Der Erste war in einen Lederharnisch gekleidet und trug ein Schwert an der Hüfte. Seine kurz geschorenen Haare und eine Narbe an der rechten Wange gaben ihm ein militärisch-grimmiges Aussehen. Vermutlich ihr Leibwächter.
Der Zweite war wohl ein Sklave. Er war eher schlank, einfach gekleidet und trug einige Habseligkeiten der Dame.
Erst jetzt fiel mir auf, dass mir die Frau bekannt vorkam. Das Gesicht hatte ich schon einmal gesehen. Ja genau, es war jene Dame in der Sänfte, der ich gestern auf meinem Rückweg zur Wohnung so unsanft begegnet war.
Alexios begrüßte die Patientin höflich und stellte sich und seinen Bruder vor, während ich mich im Hintergrund hielt.
„Sei gegrüßt werte Clodia Magni, willkommen in unserer Praxis! Was können wir, die Neffen und Nachfolger des klugen Periklis, heute für dich tun?“
Man musste es ihm lassen, Alexios konnte mit Worten umgehen.
Clodia lächelte fein. „Ganz so habe ich mir es vorgestellt. Ein junger, tatendurstiger Mediziner, der die Leere füllt, den der Tod Periklis hinterlassen hat. Und gleich zwei davon! Ich bin sicher, mit Zeiten werdet ihr die Bekanntheit eures Onkels noch übertreffen!“
„Es ehrt dich uns vorweg zu loben, doch lass uns dir unser Können beweisen, das in der Tat dem unseren Onkels in nichts nachsteht. Wir haben von ihm und den Besten des Fachs gelernt.“
Während Alexios die Dame verbal umgarnte und zu einem Stuhl führte, lächelte Thalis nur freundlich. Er hatte sichtlich Mühe, es nicht allzu aufgesetzt wirken zu lassen.
Ich hatte am Arbeitstisch Platz genommen und tat so, als sei ich intensiv mit der Patientenakte beschäftigt. Periklis war gründlich mit seinen Aufzeichnungen gewesen und hatte zu jedem Patienten seine solche Akte angelegt. Dort wurden geschilderte Symptome, getroffene Diagnosen, und verordnete Behandlungen festgehalten.
Alexios hatte mich instruiert, dass für die erste Zeit das Pflegen dieser Akten meine Hauptaufgabe sein würde – sofern ich nicht mit anpacken musste wie heute Vormittag. Das war mir nur recht, denn mit den Behandlungen wollte ich so wenig wie möglich zu tun haben.
Clodias Akte war wenig aufschlussreich. Sie schien an allem und nichts zu leiden. Mal war Schlaflosigkeit notiert, dann Kopfschmerz, und ein andermal Verdauungsbeschwerden. Sogar eine Fruchtbarkeitsstörung fand sich. Nun, das waren wohl die Folgen des ausschweifenden Lebenswandels, den die antike wie moderne High Society gerne pflegte.
Den von Alexios angebotenen Stuhl lehnte sie mit einer eleganten, aber bestimmten Handbewegung ab und ließ sich direkt auf der Liege nieder.
„Es ist der Rücken, der mich plagt, lieber Medicus. Im Liegen ist es am erträglichsten.“
Ich überflog noch einmal das Dokument. Rücken war neu. Getreu meinem Auftrag tunkte ich die Feder in das Tintenfass und fügte das Symptom in einer neuen Zeile hinzu.
Als ich wieder aufblickte hatte Clodia bereits sämtliche Hüllen oberhalb der Taille fallen gelassen. Ich sah schnell woanders hin.
Ob ich mir demnächst auch komplett entblößte, alte Greise würde ansehen müssen? Ich schüttelte mich etwas und versuchte die in einem Kopf auftauchenden Bilder zu verdrängen.
Alexios hingegen sah ganz genau hin, was ja auch seiner Funktion als Arzt entsprach. Er bat die Patientin sich auf den Bauch zu legen. Dann tastete er ihren Rücken ab und murmelte hin und wieder etwas zu Thalis. Der nickte zustimmend.
Als er seine Untersuchung abgeschlossen hatte, bat er Clodia sich wieder aufzusetzen.
„Verehrteste, die Ursache ihres Leidens ist ganz offenbar für einen gelehrten Mediziner. Ihre Körpersäfte sind im Ungleichgewicht!“
„Wahrhaftig! Dass du das sagst überzeugt mich endgültig von deinen Qualitäten, junger Alexios. Denn auch dein seliger Onkel hat das zu seiner Zeit stets betont!“
Erneut warf ich einen Blick auf die Akte. Ungleichgewicht der Körpsersäfte – was auch immer das sein sollte – fand sich dort wieder. Mit doppelter Unterstreichung.
Selbstverständlich hatten auch die Brüder den Bogen vorab studiert.
„Was kannst du mir dagegen verschreiben, lieber Medicus?“
Alexios schien eine Weile zu überlegen. Er nickte bedächtig mit dem Kopf und strich sich über den spitzen Bart.
„Du badest doch sicher regelmäßig, Clodia?“
„Versteht sich! Täglich, sofern es sich einrichten lässt, besuche ich die Trajanstherme. Periklis hat dort auch praktiziert wie du sicher weißt. Seine Massagen waren immer himmlisch!“
„Ja, genau. Wir wollen diese Tradition auch fortführen, wenn möglich. Aber was deine Rückenschmerzen angeht, so empfehle ich dir nach jedem Bad vier Runden im Park der Therme zu spazieren. Zwei im Uhrzeigersinn und zwei dagegen.“
Die Patientin schaute leicht irritiert.
„Und das soll gegen meine Rückenschmerzen helfen? Ich dachte, du würdest mir eine Salbe bereiten?“
Thalis, der das Reden bisher ganz dem älteren Bruder überlassen hatte, öffnete nun den Mund, um etwas zu entgegnen. Doch Alexios kam ihm zuvor.
„Ähm ja… natürlich auch eine Salbe. Aber das eine wirkt besser mit dem anderen zusammen. Die Bewegung fördert den Fluss der Körpersäfte.“
Er wandte sich zu Thalis um, der ihn mit leicht gerunzelter Stirn musterte.
„Ein Fläschchen Dillöl für die Dame.“
Thalis zögerte noch einen Moment, dann setzte er sich zu einem Schrank in Bewegung. Ich nahm wieder die Feder auf und notierte das Dillöl sowie die verschriebenen Spaziergänge.
„Abends vor dem Zubettgehen auf dem Rücken einreiben“, fuhr Alexios an Clodia gewandt fort, die sich mittlerweile wieder ankleidete.
Thalis kehrte mit einer kleinen Flasche zurück, die er seinem Bruder reichte. Alexios gab sie der Patientin.
„In einer Woche sehen wir uns dann wieder zur Kontrolle. Bis dahin wünschen wir dir gute Besserung!“
Clodia war sichtlich zufrieden und dankte den Brüdern für die gute Beratung.
Sie winkte ihren Sklaven heran. Dieser brachte ihr ein kleines, ledernes Säckchen. Vermutlich ihre Geldbörse.
„Wie lautet euer Honorar?“
„Heute lediglich 50 Denari für die Untersuchung und 30 für die Medizin. Den Rest brauchst du erst nach Abschluss der Behandlung zahlen.“
Mit geübten Fingern löste sie die Kordel, welche das Säckchen geschlossen hielt. Einen Moment später wechselten eine Hand voll goldene und silberne Münzen den Besitzer.
Die beiden Brüder begleiteten ihre erste Patientin noch zur Tür, bedankten sich noch einmal, und verabschiedeten sie. Clodia verließ die Praxis, vornweg ihr Leibwächter, hintendran ihr Sklave. Alexios schloss die Tür hinter ihnen.
Kaum war die Tür der Praxis geschlossen atmete Thalis hörbar aus.
„Da assistiere ich doch lieber Gregor beim Amputieren!“
Alexios schaute seinen Bruder mit irritierter Mine an.
„Was hast du denn gegen die Dame?“, frage er. „Sie war doch wirklich ausgesprochen nett. Und hübsch obendrein – obwohl dich interessiert das bei Frauen ja nicht.“
„Genau, Bruder. Davon habe ich mich auch nicht blenden lassen wie du vielleicht. Ich finde sie unsympatisch.“
„Pff!“, schnaubte Alexios. „Dann hoffe ich doch, dass du zu mindestens die 80 Denrai sympathisch findest, die sie uns als Honorar bezahlt hat.“
Thalis zuckte mit den Schultern und warf einen Blick aus dem Fenster. Clodia stieg gerade in ihre Sänfte, die zusammen mit ihren Trägern vor dem Haus gewartet hatte.
„Was sollte das überhaupt mit dem Dillöl?“, fragte er. „Das bringt doch gar nichts. Die Tusse hat Rückenschmerzen, weil sie keinen Schritt tut und sich den ganzen Tag über in ihrer Sänfte herumkutschieren lässt!“
Alex kicherte. „Ja, Bruder, das mag sein. Daher habe ich ihr ja auch mehr Bewegung verordnet. Aber wenn eine reiche Dame eine Salbe will… dann gibt man ihr eine. Und wenn man dafür 30 Denari verlangen kann, dann erst recht!“
„Schon erstaunlich. In Patrae hätten wir vielleicht ein Zehntel davon verlangen können, wenn überhaupt.“
„Genau Thalis, aber da gab es auch keine so reichen Kunden. Und wenn wir hier einen Arbeiter behandeln, verlangen wir natürlich auch nicht so viel. Die Kunst ist, immer gerade so viel zu verlangen, wie es sich der Kunde leisten kann.“
Ich schmunzelte. Das war eine ökonomische Theorie, die auch mein BWL-Professor an der Uni sofort unterzeichnet hätte. Man nannte das ‚perfekte Preisdifferenzierung‘.
Thalis wiegte den Kopf hin und her. „Ist das nicht irgendwie unmoralisch?“
„Ist es nicht im Gegensatz höchst moralisch?“, konterte Alexios lachend. „Den Reichen, die es sich leisten können, berechnet man mehr und subventioniert damit die Kosten bei den weniger gut Betuchten.“
„Tja, wenn man es so rum sieht, hast du irgendwie Recht Alex.“
Thalis ging zu einem der Schränke und holte einige Phiolen und Schalen hervor.
„Jedenfalls ist das Dillöl nun aus. Ich werde die Zeit nutzen und neues ansetzen.“
Alexios nickte und verließ die Praxis. Die Schritte aus dem Flur deuteten darauf hin, dass er nach oben ging. Vielleicht um Gregor mitzueilen, dass die ‚reiche Tussi‘ weg sei und er nun wieder herunterkommen könne.
Ich bleib währenddessen am Schreibtisch sitzen und schob Clodias Akte in die richtige Schublade. Die Sortierung war alphabetisch. A bis C fand sich auf der linken Seite des Tisches in der ersten Schublade von oben.
Thalis räusperte sich und drehte sich zu mir um. Sein Mund öffnete sich etwas, aber es dauerte noch einen Moment, bis er sich die Worte zurechtgelegt hatte.
„Phillip, du kannst mir ja dabei helfen? Das Öl zuzubereiten, meine ich. Dann lernst du wenigstens etwas Nützliches.“
Ich zuckte mit den Schultern und stand von meinem Platz hinter dem Schreibtisch auf. Wieso auch nicht. All das war um Längen besser als schreiende Patienten festzuhalten, während ihnen Gliedmaßen durchtrennt wurden.
„Aber sag Mal, was hast du denn von der reichen – und wenn es nach Alex geht, schönen – Clodia gehalten?“, frage mich Thalis. Wobei er bei Erwähnung seines Bruders die Augen verdrehte.
Ich zuckte wieder mit den Schultern.
„Also schön fand ich sie auch nicht. Und auch nicht sonderlich sympathisch. Ja, fast heuchlerisch, würde ich sagen. Wobei das vielleicht auch daran liegt, dass ich sie schon länger kenne.“
Er sah mich erstaunt an. „Wie das?“
Ich lachte und beeilte mich zu erklären, was ich gemeint hatte, indem ich ihm von meinem gestrigen Heimweg erzählte.
Thalis schnaubte und nickte mit dem Kopf.
„Das kann ich mir gut vorstellen. Und bestätigt nur das Bild, was ich mir gemacht habe.“
Er goss Öl aus einer großen Flasche in ein Mischbehältnis.
„Es ist eigentlich ganz einfach. Man füllt den Krug zu einem Drittel mit Öl, dann kommt die Dillblüte rein. So viel wie reinpasst und dass sie noch ganz vom Öl bedeckt ist. Und dann rührt und knetet man gut durch, mindesten eine Stunde lang. Dafür muss man sich die Hände mit Honig einschmieren.“
Nachdem er die Dillblüten hinzugefügt hatte, wechselten wir uns mit dem Durchmischen des Öls ab.
Leider verging die Zeit quälend langsam. Es war nicht so, dass der Prozess sonderlich anstrengend gewesen wäre. Nein, es war eine Spannung die zwischen Thalis und mir in der Luft lag.
Nach gefühlten zwei Stunden fragte ich Elisa nach der vergangenen Zeit. Es waren lediglich 27 Minuten. Seit Beginn hatten wir kein weiteres Wort gewechselt. Doch ich merkte wie Thalis mir Seitenblicke zuwarf, wenn ich die Mischung rührte.
Schließlich räusperte er sich und hielt inne. Seine Hände waren noch in das Öl getaucht, als er sich zu meiner Seite hinwandte.
„Hör Mal, Phillip… Ich muss mich bei dir entschuldigen.“
Seine Stimme klang unsicher. Ich sah ihn gespannt an.
„Ich habe dich damals überrumpelt. Und ausgenutzt, dass du betrunken warst. Man kann also nicht gerade sagen, dass wir tatsächlich etwas miteinander hatten.
Will heißen, mir steht es wirklich nicht zu mich zu beschweren, dass du und Gregor jetzt zusammen seid.“
Aha, diese Geschichte wieder. Wie konnte ich ihm am besten klarmachen, dass da nichts war zwischen Gregor und mir?
Ich machte einen Schritt auf ihn zu und legte meine rechte Hand auf seine Schulter.
„Thalis, jetzt hör du mir Mal zu. Ich weiß immer noch nicht wie du darauf kommst, aber lass mir dir sagen, dass da rein gar nichts ist zwischen mir und Gregor. Ich glaube nicht einmal, dass er etwas von mir will. Er ist nicht gerade nett zu mir, würde ich sagen.“
Thalis schaute mich mit unergründlichem Blick an. Er schwieg einen Moment, bevor er antwortete.
„Ich kenne Gregor, er ist schließlich mein Bruder. Wählerisch ist er nicht. Ob hübsche Frau oder geiler Typ, niemand ist vor ihm sicher.“
Ich musste kichern. „Heist das, du hältst mich für einen ‚geilen Typ‘?“
Er wurde etwas rot im Gesicht.
„Ich… finde dich schon… nett.“
Seine Wortwahl verstärkte mein Kichern nur, was ihn zusätzlich aus dem Konzept brachte.
Ich räusperte mich und nahm mich zusammen. Es sollte nicht wieder ein Missverständnis geben.
„Thalis“, antwortete ich ernst aber einfühlsam, „ich finde dich auch nett.“
Ich beschloss die Initiative einen Schritt weiterzuführen. Ich beugte mich zu ihm vor und gab ihm einen zarten Kuss auf den Mund.
Er war zu überrascht, um ihn zu erwidern. Doch als ich mich zurückbeugte, sah ich das Lächeln auf seinem Gesicht. Es weitete sich zu einem breiten Grinsen aus.
„Lass mich schnell die Hände vom Öl säubern, damit ich das besser erwidern kann.“
Ich trat an ihn heran und hielt ihn zurück.
„Aber wieso das Thalis?“, frage ich schelmisch grinsend. „Mit so einem Öl lässt sich doch allerlei anstellen!“
Er blickte mich verdutzt an. Dann fiel der Groschen.
„Oooh, Phillip!“, entgegnete er lustvoll. „Ich wusste ja nicht, was für ein versauter Typ du bist!“
War ich das? Eigentlich nicht. Doch ich war mir nicht sicher, was mich in diesen Minuten gepackt hatte. Ob es zu lange unterdrückte Geilheit war? Oder doch nur gewöhnlicher Wahnsinn?
Jedenfalls bewegte ich mich rückwärts auf die Untersuchungsliege zu und riss mir dabei das Hemd vom Leib.
„Oh werter Mediucs“, imitierte ich die letzte Patientin mit säuselnder Stimme, „ich habe da immer solche Schmerzen in der unteren Lendengegend. Vielleicht gibt es ja eine Salbe dagegen?!“
Ich ließ mich rückwärts auf die Liege fallen. Fast wäre ich etwas zu weit gerutscht und auf der anderen Seite wieder hinuntergefallen. Lachend trennte ich mich auch von meiner Hose.
Thalis war inzwischen nähergekommen. Er hielt seine gut geölten Hände griffbereit vor sich.
„Freilich meine Dame! Da wollen wir doch einmal schauen, ob wir etwas gegen diese Fruchtbarkeitstörung machen können!“
Meine sexuellen Erlebnisse mit Manu waren stets wunderschön und gefühlvoll gewesen – aber auch irgendwie unbeholfen, hatten wir doch beide nicht wirklich Erfahrung gehabt. Das war hier anders. Oberflächlicher, körperlicher – aber mindestens ebenso intensiv. Thalis wusste genau was er tat.
