2025-07-21, 08:06 PM
Der Schlüssel drehte sich im Sicherheitsschloss und mit einem leisen Knacken ließ es die Tür frei. Es war kalt geworden. Der Sommer war wie immer durchwachsen gewesen und nach einem anfänglich zu warmen Oktober, war es jetzt Ende November bitter kalt geworden.
Mich schauderte es kurz und schloss hinter mir die Ladentür. Noch lag mein kleiner Laden im Dunkeln. Heute war es soweit, der erste Tag. Heute war Eröffnung. Mein Traum vom eigenen Buchladen ging endlich in Erfüllung.
Ich legte die Tüte mit den Brötchen auf der Theke ab und brachte meine Jacke in den hinteren Bereich. Nachdem ich meinen Hals vom Schal befreit hatte, verstaute ich ihn auf einer der oberen Stufen der Wendeltreppe.
Ohne die Erbschaft von Oma Lenchen wäre das natürlich nicht möglich gewesen. Ihr hatte ich meine Vorliebe für Bücher und Geschichten zu verdanken. Nachdem meine Erzeuger es vorgezogen hatten, mein Dasein zu ignorieren, hatten sie mich zur Oma abgeschoben.
Im Nachhinein dachte ich aber oft, besser hätte es mir nicht passieren können. Ich konnte auf eine glückliche Kindheit zurückgreifen, eine turbulente Jugend, aber auch auf ein interessantes Erwachsenwerden.
Oma Lenchen war immer für mich da. Auch am Schluss, als sie schon krank war und ich meinen ersten großen Liebeskummer ertragen musste. Aber das lag nun lange zurück. Nach meiner Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann besuchte ich noch viele Abendkurse.
Ich brachte ein paar trostlose Jobs in Supermärkten und Filialen von irgendwelchen Bekleidungsketten hinter mich und nun – hatte ich endlich mein eigenes Geschäft. Die Tür wurde aufgezogen und ich drehte mich um.
Amüsiert schaute ich zu wie sich Anke mit zwei großen Tüten durch die Eingangstür zwängte.
„Leo könntest du nicht wie ein Ölgötze da stehen und mir vielleicht etwas abnehmen – und überhaupt, mach mal endlich Licht, man kann sich ja fast den Hals brechen.“
„Guten Morgen Anke, freut mich, dich zu sehen“, meinte ich grinsend und nahm ihr eine der zwei Tüten ab.
„Morgen“, murmelte sie und stellte ihre Tüte neben der kleinen Theke ab.
Auch ich stellte die Tüte, ohne hineinzusehen auf dem Boden ab. Ich umrundete die Theke, ging zu dem kleinen Schaltboard und langsam erstrahlte der kleine Laden in den schönsten Farben.
Anke hatte mir schon bei der Einrichtung geholfen, aber mit den Beleuchtungsvorschlägen hatte sie sich übertroffen. Einzelne Strahler leuchteten die verschiedenen Ecken des Raumes aus, jedes für sich war ein kleines Kunstwerk.
„Ich werde mich mal an die Blumen machen“, riss mich Anke aus den Gedanken.
„Blumen?“
„Leo! Klar Blumen. Frisches Grün kommt immer gut. Du kannst ja mal das Gebäck in den Schalen verteilen.“
„Gebäck?“
„Oh Leonard, was ist heute mit dir nur los, schlecht geschlafen?“
Da stand die kleine Person vor mir und plusterte sich auf. Anke kannte ich nun schon seit sechs Jahren. Den gleichen Beruf lernend waren wir recht schnell Freunde geworden. Sie störte es auch nicht, dass ich schwul war.
Sie gab sogar mächtig damit an. Seit der Zeit gingen wir durch dick und dünn. Sie war eben meine beste Freundin. Ich schüttelte den Kopf.
„Ja was ist es dann? Zu sehr aufgeregt, weil heut der erste Tag ist?“
Wieder schüttelte ich den Kopf, denn eigentlich war ich die Ruhe in Person.
„Und jetzt hast du wohl auch noch deine Sprache verloren?“
„Nein… es ist nur… Oma Lenchen hätte sich sicher gefreut und wär hier gewesen.“
„Sie ist hier Leonard“, meinte Anke und bohrte ihren Finger in meine Brust.