Während wir beide uns auf der Liege vergnügten verging die nächste Viertelstunde wie im Flug. Ein nicht unerheblicher Anteil des für medizinische Zwecke vorgesehen Öls fand dabei eine deutlich profanere Verwendung.
Die ganze Sache hatte nur einen Haken, den wir dank unserer übersprudelnden Libido leider übersehen hatten.
Ein knarzendes Geräusch ertönte und die Tür zum Praxisraum schwang auf.
Herein trat Alexios. Er blieb wie angewurzelt stehen und riss die Augen weit auf.
Der Anblick der sich ihm bot musste bizarr gewesen sein. Zwei nackte Körper auf der Behandlungsliege, in eindeutiger Pose umschlungen, die Haut glänzend und schimmernd vom Öl.
Eigentlich hätte ich auf der Stelle vor Scham im Boden versinken müssen. Doch stattdessen fand ich die Situation urkomisch und fing an lauthals zu lachen.
Thalis war etwas erschrockener. Er stammelte, „ähhm… es ist nur… eine Massage. Phillip hatte eine Verspannung am Rücken!“
Diese dämliche – und für jeden sehenden offensichtlich falsche – Ausrede, brachte mich nur noch heftiger zum Lachen.
Alexios senkte den Kopf und schlug beide Hände über dem Gesicht zusammen.
Es vergingen einige Sekunden, in denen sich Niemand rührte. Nur mein Lachen, das sich wieder auf ein Kichern reduzierte hatte, durchdrang die Stille.
Schließlich hob Alexios den Kopf wieder. Seine Mine war ernst, doch ein Zucken umspielte seine Mundwinkel.
„Das hier ist eine Arztpraxis und kein Bordell!“, brüllte er uns entgegen. „Stellt euch Mal vor, ein Kunde wäre hereingekommen!“
Diese sehr berechtigte Überlegung war uns leider entgangen. So wie überhaupt der Gedanke, dass wir uns in einem Raum mit nicht abgeschlossener Tür befanden.
„Was habt ihr überhaupt mit dem Öl… nein, ich will es gar nicht wissen. Macht euch sauber und zieht euch an!“
Er drehte sich um und verließ den Raum. Dabei konnte er ein mühsam unterdrücktes Lachen nicht mehr an sich halten.
„Verspannung am Rücken… ja klar. Wohl eher eine Verspannung der Peniswurzel, zu behandeln durch Rektalmassage!“
Schließlich zog er die Tür hinter sich zu.
Thalis hatte während der ganzen Szene nichts außer seinem Kopf bewegt. Auch der kleine Thalis befand sich noch immer in mir, hatte aber seine Füllkraft sehr schnell verloren. Das Öl verursachte ein schmatzendes Geräusch, als er sich von mir löste.
Thalis ließ seinen Kopf auf meine Brust sinken.
„Oh Mann, ist mir das peinlich!“
Kapitel 8
Die letzten zwei Wochen waren schneller vergangen als gedacht. Viel Freizeit und damit Zeit zum Grübeln hatte ich nicht. Denn was anfangs noch zwei, drei Patienten pro Tag waren, das wuchs schnell auf zehn an. Und schon nach dem Ende der ersten Woche war der Wartebereich eigentlich immer belegt.
Es kamen oft sogar mehr Patienten als die Brüder Zeit hatten zu behandeln. Das waren vor allem die weniger Vermögenden, die keinen festen Termin hatten, sondern nach ihrer Arbeit einen Arzt aufsuchten. Daher war die Praxis besonders am Nachmittag recht voll. Vormittags ging es etwas ruhiger zu. Hier kamen meist wohlhabendere Kunden, die keine regulären Arbeitszeiten einhalten mussten, sowie ernstere Fälle, die zu schwach zum Arbeiten waren.
Am meisten Spaß – wenn man das Wort in diesem Kontext verwenden konnte – machten mir aber die Besuche in der Therme. Die Brüder hatten es tatsächlich erreicht, wieder einen Raum in der Trajanstherme zu mieten.
Zwar hatte sich nach Periklis Ableben bereits ein anderer Arzt dort niedergelassen. Doch der hatte sich im Laufe der Zeit als unfähiger Scharlatan erwiesen und war nach Häufung von Beschwerden vor kurzem wieder gekündigt worden.
Das war ein echter Glücksfall für die Drei, denn eine Therme war der ideale Ort zur Kundenakquise. Sie war das antike Äquivalent zu einem Vergnügungsbad, nur ohne Wasserrutsche versteht sich. Der modernen Variante hinkte sie an Größe und Kapazität keinesfalls hinterher. Mit über Hunderttausend Quadratmetern Fläche fasste das Gelände mehr als tausend Besucher auf einmal.
Vor allem dank ihrer Präsenz an der Therme war die Praxis so gut besucht. Dabei hatten die drei Brüder sogar einen Vorteil gegenüber ihrem Onkel. Im Gegensatz zu Periklis konnten sie sich aufteilen und so die ganze Woche über ihre Dependance dort besetzen.
Es war Mittag als Thalis und ich an diesem Tag an der Trajanstherme eintrafen. Wir gingen durch einen der drei prächtigen Rundbögen, die den Eingang auf das Thermengelände darstellten. Der Innenhof, auf den wir als nächstes stießen, wurde auf fast seiner gesamten Fläche von einem Schwimmbecken ausgefüllt. Auf beiden Seiten war er gesäumt von Säulengängen. Noch war das Becken leer. Das würde sich in einer halben Stunde ändern, wenn das Bad am frühen Nachmittag öffnete.
An einem üblichen Tag wie diesem war ich vormittags in der Praxis und begleitete dann, nach dem schnellen, gemeinsamen Mittagsmahl, einen der Brüder zur Therme. Meistens wechselten sich Alexios und Thalis ab. Gregor war mit der Situation weniger zufrieden, da er in meiner Abwesenheit oft jene Assistenztätigkeiten übernehmen musste, um die ich mich sonst kümmerte. In die Badeanstalt wollte er aber auch nicht. Seinen Worten nach sei es erst recht unter seiner Würde, verfetten Bade-Bonzen nach ihrem ‚Sport‘ die Glieder zu massieren.
In der Tat zählten Massagen mit diversen ätherischen Ölen zu unseren Hauptaufgaben hier. Natürlich wurden auch ärztliche Konsultationen angeboten und einfache Gebrechen behandelt. Ernstere Fälle aber wurden in die eigentliche Praxis verwiesen.
In der ersten Woche hatten Alexios und Thalis mir die Grundlagen der Massage beigebracht. Alex hatte sich einen kleinen Seitenhieb nicht verkneifen können und darauf hingewiesen, dass ich mich mit Massageöl ja bereits bestens auskannte.
Seit einigen Tagen musste ich nun auch selbst mit anpacken. Einen Kunden nach dem anderen durchzuwalken war dabei deutlich anstrengender als ich es mir vorgestellt hatte.
Thalis und ich gingen den linken Säulengang entlang und betraten die mittige Haupthalle. Ein Seitenraum davon war den Ärztebrüdern zugeteilt, auf den wir nun zusteuerten. Links und rechts der Haupthalle war das Bad symmetrisch aufgebaut. Die beiden Flügel verfügten über verschiedene Abschnitte mit heißen Pools, kalten Bädern, und saunaähnlichen Räumen.
Der linke Flügel sollte den Männern vorbehalten sein, und der Rechte den Frauen. Offiziell gab es also eine Geschlechtertrennung, eingehalten wurde sie aber nicht immer.
Das Vorurteil Gregors, dass es sich bei den Badegästen um ‚verfette Bonzen‘ handelte, konnte ich zum Glück nicht bestätigen. Sicher, es gab solche Ausnahmen, aber im Allgemeinen galt eher das Gegenteil. Die meisten Römer schienen auf ihre Figur zu achten. Die Sportanlagen auf dem Gelände waren immer gut besucht.
Was mich an den Thermen jedoch am meisten faszinierte, war die Bekleidung der Badegäste. Oder besser gesagt, das Fehlen jeglicher Bekleidung. Tatsächlich waren die Besucher im Badebereich komplett nackt. Nur zum Sport trug man einen Lendenschutz.
Dank dieser Sitten boten sich mir oft genüssliche Ausblicke auf gut trainierte Körper. Und wenn ich dann noch das Vergnügen hatte, dass solch ein Adonis auf meiner Massageliege platznahm, natürlich ebenfalls nackt, dann war der Tag perfekt. Sicher war es verständlich, dass es einige Tage Eingewöhnung bedurfte, bevor ich meine ‚Arbeit‘ nicht mehr mit einem Dauerständer ausübte – zum Glück musste ich nicht nackt sein!
Bevor wir den kleinen Raum betraten, grüßten wir noch den Nachbarn zur Linken. Er öffnete auch gerade seinen Laden, ein Bekleidungsgeschäft. Aus dem Raum zur Rechten, ein Imbiss, drang bereits Bratgeruch.
Ich packte mit an und im Nu hatten wir alles für die Ankunft der ersten Besucher vorbereitet. Der Raum bot genug Platz für ein Paar Schränke, einen kleinen Tisch, und zwei Behandlungsliegen. Vor der Tür stellten wir eine Schiefertafel auf, welche die angebotenen Dienstleistungen anpries. Für einen separaten Wartebereich war der Raum zu klein, doch Alexios hatte eine Bank organsiert, auf dem man vor dem Zimmer platznehmen konnte.
Ich blickte Thalis von der Seite an. Er nahm gerade einige Materialien aus dem Schrank und bemerkte es nicht. Mein Verhältnis zu ihm war seit der Sache mit dem Öl – man hätte es fast als Versöhnungssex bezeichnen können – wieder sehr gut.
Für mein Massage-Training hatte er sich gerne als Proband für mich zum Üben zur Verfügung gestellt, völlig selbstlos versteht sich. Oft endete eine solche Trainingsmassage dann auch mit einem ‚Happy End‘ – für den Trainer wie für den Schüler. Diesmal aber mit abgeschlossener Tür.
Jedes Mal, wenn ich über uns nachdachte, kam ich zu demselben Schluss. Ich mochte Thalis gerne und süß fand ich ihn allemal, aber Liebe war nicht im Spiel. Vielleicht wäre das anders gewesen, hätte ich Ägypten nicht erlebt. Dort hatte ich meine erste echte Liebe gefunden – und verloren. Es tat immer noch ziemlich weh, wenn ich daran dachte.
Wie lange war das jetzt her? Nur gut drei Wochen, obwohl mir die Zeit hier wie drei Monate vorkam. Trotzdem, für eine ernsthafte Beziehung war ich einfach noch nicht bereit. Mit genug Zeit vielleicht. Und die hatte ich ja ausnahmsweise mal zum Überfluss. Denn dass es für mich keine Chance auf Rückkehr gab, wusste ich ja schon lange und hatte es auch mehr oder weniger akzeptiert.
Ich war mir nur nicht sicher, was Thalis erwartete? Sah er es auch so wie ich, oder versprach er sich mehr davon? Ich bemerkte durchaus den ein oder anderen Seitenblick von ihm, wenn ich gerade einen besonders gut gebauten Körper massierte. Aber wer weiß, ob er dabei eifersüchtig auf mich war, oder auf den Kunden.
Andererseits, was sollte er mehr wollen? Sicher, im Gegensatz zum alten Ägypten war Homosexualität in Rom weitgehend akzeptiert. Aber die Homo-Ehe gab es trotzdem nicht.
Ich schüttelte den Kopf, um diese Gedanken zu vertreiben. Es war schon alles okay so wie es war. Ja, den Umständen entsprechend ging es mir hier echt gut. Besser auf jeden Fall, als ich anfangs befürchtet hatte.
Hinter mir hörte ich ein Räuspern. Ich drehte mich um. Es war der Imbiss-Besitzer von nebenan.
„Das hier ist doch eine Arztpraxis, nicht wahr?“
Thalis nickte und kam ihm entgegen.
„Ja sicher, was kann ich für dich tun, lieber Nachbar?“
„Also ich habe da seit einiger Zeit diesen Fußpilz. Und am großen Zeh so ein eitriges Geschwür. Vielleicht kannst du dir das Mal ansehen?“
Ich wandte mich einem der Schränke zu und tat so, als sei ich mit etwas Anderem beschäftigt. Innerlich musste ich kichern und zugleich erleichtert Seufzen. Gut, dass ich nicht derjenige mit der ärztlichen Qualifikation im Raum war. Sollten die Brüder mich einmal dahingehend ausbilden wollen, würde ich entschieden ablehnen.

Auch der restliche Arbeitstag verlief weitgehend ereignislos. Es war kurz vor Sonnenuntergang als Thalis und ich die Therme verließen und uns auf den Heimweg machten. Das war zu Fuß ohne Probleme möglich. In etwa einer Viertelstunde hatten wir das Haus erreicht, gerade als die Sonne hinter dem Horizont verschwand.
Ich hielt auf der Veranda inne und blickte der untergegangenen Sonne nach. Ein intensives Orange-Rot tränkte den Himmel. Die Wolken waren, je nach ihrer Höhe, von rosa bis purpurnen Schattierungen durchzogen. Ein wirklich schöner Abend.
Thalis trat neben mich und legte seine Hand auf meine Schulter.
„Weißt du“, begann er, „am Anfang hatte ich wenig Hoffnung.Hoffnung. Als wir hier ankamen und ich das alles so sah wie es hier zugeht. Rauer, direkter, mehr auf die Münze bedacht als auf den Menschen. Das war anders als in unserem kleinen Städtchen, wo man fast noch Jeden kannte. Ja, ich hatte nicht recht geglaubt, dass wir hier Fuß fassen können.“
Er folgte meinem Blick in den Himmel, bevor er fortfuhr.
„Aber es scheint eben doch zu gehen. Alex hatte recht. Und schöne Sonnenuntergänge gibt es hier auch.“
Seine Augen wanderten zu mir und ich erwiderte seinen Blick.
„Danke, Phillip, dass du hier bist und uns… und mir im Besonderen, beistehst.“
Ich brach den Blickkontakt, bevor das Ganze zu romantisch wurde.
„Im Gegenteil, Thalis. Ich muss euch danken. Ohne euch wäre meine Zukunft in dieser Stadt sicher finsterer gewesen. Aber komm, lass uns reingehen. Die anderen warten sicher schon mit dem Abendessen.“
So war es auch. Helena musste geahnt haben, dass wir eintrafen, oder uns aus dem Fenster gesehen haben. Denn sie stand schon im Türrahmen als wir die Treppe hochkamen.
„Ah, da seid ihr ja endlich!“, rief sie uns gut gelaunt entgegen. „Es ist schon angerichtet. Und Frugi ist auch zu Besuch!“
Daher also die gute Laune der Dame. Sicher, man konnte sich mit dem Kaufmann gut unterhalten und sich die ein oder andere Anekdote von ihm auftischen lassen. Aber ob Helenas Freude über seinen Besuch nicht doch weiterreichende Gründe hatte? Wer weiß…
Frugi höchstselbst begrüßte uns beim Eintreten.
„Darf ich aus eurem späten Eintreffen schließen, dass ihr nach Dienstschluss selbst noch dem Badevergnügen gefrönt habt?“
Thalis schüttelte den Kopf.
„Nein, das sicher nicht, Frugi. Und wenn ich nach der Anzahl verkaufter Salben gegen Fußpilz gehe, weiß ich auch nicht, ob ich große Lust dazu hätte.“
Der Kaufmann kicherte. „Ach Thalis, es gibt nichts was einem wahren Römer das Baden verleiden könnte! Und ich verspreche dir, morgen gehe ich in die Trajanstherme und komme bei dir vorbei.“
Wir nahmen Platz auf den mir immer noch unbequemen Liegen. Tatsächlich hatte Helena sich nicht Lumpen lassen und gute Speisen aufgefahren. Als Vorspeise gab es Salat mit Eiern und Pilzen, dazu Häppchen von Fisch.
Man merkte, dass die allgemeine Stimmung besser, gelöster war als noch vor zwei Wochen. Frugi hob sein Glas, in dem der Met schwankte.
„Auf den Erfolg unseres Ärztetrios! Mögen eure Patienten geheilt werden und eure Kasse gefüllt!“
Alle stimmten unter Lachen ein und man trank einen gemeinsamen Schluck.
„Danke Frugi!“, begann Alex und wandte sich an alle. „Gut zwei Wochen praktizieren wir nun hier. Ich denke, wir haben es zur Hälfte geschafft. Zu tun haben wir fast immer. Wir müssen es nur noch hinbekommen, mehr zahlungskräftige Kunden anzuziehen. Aber ich bin zuversichtlich, dass sich das mit der Zeit ergeben wird. Die Therme ist ein prima Aushängeschild.“
Zustimmend prostete man einander zu.
Das Mahl zog sich bis nach Sonnenuntergang hin. Auch danach saß man noch einige Zeit zusammen – unter reichlichem Ausschank von Frugis Wein versteht sich. Das war auch okay, denn morgen war ausnahmsweise ein Feiertag, an dem die Praxis geschlossen bleiben sollte. Nur Alex hielt sich mit dem Wein zurück, mit der Begründung, nach dem Essen noch ein Paar Unterlagen in der Praxis fertigmachen zu wollen.
Der Kaufmann war in seinem Element. Er erzählte gerade einen Ärztewitz.
„Ein Scholastikos geht spazieren, als er seinen Hausarzt erblickt. Schnell versteckt er sich in einem Hauseingang. Sein Begleiter fragt verwirrt: ‚Was soll das, wieso versteckst du dich?‘ Er antwortet: ‚Es ist jetzt lange her, dass ich das letzte Mal krank war, und ich schäme mich vor ihm.‘“
Die Antwort auf diesen Witz war lauthalses Lachen von allen Seiten. Ich war zwar durchaus betrunken, aber witzig fand ich ihn trotzdem nicht. Nun gut, andere Zeiten andere Witze.
Irgendetwas, vermutlich war es der Wein, verleitete mich dazu auch einen Witz zum Besten zu geben. Ich räusperte mich und begann mit leicht belegter Stimme.
„Geht ein Mann zum Arzt. Der Arzt: ‚Du musst unbedingt mit dem Onanieren aufhören.‘ Der Mann fragt: ‚Wieso denn das?‘ Daraufhin der Arzt: ‚Weil ich dich sonst nicht untersuchen kann!‘“
Tatsächlich stimmten diesmal alle mit ein. Schlüpfriger Humor war auch im alten Rom sehr beliebt.
Nach der Vorlage von Frugi und mir musste nun Jeder reihum einen Witz vortragen. Gregor plädierte dafür, daraus ein Trinkspiel zu machen. Wem kein Witz mehr einfiel, der musste trinken.
„Aber es müssen Ärzte darin vorkommen!“, fügte er hinzu.
Nur Alex lehnte ab und verabschiedete sich für den Abend.
Ich konnte nicht genau sagen wie viel Zeit vergangen war, als sich die Runde auflöste. Leider waren mir keine weiteren Ärztewitze eingefallen. Dementsprechend unsicher auf den Beinen schwankte ich zu meiner Kammer und ließ mich aufs Bett fallen. Bevor ich einschlief kam mir der Gedanke, dass ich ja Elisa hätte fragen können. Ob sie wohl einen Ärztewitz gekannt hätte?

Geweckt wurde ich durch ein Pfeifen und Dröhnen in meinen Kopf. Das war nun die Strafe für meinen übermäßigen Weingenuss.
Ich öffnete ein Auge und linste Richtung Fenster. Es war noch dunkel draußen wie drinnen.
Dabei fiel mir auf, dass sich die Geräuschkulisse nur auf meinem rechten Ohr abspielte.
Kaum hatte ich diese Erkenntnis gewonnen, hörten die Geräusche abrupt auf. Stattdessen ertönte Elisas metallische Stimme. Damit war mir auch klar, dass es ein Weckruf gewesen sein sollte. Und dass sie mich mitten in der Nacht weckte, konnte nichts Gutes bedeuten.
„Alarm! Das Schloss zur Haustür wurde vor siebzehn Sekunden aufgebrochen. Wahrscheinlichkeit 87 Prozent.“
Mein Gehirn arbeitete nur langsam, einen Gedanken nach dem anderen.
87 Prozent. Das heißt die Fehlerwahrscheinlichkeit war 100 minus 17… nein 100 minus 87. Ergibt…
Ich unterbrach den Gedanken, da er völlig irrelevant war, und fuhr mit dem nächsten fort.
Ein Einbrecher. Unten an der Haustür. Was tun?
Die anderen Wecken!
Oder?
Vielleicht war er bewaffnet?
Würde er hochkommen oder wollte er die Praxis ausräumen?
„Eine zweite Tür wurde soeben aufgebrochen. Wahrscheinlichkeit des Szenarios nun bei 98 Prozent.“
Im Erdgeschoss gab es nur eine weitere Tür. Die zur Praxis.
„Wie viele Einbrecher sind es, Elisa?“
„Eine Person. Ich detektiere jedoch zwei Lebenszeichen in der unteren Etage.“
Ich richtete mich endgültig auf.
Ein Einbrecher, aber zwei Personen? Was bedeu…
„Die Geräusche deuten jetzt auf Verwendung einer Waffe hin. Es gibt einen Verletzten.“
Ich sprang auf. Einen Moment taumelte ich, ehe ich die Balance wiedergefunden hatte. Mir war noch nicht klar, was sich dort unten abspielte. Aber ich musste sofort etwas tun.
Ich riss die Tür zu meinem Zimmer auf und stürzte auf den Flur. Während ich Richtung Wohnungstür stürmte, schrie ich aus vollem Hals.
„Einbrecher! Wacht auf!“
Fieberhaft tastete ich in der Dunkelheit nach dem Riegel an der Wohnungstür. Ich hatte ihn schnell gefunden und rannte nun den kurzen Flur entlang. Ich schwang herum auf die Treppe zum Erdgeschoss.
In diesem Moment hastete eine Gestalt aus dem Praxisraum. Ihr Kopf wandte sich mir zu.
Für eine kleine Ewigkeit, die doch kaum eine Sekunde währte, starrten wir uns an. Mehr als die Umrisse der Person konnte ich nicht ausmachen. Es war zu dunkel.
Abrupt wandte sich die Gestalt um. Sie stieß die Haustür auf und rannte in die Nacht.
Ich löste mich ebenfalls aus meiner Starre.
Ich eilte die Treppe herunter und durch die offene Tür zur Praxis.
Doch weit kam ich nicht. Kaum war ich durch die Tür, rutsche ich aus und fiel auf den Rücken.
Es tat weh, aber ich spürte den Schmerz kaum. Schnell setzte ich mich wieder auf. Meine Hände griffen in etwas Glitschiges.
Scharf sog ich den Atem ein. Der Anblick, der sich mir bot, war eine Szene des Grauens.
Im fahlen Mondlicht sah ich eine Person auf dem Boden liegen. Sie hatte einen Dolch in der Brust stecken. Blut war überall auf dem Boden. Ich war darauf ausgerutscht.
Auf allen Vieren legte ich den letzten Meter zurück. Ich beugte mich über das Gesicht des Verletzten.
Mein Gott!
Es war Alex!
Fuck!
„Elisa!“ Ich schrie den Namen meiner elektronischen Begleiterin und vergaß dabei den eigentlichen Befehl. Aber sie verstand auch so.
Alex Augen wanderten zu mir. Er gab ein keuchendes Geräusch von sich.
„Die Klinge hat sein Herz durchstoßen. Ich kann keinen geeigneten Therapieansatz ermitteln.“
„Scheiße!“
„Alex! Wer hat das getan?“ Ich fasste ihn bei den Schultern, als würde es etwas helfen.
Er gab nur ein Gurgeln von sich.
Tiefer Schmerz und Traurigkeit lag in seinen Augen. Ich wusste, dass es nicht sein körperliches Leid war. Er war sich bewusst, dass er starb. Und dass seine beiden Brüder, für die er als Ältester immer Verantwortung übernommen hatte, auf sich allein gestellt sein werden.
Mein Mund zitterte und Tränen liefen über meine Wangen.
„Es tut mir so leid, Alex!“
Seine Hand hob sich langsam. Für eine Sekunde berührte sie meine Wange.
Dann fiel sie schlaff herab und seine Augen wanderten in die Unendlichkeit.
„Der Patient ist verstorben“, kommentierte Elisa überflüssigerweise.
Ich ließ mich nach hinten sinken und gab meiner Tränen freien Lauf… und den Schuldzuweisungen.
Was, wenn ich fünfzehn Sekunden früher hier unten gewesen wäre? Hätte ich das Drama verhindern können? Oder hätte es dann einfach zwei Tote gegeben?
Ich bekam kaum mit wie Thalis und Gregor den Raum betraten und einen Schrei ausstießen. Sie ließen sich neben ihrem toten Bruder zu Boden fallen. Routiniert aber mit zitternden Händen fühlte Thalis seinen Puls. Langsam sanken seine Hände zu Boden.
„Er ist tot, Gregor. Alex ist tot.“

Es war ein Feiertag an dem es nichts zu feiern gab. Gregor, Thalis, Helena, und ich lagen in der Wohnung am Esstisch. Dort stand das Frühstück und wartete darauf gegessen zu werden. Doch Niemand hatte Appetit.
Frugi hatte die Wohnung gerade wieder verlassen. Er war vorbeigekommen, sichtlich bestürzt, um den Brüdern seine Anteilnahme und alle Unterstützung die sie brauchen konnten zuzusichern.
Gregors Miene war wie versteinert, in einer Grimasse aus Schmerz. Thalis hatte viele Tränen vergossen und vergrub das Gesicht in seinen Händen.
Auch mich hatte das Erlebte ziemlich mitgenommen. Natürlich stand ich Alex nicht annährend so nah wie seine Brüder. Doch mir tat es unendlich leid, dass sie so etwas durchmachen und nach den anfänglichen Erfolgen so einen Schicksalsschlag verkraften mussten.
Außerdem machte ich mir immer noch Vorwürfe. Wieder und wieder spielte ich die Ereignisse in meinen Kopf durch. Ich hätte ihn doch retten können, wenn ich nicht so viel Wein getrunken und schneller reagiert hätte, oder?
Die großen Fragen, die allen ins Gesicht geschrieben waren, traute sich noch niemand auszusprechen. Wie würde es mit der Praxis weitergehen? Würden sie es allein schaffen, die Miete zu bezahlen?
In diesen Minuten reifte in mir ein Beschluss. Alexios Mörder musste gefunden und der gerechten Strafe zugeführt werden.
Und es lag an mir, ihn zu finden!
Leider gab es im alten Rom keine Staatsanwaltschaft und Polizei, die bei einem Mord eine Sonderkommission einrichten und ausführlich ermitteln konnte. Zwar gab es ein Gerichtssystem, doch das erforderte vom Kläger, den Angeklagten zu benennen. Und das war nun einmal nicht möglich, solange man den Mörder nicht kannte.
Und wer außer mir sollte ihn finden? Gregor und Thalis mussten sich nun mehr denn je um die Praxis kümmern. Außerdem hatte ich dank des TTEKs vielleicht den ein oder anderen ermittlungstechnischen Vorteil. Und zu guter Letzt wollte ich vermeiden, dass sie sich unnötig in Gefahr begaben.
Mein Blick wanderte zu Helena. Sie sah abwesend aus dem Fenster. Was sie wohl dachte? Wusste sie mehr als die Anderen? Bestand vielleicht ein Zusammenhang zwischen dem Tod ihres Mannes und dem Mord an Alex?
Mein Verstand arbeitete wieder klar und ungetrübt. Ich musste den Sinn hinter den Geschehnissen finden.
Also, wo anfangen?
Natürlich mit dem Sichten des Tatorts!
Ich sprang auf und verließ den Raum. Die Anderen bemerkten es kaum.
Unten angekommen atmete ich kurz durch bevor ich die Praxis betrat und wappnete mich gegen den Anblick, der sich mir dort bieten würde. Trotzdem wurde mir übel, als ich den toten Griechen auf dem Boden liegen sah. Ein unangenehmer, undefinierbarer Geruch lag in der Luft.
Ich biss mir auf die Lippe und versuchte, die Übelkeit hinunterzuschlucken. Beim Betreten des Raums machte ich einen großen Schritt über die Blutlache hinweg, auf der ich beim ersten Mal ausgerutscht war. Sie hatte sich noch etwas weiter ausgebreitet.
Die Leiche lag noch an ihrem ursprünglichen Ort. Doch man hatte bereits nach dem Bestatter geschickt, der sicher bald eintreffen würde.
Zunächst galt es die Frage zu beantworten, wieso Alex überhaupt hier unten war, als der Einbruch passierte. Er hatte zwar gesagt, dass er noch Mal in die Praxis wollte. Aber wieso war er so spät immer noch hier gewesen?
„Elisa, gib mir die Zeitlinie von meinem Eintreffen gestern Abend bis zum Einbruch.“
„Die Zeitlinie nach moderner Uhrzeit ist wie folgt. Ihr Eintreffen 19:42 Uhr. Dann Party bis 0:48 Uhr, wobei Alexios bereits um 22:16 Uhr geht. Sie sind um 0:52 Uhr eingeschlafen und der Einbruch fand um 3:10 Uhr statt.“
Ich runzelte die Stirn. „Wie kommst du denn bitte auf Party?“
„Sie nahmen gestern Abend an einem geselligen Zusammensein teil, unter Konsum von Speisen und Einnahme diverser alkoholischer Getränke.“
Normalerweise hätte mich so etwas amüsiert. Aber danach war mir jetzt nicht.
Ich überlegte. Alexios war also fast fünf Stunden hier unter gewesen, von seinem Verlassen der ‚Party‘ bis zum Einbruch. Was hatte er solange gemacht?
Ich sah mich im Raum um. Auf den ersten Blick war nichts Ungewöhnliches zu erkennen. Alle Schränke und Schubladen waren geschlossen. Die Arbeitsflächen waren sauber. Er hatte also keine Medizin zubereitet.
Mein Blick blieb am Schreibtisch hängen. Mehrere Patientenakten lagen darauf. Normalerweise räumte ich sie immer weg, wenn die Praxis schloss. Aber gestern war ich ja in der Therme gewesen.
Die Akten waren in zwei Stapeln sortiert. Fünf auf der linken Seite und drei auf der rechten Seite des Tisches. In der Mitte zwischen den beiden Stapeln lag eine aufgeschlagene Akte.
Ansonsten befanden sich auf dem Schreibtisch noch das Tintenfass, in dem die Feder steckte, sowie eine leergebrannte Öllampe. Der Stuhl, der normalerweise hinter dem Schreibtisch stand, lag umgekippt auf dem Boden.
All diese Indizien fügten sich leicht zu einem Bild zusammen. Alex war hier runtergekommen, um diese Patientenakten zu bearbeiten. Vielleicht um Notizen nachzuholen, für die er in der Hektik des Tages keine Zeit gehabt hatte.
Das offene Tintenfass und die zwei Stapel wiesen darauf hin, dass er mit seiner Arbeit nicht fertig geworden ist. Doch hätte er wohl kaum fünf Stunden für eine Hand voll Akten gebraucht. Vermutlich hatte ihn die Müdigkeit übermannt und er ist am Schreibtisch eingeschlafen.
Und die Position des Stuhls könnte bedeuten, dass ihn Alex beim Aufstehen umgekippt hatte, als der Einbrecher ihn aufschreckte.
Auch die weiteren Ereignisse konnte ich mir zusammenreimen. Alex lag einige Schritte vom Schreibtisch entfernt, näher zur Tür als zum Schreibtisch. Das heißt, er ging auf den Einbrecher zu, als dieser durch die Tür trat. Doch wieso?
Wollte er ihn konfrontieren? Verjagen? Oder ahnte er nichts Böses und dachte vielleicht sogar, es wäre Jemand wegen einem medizinischen Notfall gekommen?
Der Einbrecher jedenfalls musste seinen Dolch gezückt und Alexios in die Brust gestoßen haben, bevor er sich danach aus dem Staub machte.
Ich kniete mich neben die Leiche. Der unangenehme Geruch wurde intensiver und ich ging dazu über durch den Mund zu atmen.
Neben der tödlichen Verletzung an der Brust erkannte ich noch eine Schnittwunde am rechten Arm. Alex hatte sich also gewehrt, als der Unbekannte mit dem Dolch auf ihn losging. Freilich wenig erfolgreich, hatte er doch selbst keine Waffe zur Verfügung gehabt.
Ich besah mir den Dolch näher, der noch immer im Oberkörper des Toten steckte. Die Klinge war, wie nicht anders zu erwarten, aus Metall. Der Griff war aus Holz. Der Übergang zwischen den Materialien war sauber gefertigt. Soweit ich es beurteilen konnte, handelte es sich um eine gute Handwerksarbeit.
Ansonsten war nichts Besonderes am Griff zu erkennen. Die Klinge konnte ich jedoch nicht näher betrachten, solange sie noch in Alexios Brust steckte. Ich hielt den Kopf zur Seite weg, um noch einmal tief Luft zu holen. Dann streckte ich meine Hand aus, bereit den Dolch herauszuziehen.
Doch im letzten Moment hielt ich inne – was war eigentlich mit den Fingerabdrücken?
„Elisa, kannst du Fingerabrücke von dem Griff des Dolchs nehmen?“
„Das TTEK ist kein kriminaltechnisches Labor, Dr. Marten. Eine Rekonstruktion der Abdrücke aus den Sensordaten sollte aber möglich sein. Fahren Sie mit dem rechten Armteil dicht über der Oberfläche des Gegenstandes entlang.“
Kriminallabor hin oder her, es ging also. Ich ertappte mich bei einem Schmunzeln, das sich in meinem Mundwinkel breit gemacht hatte. Es wurde solgleich durch ein ungutes Gefühl von Schuld ersetzt.
Erschreckend – auf irgendeiner perversen Weise machte mir dieser Ermittlungsscheiß auch noch Spaß. Ich schüttelte den Kopf und vergewärtigte mich wieder des toten Menschen im Raum. Ernster ging es wohl kaum, Phillip!
Ich streckte meinen rechten Arm aus und tat wie von Elisa angefordert. Die Prozedur wiederholte ich für jede Seite des Griffs.
Ich wartete einige Sekunden, aber nichts tat sich. Nun gut, Nachfragen wieso es solange dauert würde es auch nicht schneller machen. Elisa würde sich melden, wenn sie mit der Berechnung durch war.