„Stimmt, sie ist immer bei mir. Also packen wir es an, bevor die ersten Kunden kommen.“
„So ist es recht.“
Anke zog Blumen und Behältnisse aus der Tüte und reihte sie auf der Theke auf. Ich ging derweil in die kleine Küche, die sich am Ende des Ladens befand und suchte nach den Glastellern, die wir letzte Woche günstig erstanden hatten.
Als ich zurück in den Verkaufsraum kam, stand eine Frau bei Anke.
„Ich finde es toll, dass hier ein Buchladen eingezogen ist. Wenn ich daran denke, welchen Stress man immer hat, bis man in der Stadt ist und dann ist alles so voll“, hörte ich die Frau erzählen.
Es handelte sich um eine ältere Dame um die sechzig, wie ich vermutete.
„Ah, da kommt der Besitzer des Buchladens, Herr Ehrl“, sagte Anke.
Noch immer hatte ich die Schälchen mit dem Gebäck in der Hand und steuerte auf die beiden zu. Während Dame mich anstrahlte, suchte ich verzweifelt nach einer Möglichkeit, wie ich die Schälchen losbekommen würde. Anke entging das natürlich nicht, und eilte als Rettung, indem sie sie mir einfach abnahm.
„Das ist Frau Schumacher, deine erste Kundin“, meinte Anke noch im Vorbeigehen.
„Hallo Frau Schumacher“, begrüßte ich sie und streckte meine Hand zur Begrüßung aus.
„Ich habe gerade Ihrer netten Kollegin erzählt, dass ich froh bin, dass hier endlich ein Buchladen aufmacht. Sie müssen wissen, ich lebe alleine und lese daher sehr viel. Aber der Weg in die Innenstadt wird für mich immer beschwerlicher.“
Ich setzte mein schönstes Lächeln auf.
„Möchten sie vielleicht einen Kaffee, Frau Schumacher?“, fragte ich und wies zu den zwei Bistrostühlen.
„Oh, das ist aber nett. Ja, eine Tasse vertrage ich schon um die Zeit.“
Noch während sie das sagte, hörte ich das Surren meines Kaffeeautomaten. Ein kurzer Blick bestätigte mir, dass Anke bereits dabei war, den Kaffee zuzubereiten.
„Milch und Zucker?“, fragte ich höfflich, während sich Frau Schuhmacher setzte.
„Ja, beides danke.“
So ging ich zur Theke, wo Anke natürlich schon alles gerichtet hatte, nahm also beides und stellte es auf den kleinen Bistrotisch ab.
„Und was lesen Sie gerne?“, fragte ich.
Vielleicht verkaufte ich ja gleich mein erstes Buch am ersten Tag.
„Am liebsten Geschichten über Frauen, deren Leben sich verändert und was sie daraus machen.“
Ich hob eine Augenbraue.
„Da hätte ich vielleicht etwas für Sie, ich weiß nicht ob Sie es schon kennen“, meinte ich, als ich mich suchend zu einem der Regale zuwandte.
„Wie heißt es denn?“
„Das Muster der Liebe… kennen Sie das schon?“
„Der Titel sagt mir überhaupt nichts…“, antwortete sie, während Anke ihr die Tasse Kaffee hinstellte.
„Danke schön“, hörte ich Frau Schumacher sagen.
„Also es geht um eine Frau, die sich nach langer Krankheit einen Wusch erfüllt und ein Wollgeschäft aufmacht. Dort lernt sie mehrere Frauen kennen… sehr interessant!“
Ich hatte das Buch gefunden und drehte mich wieder zu Frau Schumacher um.
„Hier, lesen Sie ruhig etwas hinein, vielleicht gefällt es Ihnen“, fügte ich an und reichte ihr das Buch.
Sie lächelte mich an und nahm das Buch entgegen. Danach ging ich zu Anke.
„Du hast sie am Wickel, sie wird dir alles abkaufen, was du ihr empfiehlst“, flüsterte sie mir zu.
Ich musste grinsen.