Die Zwischenzeit nutzte ich, um den Dolch nun tatsächlich herauszuziehen. Dabei entstand ein widerlich schmatzendes Geräusch. Auch jetzt war von der Klinge nicht viel zu sehen, denn sie war vollständig mit Blut bedeckt.
Ich kämpfte die erneut aufkeimende Übelkeit hinunter und stand auf. In wenigen Schritten war ich bei der Arbeitsfläche, auf der die Öle, Tinkturen, und anderen Medikamente zubereitet wurden. Wie immer stand hier eine Schale mit Wasser. Ich tunkte den Dolch hinein und wusch das Blut ab.
Nun konnte ich die Klinge besser betrachten. Auch sie schien solide gefertigt, wies aber keine Besonderheiten auf. Ich drehte den Dolch um die eigene Achse. Plötzlich fiel mir auf der mir nun zugewandten Seite eine Unebenheit ins Auge. Ich sah genauer hin.
Es war eine Gravur. Sie bestand aus drei Buchstaben: M I I
Das war eine römische Zahl. In unserem Dezimalsystem war es die 1002. Doch was sollte sie darstellen? Eine Jahreszahl konnte es nicht sein, wir befanden uns ja erst im Jahre 954 nach römischer Zeitrechnung. Vielleicht war es eine Art Seriennummer, die angab, dass es sich um den eintausendzweiten Dolch dieses Typs handelte?
Mir fiel allerdings nicht ein, wie mir diese Info weiterhelfen könnte. Einen Hinweis auf den Hersteller der Waffe gab es nicht.
Elisa meldete sich endlich.
„Es konnten Fingerabdrücke von mindestens zwei verschiedenen Händen registriert werden. Darunter eine linke Hand und eine rechte Hand. Ich habe die Abdrücke für spätere Vergleiche gespeichert.“
Zwei Hände? Ich schloss meine rechte Hand um den Griff. Sie umfasste ihn völlig. Es war also nicht möglich gleichzeitig mit beiden Händen Abdrücke auf dem Griff zu hinterlassen. Entweder der Mörder hatte den Dolch abwechselnd mit beiden Händen gehalten, oder die Abdrücke stammten von mehr als einer Person.
In letzterem Fall war die naheliegendste Person natürlich Alexios. Das sollte sich leicht herausfinden lassen. Ich ging wieder zu dem Toten hinüber. Seine Hände waren halb geschlossen. So konnte ich sie nicht abscannen.
Ich seufzte und überwand mich, die toten Hände zu öffnen. Ein Schauder lief mir den Rücken hinunter, als ich die kalten und schon etwas erstarrten Finger berührte. Als es geschafft war, fuhr ich mit dem rechten Armteil langsam über die Fingerkuppen.
„Vergleiche die gespeicherten Abrücke mit diesen Fingern, Elisa.“
Diesmal dauerte es nicht ganz so lang, bis ich eine Antwort erhielt.
„Ich stelle eine partielle Übereinstimmung fest. Die Finger passen zu den gespeicherten Abdrücken einer rechten Hand.“
Aha. Hatte Alexios also den Dolch umfasst, als er sich bereits in seiner Brust befand? Gut möglich.
Ich stellte die Szene nach. Den Dolch hielt ich vor mich und umfasste ihn mit der rechten Hand, wobei die Klinge Richtung meiner Brust zeigte.
Logisch, in dieser Position zeigte mein Daumen in Richtung des Knaufs. Hielt ich den Dolch anders herum, also so wie ihn der Angreifer halten musste, zeigte mein Daumen in Richtung der Klinge.
Ich fragte Elisa nach der Orientierung der auf dem Dolch gefundenen Abdrücke. Ohne Zögern bestätigte sie mir, dass die rechte Hand zum Dolch-Knauf und die linke Hand zur Dolchspitze ausgerichtet war.
Alexios hatte den Dolch also tatsächlich mit der rechten Hand umfasst, nachdem der Angreifer ihn in seine Brust gestoßen hatte. Wirklich weiter half mir das aber nicht.
Der womöglich interessantere Schluss war, dass sein Mörder Linkshänder gewesen sein musste. Denn der andere Abdruck konnte eigentlich nur von dem Unbekannten stammen. Und es war der Abdruck einer linken Hand.
Oder hatte er Handschuhe getragen? Ich versuchte mich an die kurze Begegnung im Flur zu erinnern.
Nein, ich konnte es unmöglich sagen. Mehr als eine dunkle Silhouette hatte ich im Mondlicht nicht erkennen können.
Dennoch kam ich zu dem Schluss, dass er wohl keine Handschuhe anhatte. Zum einen musste er sich ja um Fingerabdrücke in diesem Jahrtausend noch keine Sorgen machen. Und zum anderen wären Handschuhe ihm beim Knacken des Schlosses nur hinderlich gewesen.
Also war der Mörder Linkshänder. Leider befürchtete ich, dass dadurch der Kreis der Verdächtigen nicht genug eingeengt wurde.
Apropos Verdächtige. Wer kam da überhaupt in Frage? Und was war das Tatmotiv?
Bevor ich mir darüber Gedanken machen konnte, klopfte es an der Praxistür.
„Hier ist der Bestatter.“
Schnell versteckte ich den Dolch in der untersten Schublade des Kräuterschranks, bevor ich dem Mann die Tür öffnete. So viel ich auch über den Beruf des antiken Arztes und besonders des Chirurgen geklagt hatte – Bestatter war schlimmer.

Es war bereits kurz vor Sonnenuntergang als die kleine Prozession die Standmauer durchquerte. Alexios war aufgebahrt, getragen von den zwei verbliebenen Brüdern. Thalis, der voran ging, richtete den Blick starr auf den Boden vor ihm. Gregor schritt gleichsam stumm hinterher. Links und rechts der Bahre gingen eine Handvoll Leute. Helena, Frugi, und einige wenige andere, mir unbekannte Freunde der Familie.
Wir ließen den Trubel der Hauptstraße hinter uns und erreichten nach wenigen Minuten das Grab, in dem Periklis bestattet war. Gleich daneben sollte auch Alex seine letzte Ruhe finden. Der Bestatter und sein Gehilfe machten sich bereits daran, die Grube auszuheben.
Als sie fertig waren, war die Sonne endgültig hinter dem Horizont verschwunden. Ich zitterte etwas, wobei mir unklar war, ob es am Anlass oder der einsetzenden Kälte lag.
Man hatte sich um den Leichnam versammelt und Thalis, als nun Ältester, hielt eine kurze Trauerrede. Er erwähnte ihre Kindheit, ihre guten und schlechten Erlebnisse in der Heimat, die Hoffnungen mit dem Umzug nach Rom. Er betonte, welch großen Anteil Alexios an ihren Erfolgen hatte. Dass er es war, der ihnen den Mut gab, das Wagnis eines Neuanfangs einzugehen. Und dass er, der große Bruder, oft wie ein Vater für ihn gewesen sei.
Merkwürdigerweise erfüllte mich Thalis Rede nicht nur mit Trauer, sondern auch mit Bewunderung. Darüber dass er, obwohl ihn der Verlust von allen am meisten mitnahm, solch klare und gefasste Worte fand.
Ob ich das auch schaffen würde, bei einem Trauerfall in meiner Familie? Ob sie mich daheim vielleicht schon für Tod erklärt hatten und es eine Trauerfeier für mich gegeben hatte? Ich schüttelte den Gedanken ab und konzentrierte mich auf die Zeremonie.
Thalis trat nun an den Toten heran. Er gab ihm einen Kuss und schob ihm etwas in den Mund.
„Eine Münze, als Fährgeld für den Totenfluss. Ist griechische Tradition“, flüsterte mir Frugi ins Ohr, der zurecht annahm, dass ich mit dem Vorgehen nichts anfangen konnte.
Anschließend wurde der Leichnam in das ausgehobene Grab hinabgelassen. Im Schein einiger Öllampen begann das Schaufeln.
Ich entfernte mich einige Schritte von der kleinen Gesellschaft. Die kühle Nachtluft, die ich tief einsog, schärfte meine Gedanken. Ich ging noch einmal durch, was ich bisher über den Mord herausgefunden hatte.
Während der konkrete Tatablauf ziemlich klar war, galt es immer noch die Verdächtigen einzugrenzen. Und der erste Schritt dazu könnte das Tatmotiv sein.
Was lag am nächsten? Ein Raubüberfall natürlich. Der Täter wollte in die Praxisräume einbrechen, um etwas zu stehlen.
Ich ging das Inventar im Geiste durch. Zwar waren einige der Salben, Öle, und auch Zutaten, durchaus wertvoll. Allerdings glaubte ich kaum, dass ein gewöhnlicher Dieb daran Interesse hätte.
Die Einnahmen der Praxis in Form von harten Münzen lägen da näher. Auch hier wäre der Dieb leer ausgegangen, denn ihren Verdienst sammelten die Brüder in einer kleinen Truhe, die sie abends stets mit in die Wohnung nahmen. Auf der anderen Seite – woher sollte ein Dieb das wissen? Die Chance, dass es etwas zu holen gab, war ja da.
Ich überlegte, wer in diesem Szenario als Verdächtiger in Frage kam. Leider so ziemlich jeder Halunke in der Stadt, der das Arztschild an der Tür entziffern konnte.
Aber vielleicht war es auch gar kein Raubüberfall.
Was sprach dagegen?
Ich überlegte und mir fiel spontan der Dolch ein, der als Mordwaffe gedient hatte. Er war von guter Qualität und vermutlich außerhalb dessen, was sich ein einfacher Mann hätte leisten können.
Ich schüttelte den Kopf. Der Gedankengang machte keinen Sinn. Wenn es sich um einen Dieb handelte, so konnte der Dolch genauso gut Beute aus einem früheren Raubzug sein.
Was passte noch nicht?
Nun, da wäre natürlich die Tatsache, dass nichts gestohlen wurde. Was aber nicht viel sagt, schließlich wurde der Täter durch Alex Anwesenheit gestört.
Ich erinnerte mich daran zurück, wie ich nachts in den Raum gestürmt war. Ein kurzer Schauder lief mir über den Rücken. Nur das Mondlicht hatte die Szene erhellt. Die Öllampe war also zur Mordzeit bereits erloschen.
Was wiederrum hieß, dass ein potenzieller Dieb von außen gar nicht erkennen konnte, dass noch Jemand in der Praxis war. Die Begegnung hätte also den Eindringling mindestens ebenso überrascht wie den schlafenden Arzt.
Doch wieso dann überhaupt der Mord? Wieso machte der Dieb nicht auf dem Absatz kehrt, als er seinen Irrtum erkannte?
Vielleicht, um keinen Zeugen zu hinterlassen? Vielleicht aus Panik?
Ich seufzte. Es gab zu viele offene Fragen, auf die ich weder eine Antwort kannte, noch wusste wie ich eine hätte finden sollen.
Also versuchte ich einen anderen Ansatz.
Angenommen es war kein Raubüberfall, was hätte es sonst sein können?
Die einzige Alternative, die mir einfiel, war dass es ein gezieltes Attentat war. Entweder auf Alexios im Speziellen, oder die drei Brüder im Allgemeinen.
Doch woher wusste der Mörder, dass Jemand in dieser Nacht in der Praxis sein würde?
Natürlich hätte man den Schein der Öllampe durch das Fenster gesehen.
Ich warf einen Blick zurück auf die Grabstelle, die ebenfalls von den kleinen Öllampen erhellt wurde. Ich kannte diese Lampen bereits und wusste, dass sie ungefähr drei Stunden hielten, bevor man Öl nachfüllen musste. Angenommen also, Alexios hätte zu Beginn seiner Nachtsitzung die Lampe aufgefüllt, so wäre sie zwei Stunden vor dem Einbruch erloschen.
Hatte der Mörder also solange in der Nähe gewartet? Das ergab keinen Sinn für mich. Wenn er sichergehen wollte, das Opfer anzutreffen, so wäre er doch bei scheinender Lampe eingedrungen.
Oder wollte er sein Opfer im Schlaf überraschen? Auch das ergab keinen Sinn. Zum einen war der Eindringling nicht besonders leise vorgegangen. Und zum anderen, woher hätte er wissen sollen, dass Alexios am Schreibtisch eingeschlafen war, anstatt die Lampe zu löschen und nach oben zu gehen?
Ich seufzte erneut. Auch dieses Szenario brachte mich dem möglichen Täter nicht wirklich näher. Zumal auch die Frage nach dem Motiv eines gezielten Attentats völlig offen war. Ein unzufriedener Patient? Ein verärgerter Konkurrent? Womöglich ein Zusammenhang mit Periklis Tod?
Ich fuhr mir mit den Händen über das Gesicht.
Nein, so einfach würde es nicht werden.
Ich zuckte zusammen, als mir Jemand von hinten eine Hand auf die Schulter legte. Es war Thalis.
„Kommst du, Phillip? Wir gehen zurück zur Wohnung.“
Seine Stimme klang matt und gebrochen. Die Contenance, die er zuvor in seiner Ansprache aufgebracht hatte, war verfolgen.
Ich nickte und folge ihm. Er ging neben mir und hakte seinen Arm unter meinen.
„Phillip, wir… ich brauche deine Unterstützung jetzt mehr denn je. Du hilfst uns doch, oder?“
Ich blickte ihn von der Seite her an. Er hielt meinem Blick nicht stand und sah auf die Straße herab.
Ich war mir nicht sicher, was er genau meinte. Unterstützung in der Praxis? Oder eher auf persönlicher, emotionaler Ebene? Vielleicht auch beides.
Nun, klar, ich würde ihn und Gregor unterstützen wo ich konnte.

Es war bereits nach zehn Uhr abends, als sich die kleine Trauergesellschaft aufgelöst hatte und wir in die Wohnung zurückgekehrt waren. Während die Anderen erschöpft die Treppen erklommen, blieb ich unten zurück. Sicher hatte noch Niemand die Ordnung in der Praxis wiederhergestellt.
Und tatsächlich, es war alles noch so wie ich es am späten Nachmittag hinterlassen hatte, als der Bestatter kam. Insbesondere die Blutlache, nun schon gut eingetrocknet aber immer noch übelriechend, war noch da.
Ich zuckte mit den Schultern und überwand mich nach Lappen und Eimer zu greifen. Einer musste es ja tun.
Eine Viertelstunde später waren die Räume wieder in Ordnung gebracht. Es konnte also morgen ein neuer Tag beginnen und die Praxis wieder geöffnet werden. Als wäre nichts passiert – so jedenfalls würde es auf einen Außenstehenden wirken. Doch die Eingeweihten wussten, dass es nicht mehr so sein würde wie am Tag zuvor.
Ich überlegte kurz. Ja, vermutlich würden die Beiden die Dependance in der Therme aufgeben müssen.
Mein Blick fiel auf den Schreibtisch, wo noch die Akten auf den zwei Stapeln lagen, an denen Alexios vor seinem Tod gearbeitet hatte. Ich trat näher, um sie zurück in den Schrank zu sortieren.
Ich warf einen Blick auf die Akte in der Mitte und schlug sie auf. Es war die Akte eines gewissen Tullius Varus.
Nach Durchsicht der Notizen fiel mir auf, dass es der ältere Mann war, dem das Bein amputiert wurde. Ein Schauder lief mir über Nacken, als die Erinnerung daran hochkam. Zum Glück für den Patienten schien die Wunde gut verheilt zu sein.
Ich blätterte auch die anderen Akten durch. Nur bei einer weiteren Akte erkannte ich den Patienten. Clodia, die reiche Dame, die wieder ein kleines Gebrechen vorgebracht und eine teure Tinktur verschieben bekam.
Ich blickte hinüber zu dem Schrank, in dem alle weiteren Akten einsortiert waren. Falls es sich bei dem Mörder um einen Patienten oder Angehörigen handelte, dann fand sich hier vielleicht ein Hinweis darauf.
Ich seufzte, wie schon zu häufig an diesem Tag.
Also gut, es galt alle Akten zu sichten.
Einige Stunden später, es musste schon gut nach Mitternacht sein, schob ich die letzte Akte zurück in den Schrank. Ich hatte versucht, Patienten zu finden, deren Behandlung besonders erfolglos oder tragisch verlaufen war.
Leider, oder besser gesagt zum Glück, war das kaum der Fall gewesen. Nur bei einer Akte hatte ich genauer hingesehen. Eine junge Frau Namens Minna, die wegen eines Magenproblems in Behandlung war. Einige Tage später war sie verstorben. Alexios Notiz dazu ließ erkennen, dass er darin keinen Zusammenhang gesehen hatte, ihr Ehemann aber sehr wohl.
Es war nicht viel. Aber vielleicht eine Spur, der es lohnte nachzugehen.
Ich ließ meinen Kopf erschöpft auf den Tisch sinken – schrak aber kurz darauf wieder hoch, als Elisas Stimme in meinem Ohr ertönte.
„Dr. Marten. Ich möchte Sie davor warnen, nach dem Durchsehen von Akten an einem Schreibtisch, nach Mitternacht und im Schein einer bald erlöschenden Öllampe, einzuschlafen – eine Ereignisfolge, die mit dem Ableben der letzten Person an diesem Schreibtisch endete.“
Nun, ich war zwar nicht abergläubisch, aber der Gedanke war nicht ganz von der Hand zu weisen. Ich löschte also die Öllampe und ging nach oben.
Kapitel 9
Die nächste Woche verging schneller als gedacht. Alle stürzten sich in die Arbeit, um möglichst wenig über das Vergangene nachzudenken – und auch deshalb, weil ihnen gar keine andere Wahl blieb, wollten sie weiterhin in Rom bestehen.
Wie vermutet wurde die Trajanstherme aufgegeben und die beiden Brüder konzentrierten sich ganz auf die eigentliche Praxis. Auch ich hatte mehr zu tun denn je. Thalis übernahm viele der Aufgaben, die Alexios zuvor innehatte. Das wiederrum hieß, dass einiges um was sich Thalis zuvor gekümmert hatte, nun mir zufiel. Das betraf unter anderem den Einkauf von Verbrauchsmaterialien.
Außerdem hatte mich Thalis dazu überredet, Hausbesuche durchzuführen. Allein.
Nein, meine ursprüngliche Haltung mich nicht als Arzt zu betätigen, stand noch. Aber es sollten nur Kontrollbesuche sein.
„Hingehen, Hallo sagen, nach dem Befinden fragen, und selbiges an mich berichten“, hatte es Thalis zusammengefasst. „Denkbar simpel!“
Ich hatte entgegnet, dass wenn etwas nicht in Ordnung sei, der oder die Betroffene schon von alleine vorstellig werden, oder Jemanden schicken würde. Doch Gregor und Thalis überzeugten mich, dass es nun einmal das sei, was wohlhabende Kunden erwarteten – und auch honorierten.
Somit kamen meine Ermittlungen zu Alexios Tod eher schleppend voran. Am Tag zuvor jedoch hatte ich meinen täglichen Gang zum Markt etwas ausgedehnt und Minnas Ehemann einen Besuch abgestattet.
Oder es zu mindestens versucht. Die Wohnung war leer und ein Schild „zu vermieten“ war an der Tür angebracht. Die Nachbarn sagten einstimmig aus, dass Minnas Ehemann bereits zwei Tage nach ihrem Tod aus Rom abgereist war. Er war Legionär und seine Einheit wurde in den nördlichen Teil des Reichs entsandt.
Da der Mord erst einige Tage danach geschah, gab ich dieses Szenario erst einmal auf. Motiv vorhanden, aber keine Gelegenheit.
Daher hatte ich beschlossen, einen ganz anderen Ansatz zu verfolgen. Und zwar, den Tod Periklis endlich restlos aufzuklären. Falls es eine Verbindung zwischen den beiden Tragödien gab, würde ich sie aufdecken. Und falls nicht, so käme ich wenigstens per Ausschlussverfahren dem tatsächlichen Mordmotiv näher.
Immerhin hatte ich im Falle Periklis zwei konkrete Ansatzpunkte für weitere Ermittlungen. Die gute Helena und die heimliche Geliebte Iulia.
Eigentlich hätte ich mittlerweile auf dem Weg zum Markt sein sollen. Anstatt mich beim Verlassen der Praxis nach links zur Haustür zu wenden, hatte ich jedoch rechts die Treppe nach oben genommen.
Helena fand ich in der Küche. Dort saß sie und strickte gerade an einem Kleidungsstück. Vielleicht ein Handschuh, oder eine Mütze – meine Erfahrung auf dem Gebiet war mehr als dürftig. Selbst meine Großmutter hatte nie gestrickt. Schade eigentlich.
Helena sah überrascht auf, als ich die Küche betrat.
„Phillip, du hier? Was kann ich für dich tun?“
Sie ließ das Strickzeug sinken und legte die Stirn in Falten.
„Ich hoffe, keine schlechten Neuigkeiten?“, fuhr sie fort.
„Nein nein, das nicht“, beruhigte ich sie. „Dennoch, es gibt etwas über das wir reden müssen.“
„Sicher, Phillip, nur zu. Aber nicht in der Küche.“
Sie nahm mich beim Arm und zog mich unbedarft ins Esszimmer. Ich glaubte nicht, dass sie ahnte, über was ich mit ihr sprechen wollte. Und ich war selbst nicht mehr so sicher, dass es eine gute Idee war.
Damals, als ich von der Periklis Affäre erfahren hatte, entschieden sich die Brüder bewusst dagegen, Helena zur Rede zu stellen. Insbesondere Alexios hatte nichts davon gehalten.
Diesmal hatte ich Thalis und Gregor von meinem Plan nichts erzählt. Und das war auch besser so. Sollte etwas schiefgehen, so konnte ich die Schuld auf mich allein nehmen.
Helena ließ sich auf einer der Liegen nieder und bedeute mir, ebenfalls Platz zu nehmen. Das tat ich auch. Sie blickte mich auffordernd an.
Ich räusperte mich und nahm meinen Mut zusammen. Mir erschien es am besten, direkt in medias res zu gehen – also gleich zur Sache zu kommen.
„Helena, es geht um Periklis. Du weißt, dass er vor seinem Tod eine Affäre hatte?“
Sie sah mich einen kurzen Moment ausdruckslos an. Lediglich ihre Augenwinkel zuckten leicht, als ihr Blick mich taxierte. Dann verfinsterte sich ihre Miene etwas. Ihre Stimme klang verärgert, als sie zu sprechen begann.
„Was soll das! Wieso sprichst du so über meinen verstorbenen Mann?“
Trotz meiner beschränkten Menschenkenntnis versuchte ich ihre Reaktion genau zu interpretieren. Verwunderung lag darin, ja auch Verärgerung – aber keine Überraschung.
Ich antwortete so ruhig wie möglich.
„Es ist ganz einfach, Helena. Ich versuche dahinter zu kommen, was genau passiert ist. Zwei Tode haben dich und die Deinen schon heimgesucht.“ Meine Stimme wurde dramatischer. „Was wenn es eine Verbindung gibt? Was wenn das nicht das Ende war?“
Wieder ruhiger fuhr ich fort. „Und die Geschichte darüber, dass Periklis beim Besuch einer Patientin so mir nichts dir nichts über das Balkongeländer gestolpert ist, glauben wir doch beide nicht, oder?“
Während ich sprach, hatte ich mich vorgebeugt und sah Helena direkt in die Augen. Sie erwiderte meinen Blick und hielt ihm stand.
Wie lange wir uns gegenseitig anstarrten, konnte ich nicht so recht sagen. Nach einer Weile aber brach sie den Blickkontakt. Ihre Augen wanderten Richtung Fenster. Auch ihre Gesichtszüge entspannten sich etwas.
Nach einem weiteren Moment der Stille begann sie zu sprechen.
„Ich bin nicht naiv, Phillip. Natürlich glaube ich diese Geschichte nicht.“
Sie blickte wieder zu mir und fuhr mit resignierender Stimme fort.
„Aber was hätte ich denn tun sollen? Überall meine Nase hereinstecken und neugierige Fragen stellen? Und damit ganz sicher Leute verärgern, die man besser nicht verärgern sollte?“
„Was meinst du für Leute? Hast du Jemanden im Verdacht?“, hakte ich nach.
Sie schüttelte den Kopf.
„Ich habe nicht den leisesten Schimmer. Aber um deine ursprüngliche Frage zu beantworten, ja mir sind die Affären meines Mannes nicht entgangen. Auch wenn er sicher dachte, ich hätte keine Ahnung.“
Also stimmte es. Iulia war Periklis heimliche Geliebte gewesen. Aber Moment Mal – Helena sprach von Affären im Plural. Hatte der gute Periklis gar mehrere Eisen im Feuer gehabt?
Ich fragte nach.
„Ja, diese Iulia war zwar die Letzte, aber gewiss nicht die Erste“, klärte sie mich auf. „Und ob sie zu ihren Zeiten die Einzige war, oder ob sie sich diese zweifelhafte Ehre noch mit anderen Nebenbuhlerinnen teilen musste… nun ja, Buch geführt habe ich nicht.“
Mir ging das Szenario wieder durch den Kopf, nach dem Helena die beiden in Flagranti erwischte und Periklis auf seiner Flucht über das Geländer stolperte.
„Hast du ihn jemals zur Rede gestellt?“, fragte ich.
Ein zynisches Lachen verließ ihre Lippen, bevor sie fortfuhr.
„Wozu? Ich wollte keine Scheidung. Wohin hätte ich danach auch gehen sollen? Außerdem… was Periklis sich erlaubte, nahm ich auch für mich in Anspruch.“
Den letzten Satz sprach sie mit einem subtilen Lächeln.
Ich rollte innerlich mit den Augen. Helena hatte also ihrerseits eine Affäre gehabt, quasi als Vergeltung für Periklis Fremdgänge? Wenn ich in die Zukunft zurückkehren könnte, hätte sich daraus glatt ein Drehbuch für eine Telenovela schreiben lassen.
Helena atmete hörbar aus und stand auf.
„Jetzt weißt du was ich weiß. Mach damit was du denkst, aber nimm dich in Acht. Wer auch immer hinter dem Tod meines Mannes steckt, sollte besser nicht herausfinden, dass Jemand herumschnüffelt. Wer bereit ist, einen Mord zu begehen, der schreckt auch vor einem Zweiten nicht zurück.“
Nach dem Verkünden dieser großen Weisheit ging sie wieder in die Küche. Ich blieb auf der Liege zurück und ließ unsere Unterhaltung Revue passieren.
War ich nun schlauer als zuvor?
Nun, der Verdacht bezüglich der Affäre hatte sich bestätigt. Es kam sogar heraus, dass es mehrere Affären gab. Vielleicht sogar gleichzeitig.
Aber brachte mich das irgendwie weiter?
Eine Verbindung zwischen den beiden Todesfällen war nicht auszumachen. Neue Motive oder Täter hatten sich auch nicht ergeben.
Und Helenas Rolle in der Sache?
Es klang, als hätte sie sich mit den Affären ihres Mannes abgefunden. Und sie hatte sicher mit am meisten verloren durch seinen Tod. Ich glaubte also eher nicht, dass sie direkt involviert war. Doch sicher wusste ich es nicht.
Machte es denn wirklich Sinn, weiter nachzuforschen? Ich hatte es mir irgendwie einfacher vorgestellt, der Sache auf den Grund zu kommen.
Ich fuhr mir mit den Händen über das Gesicht.
Nein, jetzt aufzugeben kam nicht in Frage!
Es blieb nichts anders übrig, als zu Versuchen weitere Puzzleteile zu sammeln.
Eine Spur hatte ich ja noch. Iulia.

Die Trajansmärkte waren belebt wie immer als ich dort eintraf. Neben der Tajanstherme und dem Trajansforum waren sie ein weiteres der unter dem gleichnamigen Kaiser vor gut fünfzig Jahren entstandenen Bauwerke.
Am ehesten ließen sich die Trajansmärkte mit einem modernen Einkaufszentrum vergleichen. Anstelle einiger weniger großer Märkte gab es jedoch eine Vielzahl an kleinen Geschäften.
Der imposante mehrstöckige Komplex formte einen Halbkreis, der zur Straße hin geöffnet war. Der so entstehende Vorhof war mit Marmor ausgekleidet und mit Säulen verziert. Auf ihm befanden sich zahlreiche Marktstände und Buden, die vornehmlich Lebensmittel verkauften. Es waren Bauern aus der Region, die hier ihre Erzeugnisse an den Bürger brachten.
Im Gebäude selbst wurde unter anderem mit Wein, Gewürzen, und Öl gehandelt. Letzteres stand auch auf meiner Einkaufsliste. Doch bevor ich mich an die Besorgungen machte, würde ich einen kleinen Abstecher einlegen.
Ich ging an den Trajansmärkten vorbei und bog rechts dahinter in eine kleine Gasse ein. Nach nur wenigen Schritten hatte ich den gesuchten Eingang gefunden. Das Schild machte klar, dass es sich um das Hotel zur klingenden Münze handelte. Der wenig originelle Name war wohl im Hinblick auf die Nähe zu den Märkten gewählt. Hier sollte nun, wenn man der Aussage ihrer ehemaligen Nachbarin glauben konnte, Periklis letzte Geliebte arbeiten.
Dabei musste man den Begriff ‚Hotel‘ vorsichtig interpretieren. Absteige traf es wohl besser. Generell war das Übernachten in Hotels eher einer Sache der einfachen Leute wie Matrosen, Maultiertreiber, und Wanderarbeiter. Die wohlhabenderen Schichten kamen nach Möglichkeit bei Verwandten und Freunden unter.
Ich trat auf die Eingangstüre zu. Ein Graffiti am Türrahmen fiel mir ins Auge: „Der Wein hier schmeckt wie Pferdepisse!“
Ich war nicht sicher, was mir bedenklicher vorkam. Dass der Wirt sich noch nicht die Mühe gemacht hatte den Spruch zu entfernen, oder dass der Verfasser anscheinend wusste wie Pferdepisse schmeckte.
Ich atmete noch einmal tief durch, bevor ich die Tür öffnete.
Ich trat in einen langen Gastraum, der sich über einen Großteil des Erdgeschosses erstreckte. Ein gutes Duzend Tische standen im Halbdunkel des Raums, der nur durch einige wenige Fenster zur Straßenseite erhellt wurde. Meine Augen brauchten einen Moment, bevor sie sich daran gewöhnt hatten.
Nur an zwei Tischen saß Jemand. Wenig verwunderlich, war es doch erst kurz nach Mittag.
In der Mitte des Raums, angrenzend zur hinteren Wand, befand sich der Tresen. Besetzt war er von einem stämmigen Mann, der gelangweilt dreinblickte. Er schaute kaum auf, als ich den Raum betrat. Vielleicht ein Kellner, oder der Wirt selbst.
Von der gesuchten Iulia war nichts zu sehen. Es galt also nachzufragen.
Ich ging zum Tresen, um mich an den Mann dahinter zu wenden. Er würdigte mich immer noch keines Blickes. Wenn es sich wirklich um den Wirt handelte, dann war er wohl nicht sehr geschäftstüchtig. Was wiederrum zu dem nicht entfernten Graffiti passen würde. Aber vielleicht hatte er es auch einfach nicht nötig, da die Kundschaft so oder so kam – oder schlimmer noch, es die Kundschaft gar nicht interessierte.
„Entschuldige, ich würde gern die Iulia sprechen. Ich habe gehört, dass sie hier als Kellnerin arbeitet.“
Der Mann hob langsam seinen Kopf und musterte mich aus geröteten Augen. Viel Schlaf schien er nicht bekommen zu haben. Vielleicht ein Zeichen seines Berufs im Hotelgewerbe.
Sein Kopf senkte sich wieder, nur um sich sogleich wieder zu heben. So als wäre er kurz vor dem Einschlafen. Erst einen Moment später wurde mir klar, dass es ein Nicken gewesen sein sollte.
„Vier!“, krächzte der Mann.
Ich sah ihn verständnislos an. Was hieß das? Sie kommt erst um vier Uhr?
Nein, das konnte nicht gemeint sein. Eine genaue Zeitmessung gab es mangels Uhren noch nicht.
Der Mann blickte mich mit ausdrucklosem Gesicht an.
Ich versuchte es noch einmal.
„Es ist wichtig, dass ich mit ihr spreche. Weißt du wo ich sie finden kann?“
Mein wenig gesprächiges Gegenüber grunzte. „Interessiert mich nicht. Es sind immer noch vier Asse.“
Vier Asse. Aha, das hätte ich ahnen sollen. Die Information hatte also ihren Preis. Asse waren eine kleinere Einheit des Denars. Ein Denar entsprach 16 Assen.
Ich griff in meinen Säckel und holte die geforderten Münzen hervor. Der Mann nahm sie entgegen. Mit geübten Fingern ließ er sie in seine Kasse gleiten.
„Veneria! Kundschaft!“, grölte er hinter sich in einen Durchgang.
Kurz darauf trat eine junge Frau aus dem Hinterzimmer hervor. Ich musterte sie, während sie mir entgegenkam.
Sie hatte schulterlanges, brünettes Haar, das zu einem Zopf gebunden war. Ein Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. Es erschien aufgesetzt angesichts der dunklen Ringe unter ihren Augen, die das wahre Bild zeichneten.
War das Iulia? Der Mann – ich nahm mittlerweile an, dass er tatsächlich der Wirt war – hatte sie bei einem anderen Namen gerufen. So oder so, wenn diese Veneria mich auf der Suche nach Iulia nicht weiterbrachte, würde ich meine vier Asse zurückverlangen.
„Komm“, sagte sie und nahm mich beim Arm. Sie zog mich in Richtung der Treppe ins Obergeschoss. Ich folgte bereitwillig. Bei dem was wir zu besprechen hatten, musste nicht gerade der ganze Gastraum zuhören.
Die junge Frau führte mich in ein kleines, trostloses Zimmer. Zweifelsfrei war es eines der Gästezimmer. Trotz einer Größe von vielleicht 12 Quadratmetern waren drei Betten im Raum aufgestellt.
Als die Frau die Zimmertür hinter uns schloss, sprach ich sie an.
„Hör Mal, ähm… Veneria. Ich hoffe, dass du mir weiterhelfen kannst, Ich bin auf der Suche…“
Sie unterbrach mich mitten im Satz, indem sie mir ihren Zeigefinger auf den Mund legte.
„Ich weiß, was du suchst“, flüsterte sie, „und du hast mich gefunden!“
Mein Mund stand vor Verblüffung offen.
Also war sie Iulia! Doch woher wusste sie, dass ich sie suche?
Das Ganze war sehr merkwürdig – und im Nachhinein eindeutig ein Fall von ‚den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen‘.