Mittlerweile hatte sie die Blumen in den kleinen Vasen verteilt und stellte sie an verschiedenen Plätzen im Laden auf. Jetzt erst merkte ich, dass die Farben der Blumen zu meiner Herbstdeko passten.
Während ich nun hinter der Theke am Aufräumen war und Anke weitere Details im Raum dekorierte, öffnete sich ein weiteres Mal die Ladentür und eine jüngere Frau kam herein.
„Hallo“, sagte sie leise und begann am ersten Regal die Bücher anzuschauen.
„Hallo“, sagte ich nun meinerseits.
Schon die zweite Kundin. Anke lächelte mich an.
*-*-*
Vier Stunden später war der Laden dass erste Mal leer.
„Ich glaube du mutierst hier zum Frauenschwarm“, kicherte Anke.
„Ha, ha!“, gab ich von mir.
Ich räumte ein paar Bücher ein, während Anke die benutzten Tassen spülte.
„He, freu dich, du hast schon zehn Bücher und ein Taschenbuch verkauft. Nicht zu vergessen die zwei Kinderkassetten.“
Ich schaute sie kurz an und musste nun auch grinsen. Sie hatte Recht, die Damen waren mir alle an den Lippen gehangen, hatten jedes Wort förmlich in sich aufgezogen.
„Meintest du das vorhin eigentlich ernst?“, fragte ich Anke.
„Was meinst du?“
„Das mit der Lesestunde für Kinder.“
„Klar mach ich das, könnte man sogar einmal in der Woche als feste Einrichtung machen.“
„Wenn du das möchtest, kein Problem. Vorlesen ist schon immer beliebt gewesen.“
„Da fällt mir was ein, hast du nicht etwas vergessen?“
„Bitte?“
„Ob du nicht heute etwas vergessen hast.“
„Was meinst du bitte?“
„Ich sage nur Tür…“
Tür…, Tür, was meinte sie damit? Ich schaute zur Tür, aber mir fiel ums Verrecken nicht ein, was sie dachte.
„Ding – Dong“, kam es von Anke.
Als würden tausend Lichter angehen, fiel mir siedend heiß ein, was ich vergessen hatte. Ich lief zu meiner Tasche und zog eine kleine Schachtel heraus.
„Danke, dass du mich daran erinnert hast“, sagte ich und zog den Deckel herunter.
„Dafür bin ich ja da.“
Als Kind war ich davon immer fasziniert gewesen. Stundenlang saß ich oft da und sah zu, wie das Glockenspiel sich im Winde bewegte. Die Klänge, die es erzeugte, hatten immer eine ruhige Wirkung auf mich.
An einem hölzernen Haus waren Schnüre befestigt, an denen wiederum Metallröhrchen hingen. Zwischen den Röhrchen war an einer Schurr eine Holzkugel befestigt. So entnahm ich das Glockenspiel aus der Schachtel und legte es auf die Theke.
„Mist!“, fiel mir plötzlich was ein.
„Was denn?“, fragte mich Anke.
„Ich wollte doch Werkzeug mitnehmen, damit ich es aufhängen kann.“
„Wo hast du nur immer deine Gedanken…, warte einen Moment“, sagte sie und verließ kurz den Laden.
Ein paar Minuten später kam sie zurück.
„Boah ist das kalt da draußen. Hier für dich, konnte ich vorhin nicht mehr tragen, lag noch im Auto.“
Sie streckte mir eine Tüte entgegen und ich zog neugierig die Öffnung auseinander, um zu sehen, was sich darin verbarg. Ich erkannte einen Hammer und eine Dose mit Haken, also genau, das, was ich jetzt brauchte.
Erfreut schnappte ich mir die kleine Trittleiter hinter der Theke und begab mich zur Ladentür. Die drei Stufen waren schnell hinaufgestiegen.
„Und? Wo soll ich sie hinhängen?“, fragte ich und hielt das Glockenspiel an die Decke.
„Ein bisschen mehr in die Mitte würde ich sagen“, antwortete Anke.
„So?“, fragte ich und schob das Teil etwas nach rechts.
„Ja und noch etwas von der Tür weg, dann müsste es richtig sein.“
Also zog ich es noch etwas von der Tür weg und schaute wieder zu Anke.
„Ja, genau, dort solltest du es aufhängen.“
„Kannst du mir bitte einen Bleistift geben, damit ich die Stelle kennzeichnen kann?“
Anke lief um die Theke herum und brachte mir einen Bleistift. Ich wollte gerade ein kleines Kreuz an die Decke zeichnen, als mich ein Geräusch herumfahren ließ, allerdings war es da schon zu spät.
Die Wucht der geöffneten Tür hatte mich bereits von der Leiter gefegt und mich wie einen Schlagball nach hinten geschleudert. Äußerst unsanft kam ich auf dem Rücken auf, der kurze stechende Schmerz ließ mich die Luft anhalten.
„Entschuldigung… ich habe Sie nicht gesehen…“, hörte ich eine mir fremde Stimme sagen.
Noch immer hatte ich die Augen zusammengepresst.
„Mein Gott Leonard, hast du dir was getan“, hörte ich Anke, deren Hand ich nun auf meinem Bauch spürte.
Scharf atmete ich aus und der Schmerz ließ langsam nach. Ich öffnete die Augen und blickte in die Augen einer besorgten Anke. Etwas dahinter sah ich ein weiteres besorgtes Gesicht, zu dem noch kreideweiß.
„Es tut mir wirklich Leid…“, stammelte dieses besorgte Gesicht.
„Ich lebe ja noch“, sagte ich und versuchte mich aufzurichten.
„Nee…, nee mein Lieber, du bleibst da mal schön liegen.“
„Anke, ich kann doch nicht hier auf dem Boden liegen bleiben. Was ist, wenn Kundschaft kommt?“
„Die ist bereits da und ist ja wie ein Tsunami in den Laden geschwappt.“
Über Ankes schrägen Humor hatte ich mich schon öfter amüsiert. Nun brachte sie es fertig, aus dem Bleichgesicht, eine tomatisierte Version eines Narren zu machen. Nachdem der Schmerz jetzt etwas abgeklungen war, wollte ich nun doch aufstehen.
Anke hatte wohl nichts mehr einzuwenden, denn sie half mir auf. Die Stelle auf die ich geknallt war, tat zwar weh, aber es war zu ertragen.
„Warum hatten Sie es eigentlich so eilig?“, fragte Anke nun unseren neuen Kunden.
Dieser löste sich langsam aus seiner Starre und schaute auf die Uhr.
„Mist, jetzt komme ich doch noch zu spät… das kann ich vergessen…“, sagte er und hob den Kopf.
Das erste Mal schauten wir uns richtig an. Mein Blick blieb an seinen grünen Augen hängen, die mich zur gleichen Zeit fixierten.
„Und was wollten Sie hier?“, fragte ich ohne meinen Blick seiner Augen zu entreißen.
„Eigentlich wollte ich noch schnell ein Buch für meinen kleinen Neffen besorgen, der hat heute Geburtstag.“
„Sie können aber später gerne wieder kommen, wenn sie einen wichtigen Termin haben. Wir haben heute sicher etwas länger geöffnet, es ist immerhin der Eröffnungstag.“
Was faselte ich da. Ich starrte diesen Mann an, als wollte ich ihn fressen. Ich schaute kurz zu Anke, die frech lächelte.
„Könnte ich vielleicht bei Ihnen kurz telefonieren?“, fragte er.
Ich nickte und zeigte auf die Theke, wo das Telefon prangte. Er lief zu selbigem, zog einen kleinen zerknitterten Zettel aus der Jacke, wo anscheinend eine Telefonnummer drauf stand, und tippte diese ein.
„Hallo hier ist Christian Cramer. Ich habe heute ein Vorstellungsgespräch bei … ach so… ja danke. Die Unterlagen schicken sie mir zurück? Danke. Auf Wiederhören.“
Ich sah die Enttäuschung auf seinem Gesicht, als er den Hörer sinken ließ. Einer Eingebung folgend, lief ich um ihn herum hinter die Theke und schob zwei Tassen unter den Kaffeeautomaten. Langsam surrte das Malwerk der Maschine und wenig später floss der frische Kaffee in die Tassen.