Denn schon kurz darauf offenbarte sich mir die Lösung des Rätsels – als die vermeintliche Iulia ihre Brüste aus dem Korsett ploppen ließ und mit fester Hand meinen arglosen Dödel umfasste.
Mein Mund öffnete sich noch weiter. Ich Idiot hatte mit meinen vier Assen keine Information, sondern Prostitution gekauft.
Währenddessen zog die Dirne meinen schockstarren Körper auf eines der Betten.
„Du bist wohl ein Schüchterner“, kicherte sie.
Schneller als ich denken konnte, hatte ihre Hand bereits den Weg durch meine schützende Hose hindurch gefunden. Es war allerhöchste Zeit zu handeln!
Mit etwas mehr Kraft als nötig stieß ich die Dame von mir. Sie prallte an die Wand, an der das Bett stand.
„Au! Du Grobian!“
„Entschuldige“, begann ich, „aber das Ganze hier ist ein Missverständnis. Ich will nicht mit dir schlafen! Ich bin nur auf der Suche nach einer jungen Frau Namens Iulia.“
Sie sah mich einen Moment perplex an.
„Woher kennst du diesen Namen? Was willst du von ihr?“, sprudelte sie dann hervor.
Ich horchte auf. Sie kannte Iulia also tatsächlich! Jetzt musste ich sie nur noch überreden, mir Auskunft zu geben.
Ich überlegte einen Moment, ob ich es mit der Wahrheit versuchen oder die Geschichte mit dem Erbe wiederaufgreifen sollte.
Nun, angesichts der Tatsache in welches Milieu es Iulia anscheinend verschlagen hatte, erschien mir letzteres motivierender.
„Ich muss dringend mit ihr sprechen. Es geht um das Testament des Periklis. Er hat ihr eine hübsche Summe vermacht.“
Ihre Augen weiteten sich. „Das hat er getan!? Er hat mich also wirklich geliebt!“
Aha – Veneria und Iulia waren also doch ein und dieselbe Person!
In diesem Moment kam mir ein Gedanke – ein durchaus genialer fand ich.
„Es gibt nur ein Problem“, begann ich. „Die Familie rückt das Geld nicht raus, da sie der Überzeugung sind, du hättest etwas mit seinem Tod zu tun.“
Sie fuhr ein Stück zurück. „Ich? Nein! Ich habe überhaupt nichts damit zu tun!“
Ich nickte beruhigend. „Natürlich nicht, der Meinung bin ich auch. Aber du warst dort – du weißt, was wirklich passiert ist. Du musst es mir nur erzählen, dann werde ich die Angelegenheit regeln.“
Eigentlich war es etwas gemein, das arme Ding so hereinzulegen, oder?
Ach komm… es geht immerhin darum einen Mord aufzuklären!
Anstatt die Wahrheit herauszusprudeln, rückte Iulia noch ein Stück weiter zurück.
„Nein“, hauchte sie, „das kann ich nicht. Lieber bin ich eine arme Dirne, als eine tote Reiche.“
Sie stand auf und machte Anstalten, das Zimmer zu verlassen. Ihre Brüste hingen immer noch aus dem Korsett.
Ich hielt sie am Arm zurück.
„Warte! Du kannst mir vertrauen. Ich werde dich beschützen.“
Sie schüttelte den Kopf.
„Nein, du kannst mich nicht beschützen, wer auch immer du bist. Er würde mich umbringen.“ Ihre Stimme klang ängstlich.
„Sie sind zu mächtig!“, zischte sie.
Sie entwand sich meinem Griff und flüchtete durch die Tür.
Ich blieb noch eine Weile im Zimmer stehen.
‚Sie sind zu mächtig‘ – das klang ja nach einer Verschwörung illuminatischen Ausmaßes.

Es war schon etwas später am Nachmittag, als ich die mir aufgetragenen Besorgungen erledigt hatte und wieder in der Praxis eintraf. Ich stieß beinahe mit einem Patienten zusammen, der gerade aus der Haustür trat.
Im Flur saßen noch zwei weitere Leute auf der schmalen Bank, die als Wartebereich diente. Ich nahm kaum von ihnen Notiz, da meine Gedanken noch bei meinem Treffen mit Iulia waren.
„Da bist du ja!“, begrüßte mich Thalis, als ich in die Praxis eintrat. In seiner Stimme lag eine Mischung aus Verärgerung und Erleichterung. „Ich habe mir schon Sorgen gemacht! Du brauchst doch sonst nicht so lang auf dem Markt.“
Ich stellte die Sachen ab und murmelte etwas von „viel Verkehr“ und „großer Andrang“ als Rechtfertigung. Thalis sah zwar nicht sehr überzeugt aus, gab sich aber damit zufrieden.
„Wo ist denn Gregor?“, fragte ich, um schnell das Thema zu wechseln. In der Praxis war er jedenfalls nicht.
„Kontrollbesuche machen. Jene, die du jetzt eigentlich gerade machen solltest.“
Ich seufzte. Stimmt ja, da war noch etwas gewesen.
„Tut mir leid, Thalis. Ich geh gleich los, wenn du willst.“
Er winkte ab. „Nein Phillip, lass nur…“
Thalis zog mich zu sich heran. Sein Mund fand den meinen und er gab mir einen intensiven Kuss.
„Ich bin ja froh das du wieder hier bist“, sagte er und strich mit seiner Hand über meine Wange.
Ich nickte und lächelte ihn beruhigend an.
Thalis legte einen Arm um mich und begann, mich auf die Liege zu ziehen.
Ich wehrte ihn jedoch ab.
„Was soll das, Thalis? Ich werde mich doch nicht mit dir hier drinnen vergnügen, während draußen noch zwei Patienten warten!“
Er machte ein undefinierbares Geräusch und ließ von mir ab.
Eine Weile standen wir einfach nur da und sagten gar nichts. Dann ging er nach draußen, um den nächsten Patienten zu holen.
Ich blieb mit zweigespaltenen Gefühlen zurück. Thalis lehnte sich emotional stark an mich, besonders jetzt nach Alexios Tod. Verstehen konnte ich das schon… aber wohin würde es führen?
Kapitel 10
Es war ein paar Tage darauf, als ich die Treppe in den dritten Stock nahm, um dem Kaufmann Frugi einen Besuch abzustatten. Viel war seitdem nicht passiert. Der tägliche Trott vereinnahmte den Großteil meiner Zeit mit Besorgungen, Besuchen, und in der Praxis assistieren.
Die Zeit, wenn ich abends im Bett lag, nutze ich um meine Gedanken zu sortieren. Iulias Reaktion ging mir immer wieder durch den Kopf.
Klar war, dass sie als Augenzeugin von dem grausamen Vorkommnis geprägt war. Ihre Worte waren daher mit Vorsicht zu interpretieren.
Wahrscheinlich war auch, dass der Mörder ihr sehr eindringlich nahegelegt hatte, Stillschwiegen zu bewahren. Oder eben die Geschichte mit dem Unfall in die Welt zu setzen.
Trotzdem hatten ihre Worte ‚Sie sind zu mächtig‘ etwas Aufschlussreiches. Es musste nicht gleich eine Verschwörung dahinterstecken. Aber es hieß auch, dass der Mörder nicht allein gehandelt hatte. Und vielleicht auch, dass er gar nicht aus eigenen Motiven, sondern auf Auftrag gehandelt hatte.
Leider machten diese Erkenntnisse die Sache weder einfacher, noch brachten sie mich der Wahrheit wesentlich näher. Auch gab es weiterhin keine Anzeichen dafür, dass die Morde an Periklis und Alexios in einem Zusammenhang standen.
Außerdem wäre es gelogen, wenn Iulias Worte mich nicht zu mindestens ein wenig eingeschüchtert hätten. Ich hatte mich daher öfters gefragt, ob es noch Sinn machte weiterzuforschen.
Auf der anderen Seite hatte ich das Gefühl, dass es feige und genauso gefährlich wäre, der Sache nicht auf den Grund zu gehen.
Letztlich hatte ich einen Entschluss gefasst. Ich würde den Fall Periklis ad acta legen und im Fall Alexios der einen verbleibenden Spur nachgehen, die ich noch hatte. Wenn dabei nichts Wesentliches herumkam, würde ich die Ermittlungen endgültig fallen lassen.
Ich klopfte an der Wohnungstür des Kaufmanns, dessen Rat ich einholen wollte. Frugi öffnete kurz darauf und begrüßte mich in seiner jovialen Art.
„Ah, Phillip, komm doch rein! Ein Kollege meines Berufsstands – und sei es wie du einer außer Dienst – ist mir immer willkommen.“
Unter diesen einladenden Worten betrat ich seine Wohnung. Wie auch bei unserer darunterliegenden Wohnung kam man direkt in das Wohn- und Esszimmer. Die Ausstattung war hier oben jedoch opulenter. Zwei große Wandteppiche zierten den Raum. Der Eine stellte griechische, der Andere arabische Motive dar. Die üblichen Liegen waren um einen eleganten Holztisch gruppiert. Auf ihm befand sich anstelle einer einfachen Öllampe ein kunstvolles Exemplar aus Silber. Man merkte, dass der Kaufmann diese Räume auch zu geschäftlichen, also repräsentativen Zwecken nutzte.
Frugi war, ganz im Gegenteil zu seinem Namen, der Inbegriff an Gastfreundschaft. Ehe ich es mir versah, hatte ich bereits ein Glas Wein in der einen und einen kleinen Happen in der anderen Hand. Er wäre sicher auch imstande gewesen, einem Wüstenbewohner einen Regenmantel zu verkaufen. Oder einen Staubsauger.
Mir stand weniger der Sinn nach Smalltalk. Ich hatte eine konkrete Frage an den Kaufmann. Daher kam ich gleich zur Sache.
„Danke dir Frugi, für deine Hilfsbereitschaft. Du hast damals als Alexios… von uns gegangen ist, ja gesagt dass wir zu dir kommen sollen, wenn wir etwas brauchen. In der Tat gibt es da etwas, wobei ich deinen Rat gebrauchen kann.“
Frugi nickte aufmerksam und bedeutete mir Platz zu nehmen.
„Bitte, Phillip. Ich helfe wo ich kann.“
Ich holte ein Leinentuch aus meiner Hosentasche und wickelte den darin enthaltenen Gegenstand aus. Ich legte ihn auf den Tisch. Es war der Dolch, mit dem Alexios ermordet wurde.
Frugi sog scharf die Luft ein.
„Ist das… was ich vermute, dass es ist?“
Ich nickte. „Ja, das ist der Dolch, der Alexios ins Herz gestoßen wurde. Meine Frage ist, ob du mir irgendetwas nützliches dazu sagen kannst.“
Frugi starrte eine Weile auf die Waffe. Dann sah er mich an. Seine Stirn lag in Falten.
„Phillip, ich weiß nicht recht… bist du sicher, dass du diesen Pfad beschreiten willst? Nachforschungen dieser Art enden nicht selten in weiteren Unglücken.“
Ich hielt seinem Blick stand.
„Ich bin diesem Pfad schon eine Weile gefolgt, Frugi. Leider bisher nur mit mäßigem Erfolg. Wenn es also etwas gibt, womit du mir weiterhelfen kannst, wäre ich dir sehr dankbar.“
Der Kaufmann seufzte und nahm den Dolch vorsichtig auf. Er betrachtete ihn von allen Seiten.
„Handwerklich vorbildlich verarbeitet“, kommentierte er. „Das Design entspricht der neusten Mode. Mehr als ein Jahr ist der nicht alt.“
Ich wies ihn auf die Gravur hin. „Weißt du, was diese Zahl bedeuten soll?“
Frugi stand auf und ging ans Fenster. Er hielt den Dolch gegen das Licht, um die Gravur besser lesen zu können.
„M I I“, stellte er fest. „Nun, Phillip, das ist keine Zahl. Es sind die Initialen des Waffenschmieds, der den Dolch hergestellt hat.“
Mein Herz schlug schneller.
„Weißt du wer das ist?“, hauchte ich.
„Marcus Iulius Iustus. Hat seinen Laden unweit des Kolosseums in der Via Spirenca. Ich habe schon ab und zu mit ihm Geschäfte gemacht, ein umgänglicher Mann.“
Endlich eine brauchbare Spur!
Ich nahm den Dolch rasch wieder an mich.
„Vielen Dank, Frugi. Das hilft mir sehr weiter!“
Ich wandte mich bereits zum Gehen, als der Kaufmann mich noch einmal zurückhielt.
„Bitte Phillip, sei vorsichtig!“, warnte er mich eindringlich. „So ein Dolch kann sich nur leisten, wer gut betucht ist. Und Skrupel haben die Wenigsten hier, auf die das zutrifft.“

Obwohl es schon später Nachmittag war, hatte ich mich gleich nach dem Gespräch mit Frugi auf den Weg Richtung Kolosseum gemacht. Wer weiß, wann ich sonst das nächste Mal Gelegenheit haben würde.
Mein anfänglicher Enthusiasmus schwand auf dem Weg dorthin wieder ein wenig. Ich hatte den Hersteller des Dolchs ausfindig gemacht. Doch das hieß noch lange nicht, dass der mich in die Richtung des Käufers würde weisen können… oder wollen. Dennoch, eine verfolgenswerte Spur war das allemal.
Wie immer war die Gegend um das Kolosseum gut belebt. Von innen erklangen Schreie und Gejubel. Vermutlich war gerade eine Vorstellung im Gange. Vielleicht ein armer zum Tode verurteilter, der nun von hungrigen Löwen verspeist wurde? Oder vielleicht einfach nur ein Wagenrennen.
Ich bog in die von Frugi genannte Straße ab und hielt auf beiden Seiten Ausschau nach dem Laden des Waffenschmieds. Leider reihte sich Geschäft an Geschäft und es war gar nicht so einfach, das Richtige zu finden.
Nachdem ich zweimal nach dem Weg fragen musste, stand ich schließlich vor dem gesuchten Laden. Von außen unterschied er sich kaum von den übrigen Geschäften. Doch die Überschrift wies besagten Marcus Iulius Iustus als Inhaber aus.
Das Erste, was mir beim Betreten des Geschäfts auffiel, war die Temperatur. Hier drinnen war es deutlich wärmer als draußen. Und draußen war es bereits alles andere als kühl. Die Ursache dafür war unschwer zu erkennen. Ein Schmiedeofen aus dem rote Glut waberte befand sich an der Rückwand des Geschäfts.
Ein Wunder, dass Elisa keine eklatante Verletzung diverser Brandschutzbestimmungen bemängelte. Wobei, eigentlich kein Wunder. Denn um den Akku zu schonen, hatte ich sie in den Energiesparmodus versetzt. Nur wenn ich sie ansprach oder in Notfällen würde sie aktiv werden.
Der Ofen war bemannt von einer Person. Sie fummelte mit einem Gegenstand in der Glut herum. Vermutlich gab es dafür auch einen Fachausdruck, der mir als Unkundiger der Schmiedekunst aber fehlte.
An der Fensterfront und den Seiten des Geschäfts waren verschiede Waffen ausgestellt. Sicher die zum Verkauf angebotenen Modelle. Schwerter und Dolche verschiedenster Krümmungsgrade und Längen. Auch Äxte sah ich.
Ich hatte Glück, dass ich der einzige Kunde im Laden war. So konnte ich hoffentlich ein Paar ungestörte Worte mit dem Schmied wechseln.
Ich räusperte mich, um den Mann am Ofen auf mich aufmerksam zu machen.
Er wandte sich zu mir und legte sein Werkzeug beiseite.
„Siehe da, Kundschaft! Sei mir willkommen. Mein Name ist Marcus und ich schmiede die feinsten Klingen Roms.“
Mit dieser Behauptung, die wohl jeder Waffenschmied der Stadt aufstellte, trat er an mich heran. Er war ein kurzer, stämmiger Mann mittleren Alters. Im Gegensatz zu Frugi trug er durchaus ein gewisses Maß an Bauchfett mit sich herum.
„Was für eine Waffe darf es denn sein?“, fragte er. „Oder geht es um eine Reparatur?“
Ich gab nicht vor, daran interessiert zu sein etwas zu kaufen, sondern packte den mitgebrachten Dolch aus.
„Weder noch Marcus. Es geht um diesen Dolch hier. Bedauerlicherweise ist er seinem rechtmäßigen Besitzer… verlustig gegangen. Ich habe ihn gefunden und würde ihn gerne zurückgeben. Und da hatte ich gehofft, dass du mir vielleicht sagen kannst, wer ihn von dir gekauft hat.“
Er kniff seine schmalen, von der ständigen Hitze geröteten Augen, zusammen.
„Zeig her!“, zischte er – weit weniger freundlich, nachdem klar war, dass ich nicht zum Kaufen hierherkam.
Er nahm den Dolch und betrachtete ihn kurz von allen Seiten.
„Woher hast du den?“, fragte er im gleichen unhöflichen Ton. „Woher weiß ich, dass du ihn nicht gestohlen hast, nur um ihn dann zurückzugeben und auch noch einen Finderlohn zu verlangen?“
Diese Idee schien mir etwas weit hergeholt. Vielleicht hatte die Dauerhitze bereits seine Synapsen geschmolzen? Trotzdem antwortete ich mit ruhiger Stimme.