„Milch und Zucker?“, fragte ich und stellte ihm eine der Tassen vor die Nase.
Mich schauderte es kurz und schloss hinter mir die Ladentür. Noch lag mein kleiner Laden im Dunkeln. Heute war es soweit, der erste Tag. Heute war Eröffnung. Mein Traum vom eigenen Buchladen ging endlich in Erfüllung.
Ich legte die Tüte mit den Brötchen auf der Theke ab und brachte meine Jacke in den hinteren Bereich. Nachdem ich meinen Hals vom Schal befreit hatte, verstaute ich ihn auf einer der oberen Stufen der Wendeltreppe.
Ohne die Erbschaft von Oma Lenchen wäre das natürlich nicht möglich gewesen. Ihr hatte ich meine Vorliebe für Bücher und Geschichten zu verdanken. Nachdem meine Erzeuger es vorgezogen hatten, mein Dasein zu ignorieren, hatten sie mich zur Oma abgeschoben.
Im Nachhinein dachte ich aber oft, besser hätte es mir nicht passieren können. Ich konnte auf eine glückliche Kindheit zurückgreifen, eine turbulente Jugend, aber auch auf ein interessantes Erwachsenwerden.
Oma Lenchen war immer für mich da. Auch am Schluss, als sie schon krank war und ich meinen ersten großen Liebeskummer ertragen musste. Aber das lag nun lange zurück. Nach meiner Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann besuchte ich noch viele Abendkurse.
Ich brachte ein paar trostlose Jobs in Supermärkten und Filialen von irgendwelchen Bekleidungsketten hinter mich und nun – hatte ich endlich mein eigenes Geschäft. Die Tür wurde aufgezogen und ich drehte mich um.
Amüsiert schaute ich zu wie sich Anke mit zwei großen Tüten durch die Eingangstür zwängte.
„Leo könntest du nicht wie ein Ölgötze da stehen und mir vielleicht etwas abnehmen – und überhaupt, mach mal endlich Licht, man kann sich ja fast den Hals brechen.“
„Guten Morgen Anke, freut mich, dich zu sehen“, meinte ich grinsend und nahm ihr eine der zwei Tüten ab.
„Morgen“, murmelte sie und stellte ihre Tüte neben der kleinen Theke ab.
Auch ich stellte die Tüte, ohne hineinzusehen auf dem Boden ab. Ich umrundete die Theke, ging zu dem kleinen Schaltboard und langsam erstrahlte der kleine Laden in den schönsten Farben.
Anke hatte mir schon bei der Einrichtung geholfen, aber mit den Beleuchtungsvorschlägen hatte sie sich übertroffen. Einzelne Strahler leuchteten die verschiedenen Ecken des Raumes aus, jedes für sich war ein kleines Kunstwerk.
„Ich werde mich mal an die Blumen machen“, riss mich Anke aus den Gedanken.
„Blumen?“
„Leo! Klar Blumen. Frisches Grün kommt immer gut. Du kannst ja mal das Gebäck in den Schalen verteilen.“
„Gebäck?“
„Oh Leonard, was ist heute mit dir nur los, schlecht geschlafen?“
Da stand die kleine Person vor mir und plusterte sich auf. Anke kannte ich nun schon seit sechs Jahren. Den gleichen Beruf lernend waren wir recht schnell Freunde geworden. Sie störte es auch nicht, dass ich schwul war.
Sie gab sogar mächtig damit an. Seit der Zeit gingen wir durch dick und dünn. Sie war eben meine beste Freundin. Ich schüttelte den Kopf.
„Ja was ist es dann? Zu sehr aufgeregt, weil heut der erste Tag ist?“
Wieder schüttelte ich den Kopf, denn eigentlich war ich die Ruhe in Person.
„Und jetzt hast du wohl auch noch deine Sprache verloren?“
„Nein… es ist nur… Oma Lenchen hätte sich sicher gefreut und wär hier gewesen.“
„Sie ist hier Leonard“, meinte Anke und bohrte ihren Finger in meine Brust.
„Stimmt, sie ist immer bei mir. Also packen wir es an, bevor die ersten Kunden kommen.“
„So ist es recht.“
Anke zog Blumen und Behältnisse aus der Tüte und reihte sie auf der Theke auf. Ich ging derweil in die kleine Küche, die sich am Ende des Ladens befand und suchte nach den Glastellern, die wir letzte Woche günstig erstanden hatten.
Als ich zurück in den Verkaufsraum kam, stand eine Frau bei Anke.
„Ich finde es toll, dass hier ein Buchladen eingezogen ist. Wenn ich daran denke, welchen Stress man immer hat, bis man in der Stadt ist und dann ist alles so voll“, hörte ich die Frau erzählen.
Es handelte sich um eine ältere Dame um die sechzig, wie ich vermutete.
„Ah, da kommt der Besitzer des Buchladens, Herr Ehrl“, sagte Anke.
Noch immer hatte ich die Schälchen mit dem Gebäck in der Hand und steuerte auf die beiden zu. Während Dame mich anstrahlte, suchte ich verzweifelt nach einer Möglichkeit, wie ich die Schälchen losbekommen würde. Anke entging das natürlich nicht, und eilte als Rettung, indem sie sie mir einfach abnahm.
„Das ist Frau Schumacher, deine erste Kundin“, meinte Anke noch im Vorbeigehen.
„Hallo Frau Schumacher“, begrüßte ich sie und streckte meine Hand zur Begrüßung aus.
„Ich habe gerade Ihrer netten Kollegin erzählt, dass ich froh bin, dass hier endlich ein Buchladen aufmacht. Sie müssen wissen, ich lebe alleine und lese daher sehr viel. Aber der Weg in die Innenstadt wird für mich immer beschwerlicher.“
Ich setzte mein schönstes Lächeln auf.
„Möchten sie vielleicht einen Kaffee, Frau Schumacher?“, fragte ich und wies zu den zwei Bistrostühlen.
„Oh, das ist aber nett. Ja, eine Tasse vertrage ich schon um die Zeit.“
Noch während sie das sagte, hörte ich das Surren meines Kaffeeautomaten. Ein kurzer Blick bestätigte mir, dass Anke bereits dabei war, den Kaffee zuzubereiten.
„Milch und Zucker?“, fragte ich höfflich, während sich Frau Schuhmacher setzte.
„Ja, beides danke.“
So ging ich zur Theke, wo Anke natürlich schon alles gerichtet hatte, nahm also beides und stellte es auf den kleinen Bistrotisch ab.
„Und was lesen Sie gerne?“, fragte ich.
Vielleicht verkaufte ich ja gleich mein erstes Buch am ersten Tag.
„Am liebsten Geschichten über Frauen, deren Leben sich verändert und was sie daraus machen.“
Ich hob eine Augenbraue.
„Da hätte ich vielleicht etwas für Sie, ich weiß nicht ob Sie es schon kennen“, meinte ich, als ich mich suchend zu einem der Regale zuwandte.
„Wie heißt es denn?“
„Das Muster der Liebe… kennen Sie das schon?“
„Der Titel sagt mir überhaupt nichts…“, antwortete sie, während Anke ihr die Tasse Kaffee hinstellte.
„Danke schön“, hörte ich Frau Schumacher sagen.
„Also es geht um eine Frau, die sich nach langer Krankheit einen Wusch erfüllt und ein Wollgeschäft aufmacht. Dort lernt sie mehrere Frauen kennen… sehr interessant!“
Ich hatte das Buch gefunden und drehte mich wieder zu Frau Schumacher um.
„Hier, lesen Sie ruhig etwas hinein, vielleicht gefällt es Ihnen“, fügte ich an und reichte ihr das Buch.
Sie lächelte mich an und nahm das Buch entgegen. Danach ging ich zu Anke.
„Du hast sie am Wickel, sie wird dir alles abkaufen, was du ihr empfiehlst“, flüsterte sie mir zu.
Ich musste grinsen.
Mittlerweile hatte sie die Blumen in den kleinen Vasen verteilt und stellte sie an verschiedenen Plätzen im Laden auf. Jetzt erst merkte ich, dass die Farben der Blumen zu meiner Herbstdeko passten.