„Ganz gewiss nicht, Marcus. Ich bin ein ehrlicher Finder, so wie du ein ehrlicher Schmied bist.“
Ich ließ die Worte einen Moment einwirken, um die Gehirnwindungen meines Gegenübers nicht zu überfordern. Dann fuhr ich fort.
„Also? Weißt du noch, wer das Ding gekauft hat?“
Eine beinahe schon unangenehm lange Zeitspanne verging, in der der Schmied auf den Dolch starrte.
Plötzlich sah er auf und warf mir den Dolch zu. Ich schrak zusammen und hatte Mühe ihn aufzufangen. Zum Glück gelang es mir ohne Verletzungen.
„Nein“, sagte Marcus, „ich kann dir nicht helfen. Ich verkaufe das Zeug zu Duzenden. Es könnte Jedem gehören.“
Er wandte sich auf dem Absatz um und ging zurück an seinen Ofen.
Eine Weile stand ich etwas bedröppelt da. Schließlich zuckte ich mit den Schultern und verließ das Geschäft. Draußen schlug mir die im Vergleich viel kühlere Luft entgegen. Ich atmete einmal tief durch, bevor ich mich in der Abenddämmerung auf den Heimweg machte.
Etwas merkwürdig fand ich den Schmied und sein Gebaren schon. Dennoch, auch diese letzte Spur war im Sande verlaufen. Ich hatte alles getan, was mir einfiel.
Das war es also. Ich würde meine Nachforschungen aufgeben und die Sache hinter mich lassen.
Erstaunlicherweise fühlte ich mich erleichtert. Es war fast wie ein Gewicht, das mit jedem Schritt mehr von mir abfiel.
Ich blieb einen Moment stehen und schüttelte den Kopf. Mir war gar nicht bewusst gewesen, wie sehr dieser Ermittlungsscheiß auf mir gelastet hatte. Fast schon eine Obsession hatte ich daraus gemacht.
Ich atmete noch einmal tief die frische Abendluft ein. Damit war jetzt Schluss. Ich freute mich schon richtig darauf, die Brüder zu sehen – vor allem Thalis – und den nächsten Tag zu planen.
Hinter mir knackste etwas. Unvermittelt und ohne Vorwarnung traf mich ein Schlag.
Ich schrie auf und stolperte vorwärts. Dabei drehte ich mich um. Gerade so gelang es mir, das Gleichgewicht zu halten.
Ich blickte in das Gesicht eines Mannes. Ein Schauder lief mir den Rücken hinunter. Ich hatte den Mann schon einmal gesehen, konnte ihn aber nicht sofort zuordnen. Er lächelte grimmig.
Ein schneller Seitenblick machte mir klar, dass ich in Gedanken versunken in eine Nebenstraße eingebogen war. Eine Abkürzung – aber zur späten Stunde auch der ideale Ort für einen Überfall.
Der Angreifer kam langsam auf mich zu. Für jeden Schritt den er Vorwärts machte, tat ich einen Rückwärts.
„Ich glaube“, begann der Mann in bedrohlichem Ton, „du hast etwas, was mir gehört.“
Er blickte auf das Tuch in meiner rechten Hand, in das ich den Dolch gewickelt hatte.
Mein Gott, war das Alexios Mörder, der nun vor mir stand?
Plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Ich erinnerte mich wieder, woher mir der Typ bekannt vorkam. Keuchend wich ich noch einen Schritt weiter zurück, doch ich stieß mit dem Rücken an eine Hauswand.
„Und ich glaube auch“, fuhr er fort, „dass du herumläufst und zu viele Fragen stellst. Das beunruhigt meinen Herrn sehr – doch damit ist jetzt Schluss.“
Der Mann – Clodia Magnis Leibwächter – fuhr sich mit der linken Hand in einer eindeutigen Geste über den Hals. Mit der Rechten zog er ein Kurzschwert.
„Warte!“, keuchte ich. „Sag mir wenigstens, wieso? Wieso musste Alexios sterben?“
Er lächelte amüsiert. „Er war wohl zur falschen Zeit am falschen Ort. Eigentlich hatte ich nur den Befehl, den Raum zu verwüsten. Aber ich konnte auch keinen Zeugen zurücklassen…“
„Aber wieso das Ganze? Was für ein Problem hat dein Herr mit uns!?“
„Das ist dir immer noch nicht klar?“ Er spuckte auf den Boden vor mir. „Aus dem gleichen Grund natürlich, aus dem auch sein Onkel dran glauben musste! Wenn mein Herr eins auf den Tod nicht ausstehen kann, dann sind es andere Männer, die sich an seine Ehefrau ran machen.“
Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Vor allem angesichts meines drohenden Ablebens. Aber auch, da beide Mordfälle gelöst waren.
Verdammt! Was nützte das, wenn der Detektiv dabei draufging!
Der Leibwächter kam noch einen Schritt näher. Wenn ich jetzt nichts unternahm, wars das.
Elisa, bis dahin ungewöhnlich still gewesen, erinnerte mich an meine Optionen.
„Sie schweben in unmittelbarer Lebensgefahr! Kämpfen Sie oder rennen Sie!“
Da ich im Kampf keine Chance gegen einen trainierten und praxiserfahrenen Meuchelmörder hatte, blieb mir nur das Rennen übrig.
Ich ließ den Dolch aus dem Tuch gleiten. Mit aller Kraft schleuderte ich die Waffe dem Angreifer entgegen. Gleichzeitig nahm ich die Beine in die Hand. So schnell ich konnte, rannte ich in Richtung der belebten Hauptstraße zurück.
Hinter mir hörte ich einen unterdrückten Schrei. Es klang jedoch mehr nach Überraschung, als nach Schmerz. Schritte ertönten, näher als mir lieb war.
„Abstand Verfolger: Fünf Meter.“
„Vier Meter.“
„Drei Meter.“
Die Gasse öffnete sich und ich tauchte in die Menschenmenge ein. Dabei rannte ich einen Passenten um. Er fiel fluchend hinter mir zu Boden.
„Sechs Meter.“
Ich hatte Glück im Unglück. Die Vorstellung im Kolosseum musste gerade zu Ende gegangen sein. Massen von Menschen bewegten sich durch die Straße. Ich duckte mich etwas, um nicht aus der Menge herauszustechen. Dabei hechtete ich weiter vorwärts.
„Ortung verloren.“
Ich blieb nicht stehen und blickte nicht zurück.

Wie lange ich durch die Straßen gehetzt war, konnte mir mein Zeitgefühl nicht sagen. Irgendwann, lange nach Einbruch der Dunkelheit, war ich jedenfalls am Haus der Brüder angekommen.
Ich ging durch die Eingangstür und ließ mich auf die Wartebank der Praxis fallen. Mein Kopf lehnte ich an die kalte Wand. Meine Hände zitterten noch.
Eine ganze Weile verharrte ich so, bis ich wieder einigermaßen klar denken konnte.
Eifersucht also. Das war das Mordmotiv.
Dass Periklis auch ein Verhältnis mit der reichen Clodia gehabt hatte, war durchaus plausibel. Aber Alexios? Wohl kaum. Dafür war er zu klug. Dennoch hatte ich keinen Grund, an den Worten des Leibwächters zu zweifeln. Auch wenn Clodias Ehemann sich in seiner Eifersucht eine solche Affäre nur eingebildet hatte, Alexios musste dafür sterben.
Scheiße. Mir wurde mehr und mehr klar, dass ich die ganze Sache nicht richtig durchdacht hatte.
Ja, ich hatte den Mörder gefunden. Aber er auch mich.
Und ja, es gab ein Rechtssystem im alten Rom. Doch sobald ich mich öffentlich sehen ließ, würde ich zur Zielscheibe. Ganz abgesehen davon, dass ich keinerlei Beweise hatte. Selbst die Mordwaffe war nun weg.
Noch ein weiteres Problem dämmerte mir. Fuck… ich konnte nicht hierbleiben. Erstens wusste der Mörder genau, wo ich zu finden wäre. Und zweitens brachte ich Gregor und Thalis in große Gefahr!
Plötzlich öffnete sich die Tür zur Praxis. Ich schrak zusammen.
Thalis stand im Türrahmen. „Phillip, da bist du ja!“, rief er freudig. „Ich dachte doch, dass ich etwas gehört – „
Er unterbrach sich mitten im Satz. „Bei den Göttern! Du siehst ja aus… was ist denn passiert!?“
Er legte seinen Arm um meine Schulter und zog mich in die Praxis. Seine Berührung fühlte sich warm an. Eine Geborgenheit ging davon aus, von der ich jedoch wusste, dass sie mir nicht mehr zustand.
Ich wurde auf einen Stuhl gesetzt. Gregor war auch zugegen.
„Nimm erstmal einen Schluck. Für die Nerven.“ Gregor reichte mir eine Flasche hochprozentiges, von der ich einen großzügigen Schluck nahm.
Beide starrten mich nun an. Sie warteten darauf, dass ich mich erklärte. Ich versuchte den Kloß im Hals herunterzuschlucken.
„Ich… ich weiß, wer Alexios und Periklis umgebracht hat. Es war ein- und dieselbe Person.“
Beide sogen scharf die Luft ein.
„Ihr erinnert euch an Clodia Magni, eine eurer ersten Patientinnen? Ihr Mann hat die Morde aus Eifersucht befohlen. Ihr Leibwächter hat sie ausgeführt.“
Gregor und Thalis sahen abwechselnd einander und mich an. Sie waren sichtlich bestürzt.
Thalis schüttelte den Kopf. „Aber… Alex hatte doch nichts mit dieser dummen Schrulle, die nur wegen Pseudo-Wehwehchen hierherkam!“
Gregor nickte und verzog verächtlich den Mund. „Wohl kaum. Doch es reicht ja schon, wenn sie es gewollt hat. Wenn ich mich erinnere wie unnötig aufreizend sie sich an- und auszog, dann passt das zusammen. Ihr Leibwächter stand ja neben dran. Und der berichtet natürlich gleich seinem Herrn.“
„Ich kann es nicht fassen“, sagte Thalis. „Alex musste sterben, nur weil eine notgeile Reiche in unglücklicher Ehe seine Patientin war?!“
„Wie hast du das überhaupt rausgefunden?“, frage Gregor.
Da die Stimmung ohnehin einen vorläufigen Tiefpunkt erreicht hatte, ließ ich gleich die nächste Bombe platzen.
„Ich habe den Mörder gefragt. Kurz bevor er versucht hat, mich ebenfalls umzubringen.“
Thalis entglitten sämtliche Gesichtszüge.
„Bist du Wahnsinnig?!“, schrie er mich an.
In knappen Worten erzählte ich von meinen Nachforschungen und der schicksalhaften Begegnung in der dunklen Gasse.
Danach waren alle eine ganze Weile lang schweigsam.
„Was jetzt?“, fragte Gregor schließlich.
Ich atmete tief durch.
„Es gibt nur eine Möglichkeit. Ich muss euch verlassen. Und zwar jetzt gleich.“
Thalis schreckte hoch. „Nein, Phillip!“
Er umfasste meine Schultern mit seinen Händen. In seinen Augen lag eine Mischung aus Trauer und Verzweiflung.
„Bitte! Bleib!“ Seine Stimme klang flehend. „Wir schaffen das. Zusammen sind wir stärker.“
Mir war klar gewesen, dass der Abschied von Thalis am schwersten werden würde. Auch für mich. Doch gerade weil ich ihn sehr gerne hatte, konnte ich nicht bleiben.
Gregor schüttelte langsam den Kopf.
„Nein, Thalis… er hat Recht. Lass deine Gefühle dir nicht den Verstand vernebeln. Wenn Phillip hierbleibt, ist er so gut wie tot. Und wir sehr wahrscheinlich mit ihm. Wenn er geht, dann hat er eine gute Chance, davonzukommen. Raus aus Rom, irgendwo anders hin. Und wir – wir nehmen keine Termine von Clodia und ihrer Sippe mehr an. Solange wir uns still verhalten, werden wir hoffentlich in Ruhe gelassen.“
Thalis wimmerte. „Das ist falsch… so falsch.“
Er hielt immer noch meine Schultern fest. Ich legte meine Hände auch um seine Schultern. Meinen Kopf ließ ich nach vorne sinken, sodass wir uns an der Stirn berührten.
„Es tut mir so leid Thalis…“, flüsterte ich. „Aber wir haben keine andere Wahl.“
Kapitel 11
Wenn sie über die Tage nach dem ersten bemannten Zeitsprung sprach, behauptete Lisa Bolzano gerne, dass es die anstrengendste Zeit ihres Lebens war. Mittlerweile gestand sie ein, dass das definitiv falsch war. Die anstrengendste Zeit ihres Lebens waren die letzten vier Wochen gewesen, seit dem verhängnisvollen zweien Zweitsprung. Die Ungewissheit, das Verdammtsein zum Nichtstun, und letztlich die traurige Gewissheit, hatten ihr den letzten Nerv geraubt.
Sie warf einen Blick auf den großen Kalender an der Wand ihres Büros. 33 Tage waren vergangen. Nichts war passiert seitdem – keinerlei Lebenszeichen von Phillip. Und doch war viel geschehen in diesen Wochen.
Seitdem die Vermutung Dr. Carrols hinsichtlich der Akku-Problematik zur Gewissheit geworden war, waren Entscheidungen getroffen worden. Der Aufsichtsrat hatte entschieden, die Mission für gescheitert zu erklären. In einer bedrückenden Pressekonferenz hatte Lisa, zusammen mit dem Direktor des CERN, die Nachricht verkündet.
Außerdem war – gegen ihren vehementen Widerstand – beschlossen worden, praktisch das gesamte ATR-Programm einzudampfen. Immerhin hatte sie durchsetzen können, dass eine Minimalbesetzung bleiben und weiterforschen durfte. Obwohl Phillip für immer verschollen war – sie war sich sicher, dass er gewollt hätte, dass das Projekt fortgesetzt wird.
Die Gänge des unterirdischen Baus waren teils gespenstisch leer, seitdem 70 Prozent der Mitarbeiter anderen Projekten zugewiesen wurden. Auch stiller als normal war es. Das konstante, sie irgendwie beruhigende, Hintergrund-Brummen des Fusionsreaktors fehlte. Er war als erstes abgeschaltet worden. Kein Wunder, wenn man bedachte, dass sein Betrieb gut zwei Millionen Euro pro Tag kostete.
Sie schrak zusammen, als die Tür zu ihrem Büro aufgerissen wurde. Dr. Benjamin Torres kam hereingestürmt. Er war vollkommen außer Atem.
„Lisa, es ist… die aktiven Instrumente sind ja abgeschaltet, aber… das ist…“
Sie stand auf und hob beide Hände.
„Immer langsam, Ben. Was ist passiert?“, fragte sie beruhigend und alarmiert zugleich.
„Es ist unglaublich Lisa, das müssen Sie sehen!“
In zwei großen Schritten war er an ihrem Schreibtisch angelangt. Er beugte sich über ihren Monitor. Mit geübten Fingern rief er ein Diagramm auf.
„Sehen Sie diese Frequenz, die das Raumzeit-Spektrometer gerade aufzeichnet?“, fragte Torres aufgeregt.
Lisa kniff die Augen zusammen. „Das ist doch!? Diese Frequenz…“
„… wird auf der Erde nirgendwo verwendet“, vollendete Dr. Torres ihren Satz. „Da versucht Jemand, uns eine Nachricht zu schicken. Jemand, der unsere Koordinaten kennt.“
Lisa stand auf. „Fahren Sie den Reaktor hoch, Torres!“
Der Leiter des Zentrallabors zögerte einen Moment. „Aber, der Aufsichtsrat…“
„Scheiß auf den Aufsichtsrat, Ben! Wir müssen dem auf den Grund gehen! Ich berufe die Leute aus der Bereitschafts-Sicht ein.“
Dr. Torres nickte. Während er schnellen Schrittes das Büro verließ, griff sie zum Telefon.
****
Mein Rücken schmerzte, als ich mich aufrichtete. Die Morgensonne stieg gerade über die Häuserfront am Rande des Parks, in dem ich übernachtet hatte.
Das war definitiv die unbequemste Nacht meines Lebens gewesen. Daran hatte auch das Kissen nichts geändert, das ich nun wieder in dem Jutesack verstaute, den wir gestern noch in Eile gepackt hatten. Selbst das Bodenlager in Ägypten hätte ich dem kratzenden Baumstamm in meinem Rücken vorgezogen.
Rückblickend hätte ich vielleicht doch in einem der ‚Hotels‘ absteigen sollen. Andererseits war es fraglich, ob ich mit drei Fremden im Zimmer, wahrscheinlich besoffen und schnarchend, einen ruhigeren Schlaf gefunden hätte.
Ich seufzte und rappelte mich auf. Was die Zukunft mir bringen sollte, war ungewiss. Ich hatte nicht viel bei mir. Lediglich einige Kleidungsstücke, etwas Proviant, und einen Münzvorrat – letzterer von Thalis deutlich großzügiger ausgestattet, als es die kritischen Blicke Gregors guthießen.
Mein Plan für die nahe Zukunft war simpel. Ich würde Rom verlassen und wieder gen Süden reisen. Zurück auf der Via Appia, auf der wir von Puteoli gekommen waren. Den Weg kannte ich, also erschien es mir als die sicherste Option.
Auf dem Hinweg waren wir an einigen Dörfern und kleineren Städten vorbeigekommen. Vielleicht ließ sich dort eine Bleibe für mich finden.