Während ich nun hinter der Theke am Aufräumen war und Anke weitere Details im Raum dekorierte, öffnete sich ein weiteres Mal die Ladentür und eine jüngere Frau kam herein.
„Hallo“, sagte sie leise und begann am ersten Regal die Bücher anzuschauen.
„Hallo“, sagte ich nun meinerseits.
Schon die zweite Kundin. Anke lächelte mich an.
*-*-*
Vier Stunden später war der Laden dass erste Mal leer.
„Ich glaube du mutierst hier zum Frauenschwarm“, kicherte Anke.
„Ha, ha!“, gab ich von mir.
Ich räumte ein paar Bücher ein, während Anke die benutzten Tassen spülte.
„He, freu dich, du hast schon zehn Bücher und ein Taschenbuch verkauft. Nicht zu vergessen die zwei Kinderkassetten.“
Ich schaute sie kurz an und musste nun auch grinsen. Sie hatte Recht, die Damen waren mir alle an den Lippen gehangen, hatten jedes Wort förmlich in sich aufgezogen.
„Meintest du das vorhin eigentlich ernst?“, fragte ich Anke.
„Was meinst du?“
„Das mit der Lesestunde für Kinder.“
„Klar mach ich das, könnte man sogar einmal in der Woche als feste Einrichtung machen.“
„Wenn du das möchtest, kein Problem. Vorlesen ist schon immer beliebt gewesen.“
„Da fällt mir was ein, hast du nicht etwas vergessen?“
„Bitte?“
„Ob du nicht heute etwas vergessen hast.“
„Was meinst du bitte?“
„Ich sage nur Tür…“
Tür…, Tür, was meinte sie damit? Ich schaute zur Tür, aber mir fiel ums Verrecken nicht ein, was sie dachte.
„Ding – Dong“, kam es von Anke.
Als würden tausend Lichter angehen, fiel mir siedend heiß ein, was ich vergessen hatte. Ich lief zu meiner Tasche und zog eine kleine Schachtel heraus.
„Danke, dass du mich daran erinnert hast“, sagte ich und zog den Deckel herunter.
„Dafür bin ich ja da.“
Als Kind war ich davon immer fasziniert gewesen. Stundenlang saß ich oft da und sah zu, wie das Glockenspiel sich im Winde bewegte. Die Klänge, die es erzeugte, hatten immer eine ruhige Wirkung auf mich.
An einem hölzernen Haus waren Schnüre befestigt, an denen wiederum Metallröhrchen hingen. Zwischen den Röhrchen war an einer Schurr eine Holzkugel befestigt. So entnahm ich das Glockenspiel aus der Schachtel und legte es auf die Theke.
„Mist!“, fiel mir plötzlich was ein.
„Was denn?“, fragte mich Anke.
„Ich wollte doch Werkzeug mitnehmen, damit ich es aufhängen kann.“
„Wo hast du nur immer deine Gedanken…, warte einen Moment“, sagte sie und verließ kurz den Laden.
Ein paar Minuten später kam sie zurück.
„Boah ist das kalt da draußen. Hier für dich, konnte ich vorhin nicht mehr tragen, lag noch im Auto.“
Sie streckte mir eine Tüte entgegen und ich zog neugierig die Öffnung auseinander, um zu sehen, was sich darin verbarg. Ich erkannte einen Hammer und eine Dose mit Haken, also genau, das, was ich jetzt brauchte.
Erfreut schnappte ich mir die kleine Trittleiter hinter der Theke und begab mich zur Ladentür. Die drei Stufen waren schnell hinaufgestiegen.
„Und? Wo soll ich sie hinhängen?“, fragte ich und hielt das Glockenspiel an die Decke.
„Ein bisschen mehr in die Mitte würde ich sagen“, antwortete Anke.
„So?“, fragte ich und schob das Teil etwas nach rechts.
„Ja und noch etwas von der Tür weg, dann müsste es richtig sein.“
Also zog ich es noch etwas von der Tür weg und schaute wieder zu Anke.