Ich tauchte in das Leben auf Roms Straßen ein. Langsam machte ich mich auf den Weg Richtung der Stadttore. Ringsherum spielte sich der übliche Alltag ab. Einige Händler an kleinen Ständen boten lautstark ihre Waren feil. Kinder rannten spielend durch die Straßen und Bettler am Straßenrand erhofften sich ein Paar Almosen.
Trotz des Schmutzes und teilweise offensichtlichen Elends, irgendwie hatte ich mich an die Stadt gewöhnt. Schade, dass ich sie nun verlassen musste.
Es knackte in meinem rechten Ohr und Elisas Stimme ertönte. Im ersten Moment war ich verärgert, da ich vergessen hatte, sie nach dem gestrigen Vorfall wieder in den Stand-By-Modus zu versetzen.
„Ich habe eine elektromagnetische Emission registriert.“
Meine Verärgerung machte Verwunderung Platz. Ein Ereignis, dass in der modernen Welt völlig selbstverständlich war. Doch was könnte hier eine solche Emission ausgelöst haben?
Ich warf einen Blick nach oben. Der Himmel war blau. Ein Gewitter konnte es nicht sein.
„Geht es auch etwas konkreter?“, fragte ich meine elektronische Begleiterin.
In diesem Moment hörte ich Schreie hinter mir. Zunächst einzelne Leute. Doch schnell kamen weitere Stimmen hinzu.
Innerhalb von Sekunden entstand eine Massenpanik. Ich drehte mich um, doch außer Unmengen aufgeregter Menschen war nichts zu sehen. Leute schrien und rannten kreuz und quer. Die Meisten kamen mir entgegen. In ihren Gesichtern lag Entsetzen und Panik.
Nach kurzer Zeit war ich die einzige Person, die noch stillstand. Ich hatte alle Mühe damit, nicht umgerannt zu werden. Außerdem dämmerte es mir, dass ich mich vielleicht ebenfalls in Bewegung setzen sollte.
Bevor ich diesen Gedanken in die Tat umsetzen konnte, lichtete sich die Menge vor mir. Was ich sah, ließ mir das Blut in den Adern gefrieren.
Wenige Meter entfernt stand ein Monster. Es war humanoid, aber etwas größer als ein Mensch. Seine Haut, oder vielmehr eine Art kurzes Fell, war pechschwarz. Der Körperbau war stämmig und muskulös. Das Gesicht war das befremdlichste an dem Wesen. Es hatte ein breites Maul mit vielen kleinen, aber spitzen Zähnen. Zwei kleine Knopfaugen saßen darüber. Eine Nase konnte ich nicht erkennen, ebensowenig Ohren. Sehr merkwürdig war auch, dass das Wesen ziemlich nass war. Wasser tropfte aus dem kurzen Fell.
„Ortung abgeschlossen. Die Emissionsquelle befindet sich direkt vor Ihnen“, kommentierte Elisa überflüssigerweise.
Meine Kenntnisse intergalaktischer Ungeheuer waren begrenzt. Genauer gesagt kannte ich nur eine Art und das auch nur dem Namen nach. Trotzdem hatte ich keinen Zweifel, dass es sich hier um genau solch ein Exemplar handelte. Einen Kerlock. Wahrscheinlich derselbe, der Keith auf den Fersen war und der auch mich bereits in Ägypten verfolgt hatte.
Der Kerlock starrte mich aus seinen kleinen Augen an. Er wiegte den Kopf hin und her. Sicher hatte er erwartet Keith hier vorzufinden und nicht mich.
Ob er erkennen konnte, dass ich aus einer ganz anderen Welt stammte, als der blonde Zeitreisende? Sehr wahrscheinlich. Allein schon mein Equipment war sehr verschieden. Dennoch hieß das nicht, dass er mich verschonen würde.
Wie zur Bestätigung hob sich sein linker Arm langsam. Der Gegenstand in seiner Hand ließ sich unschwer als Waffe identifizieren.
Was tun?
Die ganze Begegnung über war ich erstaunlich ruhig geblieben. Der Grund dafür war einfach. Es gab absolut nichts, was ich hätte tun können. Auch Wegrennen hatte keinen Sinn. Nicht nur, dass er mich so oder so finden würde. Das Monster hätte sicherlich keine Skrupel, dabei über zahlreiche Leichen zu gehen.
„Elisa“, wies ich meine VI lautlos an, „wenn ich Tod bin, führe das Notfallprotokoll Delta aus.“
„Verstanden.“
Das D in Delta stand für destroy. Eine chemische Reaktion würde alle Informationen in Elisas Speicherchips vernichten und das TTEK unbrauchbar machen. Insbesondere auch die Koordinaten zu meiner Heimatzeit.
Sicher war sicher. Das Letzte was ich wollte, war für eine Invasion zeitreisender Kerlocks verantwortlich zu sein.
Ich schloss die Augen.
Ein lauter Knall ertönte und sofort darauf eine ohrenbetäubende Explosion. Das Letzte was ich spürte, war wie ich von den Füßen gerissen und durch die Luft geschleudert wurde.

Ich war überrascht als ich erwachte. Nicht über etwas Spezielles, sondern über den allgemeinen Fakt, dass ich überhaupt erwachte – und demnach nicht Tod war. Theoretisch hätte es sich auch um den Himmel, die Hölle, oder irgendein anderes Leben nach dem Tod handeln können. Doch daran glaubte ich nicht so recht.
Den Gedanken musste ich revidieren, als sich ein Engel über mich beugte.
Ich studierte das Gesicht des Engels näher. Mir wurde klar, dass es mir bekannt vorkam. Es war Keith!
Abrupt setzte ich mich auf. Etwas zu schnell, denn mir wurde schwindelig und ich fiel wieder nach hinten.
Keith kicherte. „Mach langsam, Phillip. Die Druckwelle hat dich ganz schön erwischt. Aber du bist nur etwas durchgeschüttelt, keine Verletzungen. Ok, abgesehen von ein paar Schürfwunden.“
Ich rappelte mich langsam wieder hoch. Mein Blick schweifte durch die Umgebung. Ich befand mich immer noch auf der Straße. Sie war inzwischen menschenleer.
„Was ist passiert? Woher kommst du auf einmal?“, fragte ich ihn.
„Tja, du hast mittlerweile Bekanntschaft gemacht mit meinem Verfolger. Als ich die Info bekam, dass er zunächst unsere Koordinaten in Ägypten angesprungen ist und dann jene, nach denen du verschwunden bist… da brauchte ich nur eins uns eins zusammenzählen.“
Er nahm mich am Arm und half mir hoch. Jetzt sah ich auch den Kerlock wieder. Oder besser gesagt, was davon übrig war.
Ein Krater von zwei Metern Durchmesser zierte die Straße, wo einst das Alien gestanden hatte. Überreste mechanischer und fleischlicher Art fanden sich um den Krater herum. Jetzt nahm ich auch den unangenehmen Geruch nach verbranntem Fleisch war, der in der Luft lag. Schnell wandte ich mich ab, um meine Übelkeit im Zaum zu halten.
Keith lachte. „Ja, ich muss dir wirklich danken. Du warst die perfekte Ablenkung. Allein hätte ich ihn nicht erledigen können.“
Ich runzelte mit der Stirn.
„Also, nicht dass ich das geplant hätte oder so!“, beeilte Keith sich zu versichern. „Im Gegenteil. Normalerweise wäre ich froh gewesen, dass er meine Spur verloren hatte. Aber… ich wusste ja, dass er dafür auf deiner war. Es wäre also meine Schuld gewesen, wenn dir etwas zugestoßen wäre. Und das hätte ich wirklich nicht mit meinem Gewissen vereinbaren können! Immerhin bist du der Erste und vermutlich auch einzige andere Zeitreisende, den ich je treffen werde.“
Ich lächelte. Keith war noch ganz so wie ich ihn in Ägypten kennengelernt hatte. Sehr Emotional und besorgt um das wohl Anderer. Einfach ein süßer Kerl. Und ja, dass er aussah wie ein Engel half auch.
Ich umarmte ihn kräftig. „Danke, Keith! Du hast mir verdammt noch Mal das Leben gerettet.“
Er gluckste. „Das ist ja wohl das Mindeste. Aber sag Mal, Phillip, was machst du eigentlich hier? Ich habe mich richtig gefreut, als die Trace Disk angezeigt hat, dass du von Ägypten weggesprungen bist. Wolltest du nicht längst in deine Heimat zurückkehren?“
„Was ist eine Trace Disk?“, fragte ich neugierig.
Keith griff in eine Tasche seines Anzugs. Er holte einen Donut-förmigen Gegenstand von zwei Zentimetern Dicke hervor.
„Das hier“, sagte er. „Alle Scouts haben diese Dinger. In jeder Welt, die wir besuchen, lassen wir eines zurück, wenn wir sie wieder verlassen. Die zeichnen dann für ein paar Tage alle Raumzeitereignisse in und aus dieser Welt auf. So erkennen wir frühzeitig, ob uns ein Kerlock verfolgt.“
Ich nickte. „Macht Sinn. Aber, um deine Frage zu beantworten. Ich bin hier gestrandet. Es gab ein Problem mit meinem Akku und ich hatte nicht mehr genug Saft, um meine Position zu bestimmen.“
Mein Herz begann schneller zu schlagen noch während ich diese Worte sprach. Etwas flammte wieder in mir auf, das schon längst erstickt war. Eine Hoffnung, zwar nicht auf Heimkehr, aber auf Kontakt mit der Heimat.
„Elisa, reicht die Spannung noch für das Funkmodul?“
„Positiv. Modul ist betriebsfähig, aber abgeschaltet wegen fehlender Raumzeitpeilung.“
Aufgeregt wandte ich mich an Keith.
„Du könntest mir einen Gefallen tun, Keith. Einen fast noch größeren, als mich vor dem Kerlock zu retten. Kannst du mir eine exakte Raumzeitpeilung übermitteln?“
Keith lachte. „Klar, Mann. Das ist doch kein großer Gefallen.“
„Empfange Übertragung.“
Etwas trauriger fuhr er fort. „Es tut mir so leid, dass du hier feststeckst. Und es ist ja meine Schuld!“
Ich winkte ab. „Es ist ganz gewiss nicht deine Schuld. Du hast es weder gewollt, noch hättest du es irgendwie ahnen können.“
Er zuckte mit den Schultern. „Trotzdem fühle ich mich verdammt schlecht deswegen. Sag also nur, wenn ich noch was für dich tun kann.“
Ich verneinte und dankte ihm noch einmal herzlich.
Keith blickte sich um. „Ganz schönes Chaos, was ich hier angerichtet habe. Ich mache mich dann besser Mal vom Acker.“
Ich lachte und nickte.
„Gute Reise, Freund aus einer fernen Welt“, rief ich gutgelaunt.
„Ja, dir auch Phillip. Ich hoffe, dass es dir noch gelingt, heimzukehren!“
Ich lächelte und nickte. Das war zwar unwahrscheinlich, aber allein der Kontakt in die Heimat würde mir Alles bedeuten.
„Achso“, setzte er nach und warf mir die Trace Disk zu. „Sei doch so gut und verstecke das Ding irgendwo für mich.“
Er trat einen Schritt zurück. Einen Moment lang passierte gar nichts. Dann verschwand er, fast geräuschlos.
„Die empfange Raumzeitpeilung ist verarbeitet. Ich war so frei und habe eine Nachricht an die Basis gesendet. Noch keine Reaktion.“
Ich warf noch einmal einen Blick über das Schlachtfeld. Es tat mir leid, dass die Menschen hier dieses traumatische Ereignis miterleben mussten. Immer noch war Niemand weit und breit zu sehen.
Ich bog in die nächste Seitenstraße ein. Ab und zu kam ich an verängstigten Gestalten vorbei, die in Hauseingängen kauerten. Ich setzte meinen Weg im Zick-Zack fort, solange bis ich wieder in normale Bereich der Stadt kam, die von dem Vorfall kaum etwas mitbekommen hatten. Dann setzte ich meinen Weg raus aus Rom fort.
****
Der Kontrollraum war bis auf den letzten Stehplatz besetzt. Die Neuigkeit, dass Irgendetwas auf besagter Frequenz gefunden wurde – vielleicht sogar eine Nachricht – hatte sich wie ein Lauffeuer über die internen Social Media-Kanäle verbreitet.
Als dann die Bestätigung kam, dass es sich tatsächlich um eine Nachricht von Dr. Marten handelte, war die Begeisterung der Leute nicht mehr zu halten. Selbst die meisten versetzten Mitarbeiter, die zuvor am ATR-Projekt tätig waren, hatten sich eingefunden.
Dr. Lisa Bolzano stand vor den großen Bildschirmen in der Mitte der Kontrollwand. Mit angespannter Mine starrte sie auf eine Eieruhr, die sich schon seit einer Viertelstunde im Kreis drehte.
„Wie lange dauert das noch?“, fragte sie ungeduldig.
„Es ist gleich soweit“, beruhigte sie Dr. Torres. „Dem Reaktor fehlen nur noch ein paar Watt für den Aufbau der bidirektionalen Kommunikation.“
In den hinteren Reihen wurde gescherzt, dass man vielleicht das Licht ausschalten sollte, um etwas Strom einzusparen.
Schließlich war es soweit. Es knackte in den Lautsprechern und eine Stimme ertönte.
„Hallo? Lisa?“
Allgemeiner Jubel brach im Raum aus. Leute fielen sich in die Arme, schüttelten sich die Hände, und gaben sich High-Fives. Lisas Antwort ging dabei unter.
Sei drehte sich um und brachte den Raum mit energischer Geste zum Schweigen.
„Wow!“, kam Phillips Stimme aus den Lautsprechern. „Es tut so verdammt gut, euch alle zu sehen!“
„Und verdammt gut, dich zu hören, Phillip!“, antwortete Lisa. Tränen der Freude liefen über ihre Wangen.
„Wie geht es dir?“, fuhr sie fort. „Ich meine… ist den Umständen entsprechend alles Okay?“
„Ja, Lisa. Die letzten Stunden waren zwar etwas turbulent, aber ja mir geht es gut. Ich weiß, dass es keine Rückkehr für mich gibt. Aber allein dieser Kontakt bedeutet mir die Welt.“
Lisa lächelte. „Für mich auch… weißt du, wir hatten schon jegliche Hoffnung aufgegeben, um ehrlich zu sein.“
Phillip lachte. „Die hatte ich auch schon lange begraben!“
Lisa wechselte einen Blick mit Dr. Carrol zu ihrer Linken. Sie zog ihn etwas näher, sodass er auf jeden Fall im Aufnahmebereich der Kamera stand.
„Phillip“, begann sie. „Es gibt sehr wohl eine Möglichkeit, dich heimzuholen, jetzt wo deine Position eingepeilt ist!“
„Rick“, nickte sie Dr. Carrol zu.
„Nein, nein, Lisa, das funktioniert nicht“, kam Phillip ihm zuvor. „Wir wissen beide, dass die Zeitdifferenz noch zu groß für einen Direktsprung ist. Und bei mindestens einem weiteren Zwischenstopp hätte ich genau das gleiche Problem mit dem Akku, wie jetzt. Vermutlich würde er nach dem nächsten Sprung überhaupt nicht mehr zum Leben erwachen.“
Dr. Carrol nickte eifrig. „Ja genau, das Problem haben wir auch erkannt. Aber es gibt eine einfache Lösung! Der Grund wieso wir Sie nicht direkt heimholen können, ist ja dass es zu viel Energie benötigen würde. Sie kennen ja den Term. Masse hoch Sechs plus Zeitdifferenz in Jahren hoch Drei.“
„Sicher…“, kam die zögerliche Antwort aus dem Lautsprecher. „Die Rechnung habe ich auch schon aufgestellt. Und herausbekommen, dass ich für einen direkten Rücksprung nicht mehr als 20 Kilo wiegen dürfte. Das klappt zu Lebzeiten aber nicht.“
„Richtig!“, fuhr Carrol fort. „Aber das heißt auch, dass wir von hier aus etwas zu Ihnen schicken können, was unter diesem Gewicht liegt! Zum Beispiel ein frisches Paar Unterwäsche… oder ein neues TTEK mit einem vollen Akku!“
Einen Moment lang war Stille am anderen Ende der Leitung. Dann kam Phillips Stimme durch. Er klang etwas heiser.
„Moment Mal, Rick… von der Masse her verstehe ich das ja. Aber, angenommen Sie schicken mir ein neues TTEK und ich mache damit einen Zeitsprung. Dann hat dessen Akku doch wieder zwei Sprünge hinter sich und somit genau das gleiche Problem wie jetzt.“
Dr. Carrol schüttelte den Kopf. „Für das TTEK bestand nie die Anforderung mehrere Zeitsprünge hintereinander auszuhalten. Jedenfalls bis vor wenigen Wochen. Und seitdem arbeiten mein Team und ich an genau diesem Problem. Wir haben bereits entscheidende Verbesserungen vorgenommen. Das Modell, was wir Ihnen schicken werden, wird mindestes zwei Sprünge aushalten.“
„Das… wow! Sie haben Recht, Carrol. Das könnte echt…“
Gegen Ende des Satzes versagte Phillip die Stimme. Er war überwältigt von der neuen Hoffnung.
Phillip schloss die Augen. Seine Lippe zitterte leicht.
Also doch. Er würde heimkehren!