„Ja, genau, dort solltest du es aufhängen.“
„Kannst du mir bitte einen Bleistift geben, damit ich die Stelle kennzeichnen kann?“
Anke lief um die Theke herum und brachte mir einen Bleistift. Ich wollte gerade ein kleines Kreuz an die Decke zeichnen, als mich ein Geräusch herumfahren ließ, allerdings war es da schon zu spät.
Die Wucht der geöffneten Tür hatte mich bereits von der Leiter gefegt und mich wie einen Schlagball nach hinten geschleudert. Äußerst unsanft kam ich auf dem Rücken auf, der kurze stechende Schmerz ließ mich die Luft anhalten.
„Entschuldigung… ich habe Sie nicht gesehen…“, hörte ich eine mir fremde Stimme sagen.
Noch immer hatte ich die Augen zusammengepresst.
„Mein Gott Leonard, hast du dir was getan“, hörte ich Anke, deren Hand ich nun auf meinem Bauch spürte.
Scharf atmete ich aus und der Schmerz ließ langsam nach. Ich öffnete die Augen und blickte in die Augen einer besorgten Anke. Etwas dahinter sah ich ein weiteres besorgtes Gesicht, zu dem noch kreideweiß.
„Es tut mir wirklich Leid…“, stammelte dieses besorgte Gesicht.
„Ich lebe ja noch“, sagte ich und versuchte mich aufzurichten.
„Nee…, nee mein Lieber, du bleibst da mal schön liegen.“
„Anke, ich kann doch nicht hier auf dem Boden liegen bleiben. Was ist, wenn Kundschaft kommt?“
„Die ist bereits da und ist ja wie ein Tsunami in den Laden geschwappt.“
Über Ankes schrägen Humor hatte ich mich schon öfter amüsiert. Nun brachte sie es fertig, aus dem Bleichgesicht, eine tomatisierte Version eines Narren zu machen. Nachdem der Schmerz jetzt etwas abgeklungen war, wollte ich nun doch aufstehen.
Anke hatte wohl nichts mehr einzuwenden, denn sie half mir auf. Die Stelle auf die ich geknallt war, tat zwar weh, aber es war zu ertragen.
„Warum hatten Sie es eigentlich so eilig?“, fragte Anke nun unseren neuen Kunden.
Dieser löste sich langsam aus seiner Starre und schaute auf die Uhr.
„Mist, jetzt komme ich doch noch zu spät… das kann ich vergessen…“, sagte er und hob den Kopf.
Das erste Mal schauten wir uns richtig an. Mein Blick blieb an seinen grünen Augen hängen, die mich zur gleichen Zeit fixierten.
„Und was wollten Sie hier?“, fragte ich ohne meinen Blick seiner Augen zu entreißen.
„Eigentlich wollte ich noch schnell ein Buch für meinen kleinen Neffen besorgen, der hat heute Geburtstag.“
„Sie können aber später gerne wieder kommen, wenn sie einen wichtigen Termin haben. Wir haben heute sicher etwas länger geöffnet, es ist immerhin der Eröffnungstag.“
Was faselte ich da. Ich starrte diesen Mann an, als wollte ich ihn fressen. Ich schaute kurz zu Anke, die frech lächelte.
„Könnte ich vielleicht bei Ihnen kurz telefonieren?“, fragte er.
Ich nickte und zeigte auf die Theke, wo das Telefon prangte. Er lief zu selbigem, zog einen kleinen zerknitterten Zettel aus der Jacke, wo anscheinend eine Telefonnummer drauf stand, und tippte diese ein.
„Hallo hier ist Christian Cramer. Ich habe heute ein Vorstellungsgespräch bei … ach so… ja danke. Die Unterlagen schicken sie mir zurück? Danke. Auf Wiederhören.“
Ich sah die Enttäuschung auf seinem Gesicht, als er den Hörer sinken ließ. Einer Eingebung folgend, lief ich um ihn herum hinter die Theke und schob zwei Tassen unter den Kaffeeautomaten. Langsam surrte das Malwerk der Maschine und wenig später floss der frische Kaffee in die Tassen.
„Milch und Zucker?“, fragte ich und stellte ihm eine der Tassen vor die Nase.